Mitte Dezember 1942 hatte die Stärke der eingekesselten Verbände noch 230000 Mann betragen, bis zum 24. Januar 1943 wurden etwa 40000 Verwundete und Spezialisten ausgeflogen. Etwa 80000 waren bei den Kämpfen ums Leben gekommen.
Zum 70. Jahrestag der Kapitulation sind eine Reihe von Publikationen erschienen. Der Fischer Verlag hat aus diesem Anlaß das 20 Jahre alte Werk von Wolfram Wette und Gerd Überschär (Stalingrad: Mythos und Wirklichkeit einer Schlacht, Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch 2012. 336 S., 10.99 €) wieder aufgelegt. Das Buch war 1992 erschienen, um der äußerst populären Darstellung des Erfolgsautors Paul Carell (eigentlich Paul Karl Schmidt; Stalingrad: Sieg und Untergang der 6. Armee, Berlin 1992) aus seinem Bestseller (Unternehmen Barbarossa: der Marsch nach Rußland, Berlin 1963) aus etablierter Sicht Paroli zu bieten. Als Anti-Carell aufgemacht, bemühen sich Wette und Überschär, den – wie sie sagen – Mythos von der sauberen Kriegsführung der Wehrmacht zu zerstören und den Charakter des Rußlandfeldzuges als rassenideologischen Vernichtungskrieg herauszuarbeiten. Diese Arbeit, die ganz im destruktiven Geist von Reemtsmas Anti-Wehrmachtsaustellung gehalten ist, sagt weniger über den Kampf um Stalingrad als über die Auseinandersetzung um die historische Deutungshoheit in den 1990er Jahren aus.
Dagegen befaßt sich die Neuerscheinung von Reinhold Busch (Stalingrad: Der Untergang der 6. Armee. Überlebende berichten, Graz: Ares Verlag 2012. 464 S., 24.90 €) mit dem Kampf, mit dem Leid und der Not der Männer, die mit der 6. Armee in Stalingrad eingeschlossen waren. Der Autor läßt die überlebenden Soldaten zu Wort kommen, vom einfachen Grenadier bis zum General, die nach Krieg und Gefangenschaft ihre Erlebnisse zu Papier gebracht haben. Das Werk ist in drei Teile gegliedert. Der erste umfaßt die Berichte der wenigen Glücklichen, die aus dem Kessel ausgeflogen wurden, sowie die Erinnerungen der Flugzeugbesatzungen, die in den Kessel einflogen. Teil zwei stammt von Soldaten, die die sowjetische Gefangenschaft überstanden haben, und Teil drei legt den Schwerpunkt auf das Schicksal der Gefangenen während der Todesmärsche und in den Todeslagern. Die Stärke dieses Buches ist, daß hier die Betroffenen aus ihrer Sicht die Ereignisse schildern, ohne daß nachgeborene Historiker dem Publikum mittels »Interpretationen« nahelegen, wie das Dargestellte politisch korrekt verstanden werden muß. Jeder Leser kann sich so selbst sein Urteil bilden.
Der an der Rutgers-Universität New Jersey lehrende Jochen Hellbeck legt in seinem Buch (Die Stalingrad-Protokolle: Sowjetische Augenzeugen berichten aus der Schlacht, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2012. 608 S., 26 E)) eine umfassende Dokumentation der Kriegsereignisse vom Juni 1942 bis zum 2. Februar 1943 vor. Es handelt sich um eine zeitnah entstandene, von einer sowjetischen Historikergruppe gesammelte Darstellung der Kampfhandlungen aus der Sicht sowjetischer Soldaten. Der Autor versucht zu zeigen, daß die hohe Kampfkraft der Roten Armee weniger durch Gewaltmaßnahmen als durch systematische politische Schulung der KP und ihrer Politkommissare entstanden sei. Hellbecks Feststellung, der parteipolitische Apparat habe »eine weltanschauliche Geschlossenheit in der Vorstellungswelt von Rotarmisten« erzeugt, läßt sich jedoch mit dem von ihm vorgelegten Zeitzeugenberichten nicht hinreichend belegen.
Auch für seine Kritik, die bisher vorliegende Forschungsliteratur habe das Ausmaß der Erschießungen von sowjetischen Mannschaften und Offizieren, wenn sie sich den Angriffsbefehlen widersetzten, stark übertrieben, bringt er keine verläßlichen statistischen Belege. Hellbeck schildert im einzelnen, wie die Aufzeichnungen durch die Historikerkommission, die noch während der Kämpfe ihre Arbeit aufnahm, zustande kamen. Jedoch verspricht das Werk keine neuen Erkenntnisse über den Verlauf des Kampfgeschehens, zumal die militärische Strategie der deutschen Führung von der Forschung eingehend untersucht worden ist, und ebensowenig über die Mentalität der sowjetischen Soldaten, die einer offiziellen Kommission, die in Stalins Auftrag angereist war, sicher nur das zu Protokoll gegeben haben, was der Parteiwahrheit nahekam.
Das ZDF brachte zur besten Sendezeit (11. Dezember 2012, 20.15 Uhr) eine Doku-Soap (»Stille Nacht in Stalingrad«) aus der Historienküche Guido Knopps. Es handelte sich um ein aus Spielszenen, Zeitzeugenaussagen und historischen Aufnahmen zusammengerührtes Machwerk der bekannten Art, das sich besonders mit dem Heiligabend 1942 befaßte. Der deutsche Rundfunk sendete traditionell am 24. Dezember eine Live-Übertragung von allen Einsatzorten deutscher Soldaten, vom Nordkap über die Atlantikküste und Afrika bis nach Stalingrad (»Hier ist Stalingrad! Hier ist die Front an der Wolga!«). Während die Deutschen in der Heimat um ihre an der Front stehenden Väter und Männer bangten, erhielten die Soldaten Weihnachts-Sonderzuteilungen an Schokolade, Zigaretten und Alkohol. Aber ihr Wunsch, nach Hause zurückzukehren, sei ihnen von Hitler verwehrt worden.
Auch populärwissenschaftliche Geschichtsmagazine haben sich des Themas angenommen. Militär & Geschichte, Heft Nr. 66 (Dezember 2012/Januar 2013), widmet sich der Vorgeschichte der Operation »Blau«, der deutschen Sommeroffensive nach Stalingrad und in Richtung Kaukasus. Schwerpunkt des Artikels von Oliver Richter ist dabei die Operation »Wintergewitter«, mit der die in Stalingrad eingeschlossene 6. Armee entsetzt werden sollte. Die Darstellung ist sachlich und ausgewogen, zumal auch erörtert wird, daß Hitler durchaus rationale Gründe hatte, den Ausbruch der 6. Armee zu verbieten. Zum einen nennt der Autor das erfolgreiche Ausharren deutscher Kampfgruppen im eingeschlossenen Demjansk im Winter 1941/42, die aus der Luft versorgt wurden, bis der Kessel im Frühjahr 1942 von Westen her entsetzt werden konnte. Zum anderen band die 6. Armee am Wolgaknie kampfkräftige Einheiten des Gegners, die den Sowjets fehlten, um den ganzen Südflügel der Ostfront zum Einsturz zu bringen.
Die Zeitschrift Clausewitz hat zum Komplex Stalingrad ein Spezialheft auf den Markt gebracht, das in mehreren Artikeln die Vorgeschichte und den Verlauf des Feldzuges sowie den Untergang der 6. Armee in der Wolgastadt zum Inhalt hat. Darüber hinaus geht das Heft auf das Schicksal der Zivilbevölkerung, das Leiden der deutschen Kriegsgefangenen und auf die Erinnerungskultur in NS-Propaganda, Nachkriegsliteratur und ‑film ein. Leider läßt die Ausgewogenheit der Darstellung zu wünschen übrig. Aufrufe Hitlers an deutsche Soldaten, im Kessel durchzuhalten, sich einzuigeln und auf Entsatz zu warten, seien Ausdruck des »Starrsinns« des NS-Diktators gewesen, während der Appell des späteren Marschalls Tschuikow an die Rotarmisten, »lieber für die Heimat [zu] sterben als sich [zu] ergeben«, als Beweis für die Vaterlandsliebe und den (in diesem Fall) bewunderungswürdigen Durchhaltewillen gesehen werden müsse.
Der Chefredakteur des Blattes, Tammo Luther, weiß sogar, daß bereits vor der Einkesselung »Paulus’ Männer mehr und mehr die Hoffnung auf einen erfolgreichen Ausgang« der Schlacht verloren hätten, während die »an Entbehrungen gewöhnten sowjetischen Soldaten getreu [und] verbissen um jedes Haus, jedes Erdloch und jede Fabrikhalle« kämpften. Daß sich der von Luther so gerühmte Sowjetbefehlshaber Wassili Tschuikow die »Treue« seiner Soldaten weniger mit Hilfe von Sonderrationen von »Butter, Zucker und Zigaretten« als durch Massenerschießungen von vermeintlichen Drückebergern und Deserteuren sicherte, wird verschwiegen.
Der Abbruch des deutschen Befreiungsversuches am 22. Dezember besiegelte das Schicksal der 6. Armee. Sie kämpfte weiter, um feindliche Kräfte zu binden und um den im Kaukasus stehenden Verbänden der Wehrmacht den Rückzug auf den Kuban bzw. auf Rostow zu ermöglichen. Ein Beitrag im Heft behandelt den ersten Versuch der Sowjets, die Landser im großen Stil mit Propaganda über Lautsprecher und Flugblätter zum Aufgeben des Widerstandes zu bewegen. Groteskerweise versprach man denjenigen, die die Waffen niederlegten, eine »Garantie für Leib und Leben«.
Allein die Tatsache dieses Angebots verdeutlicht, daß sich dieses aus der Haager Landkriegsordnung und der Genfer Konvention – Vertragswerke, denen die UdSSR nicht beigetreten war – ergebende Recht auf Unversehrtheit den Kriegsgefangenen der Roten Armee ansonsten nicht zugestanden wurde – und auch für die Landser, die nach der Kapitulation von Stalingrad in die Hände der Sowjets fielen, offenbar keine Geltung hatte: Nach sechs Monaten sowjetischer Lagerhaft war bereits jeder zweite Soldat der 6. Armee tot. Von 110000 Gefangenen kehrten lediglich 6000 in die Heimat zurück.