Klar, daß wir damit eine Frage aktualisieren, die vor 500 Jahren (war´s Melanchthon, der warnte?) eigentlich ad acta gelegt wurde. Aber: Es gibt definitiv ein Zuviel an Lektüre.
Das wird ersichtlich a) an bläulichen Rändern unter den Augen, b) an seltsamen Fragen („gibt es wirklich Geister, die nur von Kindern gesehen werden?“ u.ä.) und c) an Strafzahlungen, die in der Leihbibliothek deshalb zu entrichten sind, weil sichtbar ständig & überall gelesen wird: beim Mandarinenschälen, beim Haarewaschen, beim Schuheanziehen auf der Terrasse, auf die es in Strömen regnet.
Wir kaufen schon lange keine Kinderbücher mehr und erbitten sie auch nicht als Geschenk. Zuviel ist zuviel, und wenn der Sohn anfragt, ob man nicht die Rumpelkammer der Mieterin räumen könnte, um dort seine Bücher unterzubringen, damit er im Kinderzimmer Platz zum Spielen hat, sollte das ein deutliches Zeichen sein.
Wenn Buchstaben, zu Sätzen und Geschichten verbunden, zur Sucht geworden sind, liegt ein Problem vor, das mit Eßstörungen vergleichbar ist. Anders als bei herkömmlichen Suchtmitteln kann man nicht ganz ohne. Man muß die Zufuhr regulieren – ein schwieriges Unterfangen.
Unsere Kinder haben Leserausweise für vier Leihbibliotheken. Die Grundschulbücherei ist die einzige, die sie unbegleitet plündern. Sie ist mit ihrem uralten Bestand, teils aus DDR-Zeiten, auch relativ unproblematisch. Gut, mal werden ästhetisch fragwürdige Disney-Schwarten ausgeliehen, jüngst gab es ein Malheur mit dem häßlichen Büchlein Von einem, der auszog das Gruseln zu lernen (Tony Munzlinger), weil dort Splatterbildchen mit abgehackten Gliedmaßen und Blutfontänen abgebildet waren. Aber okay – man kann nicht wegen jedem Wehwehchen in der Schule anrufen.
In der riesigen Leihbücherei (West) beschieden sie mir kürzlich, all die schönen Klassiker seien zugunsten von Problem- und Phantasytstoffen aussortiert, weil nun, seufz, eine andere Generation das Sagen habe.
In unserer aktuelle Hauptbibliothek (Ost) das gleiche Bild: Der Supermegahitbestseller (Startauflage 225.000) Scheiße, schlaf ein! von Adam Mansbach („Der Tiger dämmert im Dschungel / Der Spatz lässt das Pfeifen sein / Scheiß auf den Teddy, ich hol überhaupt nichts / Augen zu. Keine Zicken. Schlaf ein.“) steht, auf metallener Stütze hervorgehoben vor der Regalware, zum Ausleihen im Kinderbuchbereich bereit. Ebenso der überwitzige brandaktuelle Spuck- und Rülps- Kracher Ketchup für die Königin der israelischen Autorin Rutu Modan, ein “quirliges Antibenimmbuch zum Totlachen”.
Derweil werden im Bückbereich an der Theke die netten, teils kaum angejahrten hübschen Büchern zum Verkauf (50ct/1 €) feilgeboten. Warum? Das sind doch die tolleren Bücher! Timm Thaler! Annika und der Stern von Kazan, als Prachtausgabe! Karl May! Was ist das für eine Ideologie, die die guten Bücher ausmustern läßt? Es ist keine Kinderbuchausleiherverschwörung. Es ist der Markt. Zum Verkauf, die Bibliotheksangestellten versichern es glaubwürdig, stehen jene Bücher, die über Jahre nicht ausgeliehen wurden, null mal.
Nein, wir haben genug, wir kaufen nichts. Oder… nur wenig.
Die Elfjährige will Gregs Tagebücher (Jeff Kinney) ausleihen und Ricks Ergüsse (Antje Szillat) (Ein Vollidiot kommt selten allein, Einfach mal die Schnauze halten!, Shit happens!, Wie man seine durchgeknallte Familie überlebt), denn: Das lesen a l l e.
Wir nicht (Greg habe ich mal heimlich mitgehen lassen, also entliehen – als Elternlektüre ist das nicht durchweg schlecht).
Ich habe die Tochter auf die Anne-auf- Greengables-Bücher verwiesen, auf die hübschen Dolly-Bände von Enid Blyton, und jüngst zehrte sie ausgiebig vom Dangerous Book for Boys-Wälzer, so viel Geschlechterrollenfreiheit darf sein. Im Schnitt kommen auf zehn ausgewählte will-ausleihen-Bücher vier darf-ausleihen-Bücher, und das auch nur, weil die Mutter schwach und nachgiebig ist und weil die Kinder keinen völlig verqueren Geschmack haben. Die Mutter selbst hat ja bis zum frühen Erwachsenenalter weitgehend Schund gelesen.
Nun hat sie, die Mutter, die zeitgenössische Kinder-und Jugendbuchliteraturkritik beharrlich im Blick. Es ist eine Faszination des –weitgehend – schlechten Geschmacks.
Gerade ist das Spezial “Kinder & Jugendbuch” der Zeit erschienen, darin Photos von Kindern, die ihre erstaunlichen Lieblingsbücher vorstellen. Simon, 14, mit der dicken Brille: Rebecca von Daphne du Maurier; Joelle, 11, Der Junge im gestreiften Pyjama, die Geschichte von Schmuel und Bruno, beide auf ihre Weise Opfer des NS-Regimes, O‑Ton Joelle: „das lenkt mich ab, wenn ich Angst vor Klassenarbeiten habe“.
Ich ging also fest davon aus, daß hier Kinder und Jugendliche über ihre Bücherlieblinge schreiben. So klang es nämlich, und so klingt Kinderbuchkritik meistens: herzlich anbiedernd, tapsig und ahnungslos.
Auf einer ganzen Seite stellt die Zeit einen preisgekrönten kinderlosen Jugendbuchautor und sein neues, freches Buch vor. Der Autor hat sich für´s Zeit-Photo die Haare keck verstrubbelt, hat sich barfüßig in ein winziges Holzpult gezwängt und zieht eine halb nachdenkliche, halb trotzige Schnute. Weil seine „unbändig starke“ Buchheldin Maulina heißt, hat er sich lauter witzige Wortschöpfung ausgedacht wie „Maulplosion“. „Maulbeben“ und „Maulnami“. Wenn das nicht kreativ ist!
Die Kritikerin, die in Wahrheit eine erwachsene Frau ist, findet das „anarchisch-schöpferisch“ und „kindlich-verspielt“, sie findet es toll. Der Autor ist nämlich „ein Macher. Jemand, der kein lauwarmes Mittelmaß erträgt“, „er ist ein bißchen wild“ mit seinen Jeans und seinem T‑Shirt. Er schreibt über Scheißstraßen, in die man umziehen muß, über ausgeflippte Kinder, über „traurig-ratlose“, weil behinderte Mütter. „Er zwingt seine Leser, dahin zu schauen, wo es wehtut, auf das, was man nicht wahrhaben will.”
Noch ist seine Maulina-Trilogie nicht fertiggeschrieben, denn, so der junggebliebene Ausdenker von „Popelverstecken“ : „Ich habe echt Schiß davor, das aufzuschreiben.“ Es sei gestanden: Ich habe das Maulinabuch nicht gelesen. Und nach dieser Großrezension habe ich echt Schiß davor.
Auch Peter Härtling, es muß wohl jener Peter H. sein, der zugleich ein begnadeter Hölderlinforscher ist und der gerade achtzig geworden ist, bewegt sich geschmeidig auf dem aktuell rezensionswürdigen Kinderbuchmarkt. In seinem neusten Werk tauschen der Opa und die Mirjam emails.
„Hallo Opa“, läßt Härtling seine Mirjam schreiben, „dass es dich so hingehauen hat, finde ich echt ätzend. (…) Kannst du nicht wie ein normaler Mensch aufpassen?“ Hach, so ist sie doch, die Jugend, „krass“ und „kuhl“! Man sehe: der olle Härtling kapiert, wie die kids ticken, der Kritik gefällt´s.
Ein weiteres Zeit-Kind, das sich durch Netzrecherche als erwachsene Frau herausstellt, tadelt das Versagen deutscher Kinderbuchverlage bei Lese-Apps. Was dieses elektronisch aufgemotzte Lesevergnügen angeht, gäbe es hierzulande leider, leider „nicht besonders viel Innovatives zu entdecken.“ Dabei „wäre so viel mehr möglich: Durch Kippen, Schütteln, Tippen, Wischen können wir (wir!, EK) interaktiv in die Geschichte einbezogen werden.“ Als gelungene Lese-App gilt der Publizistin ein amerikanisches Going to Bed Book, wo sich im virtuellen Badezimmer „das Display langsam mit Kondenswasser überzieht, das mit dem Finger weggewischt werden muß. Entscheidend ist, daß die Interaktion sinnvoll in das Geschehen eingebaut ist.“ Was extrem faszinierend klingt.
Nur: „Wie bringt man ältere Kinder dazu, sich spielerisch ins Geschehen einzubringen und sich immer wieder mit dem Stoff auseinanderzusetzen? Denn eine App soll möglichst mehr als einmal durchgewischt werden. Lobenswert sei die App Chopsticks, „wo der Leser zum Gestalter seiner ganz individuellen Liebesgeschichte wird.“
Vier weitere Kinderbücher werden derzeit hochgelobt. Das erste heißt Akim rennt und findet sich auf der Bestenliste (November) für junge Leser (Deutschlandfunk): “Akims dramatische Geschichte von der Suche nach seiner Mutter gleicht jener von Tausenden anderer Kinder, Männer und Frauen, die auf der Flucht vor Gewalt sind. Sie alle haben ein Recht auf Schutz und auf Asyl. Davon erzählt dieses von Amnesty International unterstützte Bilderbuch in bewegenden Worten und Bildern.”
Das zweite heißt Alles, worum es geht, stammt von der allseits hochgelobten, in Dänemark geborenen, „in Berlin und New York“ lebenden Autorin Janne Teller (“Ich habe sehr gern die Multikulturalität hier. Ich bin so gemischt selber, ich hab’ auch in Afrika gelebt.“) und findet sich sowohl im Zeit-Spezial als auch auf der DLF-Bestenliste. In den acht Kindergeschichten, die „von ganz unterschiedlicher sozialer Brutalität“ handeln, geht es um Rechtsextremismus geistige Behinderung, Gewalt und Rache, Mord und Todesstrafe, Zuwendung und Ausbeutung“ – ein ins Außerschulische erweiterter Sozialkundeunterricht also.
Das dritte heißt „Fräulein Esthers letzte Vorstellung. Eine Geschichte aus dem Warschauer Ghetto“, ist von Adam Jaromir und wurde jüngst in der FAZ breit empfohlen. In diesem Kinderbuch „wird jeder Satz zum stillen Schlag, der beklemmende Gedankenketten in Bewegung setzt,“ daneben gibt es illustrierend „ausgezehrte Kindergesichter, die Gabriela Cichowska zwischen Collagen aus Dreck, Ruß und Rost, trüben Fenstern und grauen Fassaden, zeitgenössischen Zeitungsschnipseln und Amtsblättern der SS gezeichnet hat.“ – „Cichowska und Jaromir ersparen ihren kindlichen Lesern nichts, aber sie schildern das Grauen behutsam andeutend. So notiert Genia, wie sie ein Mädchen, das darüber weint, dass seine Tante plötzlich nicht mehr zu Besuch kommt, mit einem „Schau, ich bekomme auch keinen Besuch“ tröstet. Sie fährt fort: „Und ich lege sie – einen nach dem anderen – in die Schachtel: Mama, Papa, Aaron … Meine papierene Familie.“ Jedes Kind versteht, dass Fotos alles sind, was dem Mädchen von Eltern und Bruder blieb. (…) Ihr aller Schicksal wird in den Köpfen der kindlichen Leser verankert bleiben.“
Wer hat noch kein Weihnachtsgeschenk für seine „kindlichen Leser?“ Letztgenanntes Schauerbuch spielt im Umfeld des Arztes und Waisenhausleiters Janusz Korzaks, dessen Leben 1942 (wohl) in Treblinka endete. Korczak, das sollte ich hinzufügen, hat bei unseren Kindern einen sehr ernsthaften Heldenstatus, sein kleines Buch Wladek kennen sie passagenweise auswendig.
Das vierte kritikerseits anempfohlene Buch heißt Ich war ein Glückskind. Mein Weg aus Nazideutschland mit dem Kindertransport, und hier soll wohl der Titel das unglückselige Holpern bereits transportieren. Ja, ja! Man muß sich mit dem kindlichen Leid dieser zwölf finsteren Jahren auseinandersetzen und sollte das auch seinen Kindern nicht ersparen. Manche Kinder- und Jugendbuchpreise der vergangenen Jahre und Jahrzehnte haben solche Bemühungen von Autoren und Verlagshäusern gewürdigt.
Finden diese Geschichten aber eigentlich einen auch quantitativ angemessenen Niederschlag im Kinder- und Jugendbuchmarkt? Außer:
Tausend Jahre habe ich gelebt: Eine Jugend im Holocaust (Livia Bitton-Jackson), Holocaust: Was damals geschah (Angela Gluck Wood), Erzählt es euren Kindern: Der Holocaust in Europa (Stéphane Bruchfeld u.a.), Der Holocaust. Ein Buch für junge Leser (Barbara Rogasky), Lauf, Junge, lauf (Uri Orlev), Der Junge im gestreiften Pyjama (John Boyne), Hanas Koffer(Karen Levine) Ich bin ein Stern (Inge Auerbacher), Mich hat man vergessen: Erinnerungen eines jüdischen Mädchens (Eva Erben), Ein Buch für Hanna (Mirjam Pressler), Erinnerungen an Anne Frank (Alison Leslie Gold),Stern ohne Himmel (Leonie Ossowski) , Die Bleisoldaten (Uri Orlev), Die endlose Steppe (Esther Hautzig), Eine Handvoll Karten (Rachel van Kooij),Überlebt: Als Kind in deutschen Konzentrationslagern (Agnes Sassoon), Die Insel in der Vogelstraße (Uri Orlev), Als Eure Großeltern jung waren. Mit Kindern über den Holocaust sprechen (Judith S. Kestenberg , Vivienne Koorland; Ein Bilderbuch über den Holocaust für Kinder ab drei Jahren. „ Es ist besonders für den Einsatz im Kindergarten oder in der Grundschule, aber auch im Gespräch mit kleinen Kindern geeignet“, Buch ist vergriffen und gibt es im amazon Gebrauchtmarkt ab 179 €), Meines Bruders Hüter. Der Holocaust mit den Augen eines Malers gesehen (Israel Bernbaum), Wir Kinder von Bergen-Belsen (Hetty E. Verolme), Lienekes Hefte (Jacob Van der Hoeden), Dank meiner Mutter (Schoschana Rabinovici), Und im Fenster der Himmel (Johanna Reiss), Dornrose (Jane Yolen), Das Versteck auf dem Dachboden (Anita Lobel), und Wer nicht weg ist, wird gesehen (Ida Vos)
finde ich noch Transportnummer VIII/1387 hat überlebt: Als Kind in Theresienstadt (Margot Kleinberger), Als Hitler das rosa Kaninchen stahl (Judith Kerr), Versteckt wie Anne Frank: Überlebensgeschichten jüdischer Kinder ( Marcel Prins, Peter Henk Steenhuis), Ediths Versteck (Kathy Kacer), Malka Mai (Mirjam Pressler) , …aber Steine reden nicht (Carlo Ross) und nur wenige Dutzend anderer thematisch ähnlicher Bücher.
Summa summarum: Es geht schon, mit der Kinderbuchauswahl, man muß nur ein bißchen wühlen.Und dabei gucken, daß die Kinderaugen nicht buchstabenförmig werden.
G.B.
Damals schon gewann beim Lesewettbewerb der 6. Klassen nicht der beste Leser, sondern die mit dem Buch über drogenabhängige Jugendliche und Kinderstrich...
Ansonsten bin ich gegen Kontrolle bei der Bücherauswahl. Kein Vielleser mag auf Dauer diese Negativgeschichten. Vielleicht sollte man vielmehr sorgfältigen Umgang mit Büchern lehren? Ein Buch zu besitzen, kann da schon weiterhelfen. Also die Rumpelkammer aufräumen, Weihnachten vorziehen und die Bücher aus dem Bibliotheksverkauf retten.