vor allem ja von der SPD-Basis, für die der altehrwürdige Vorwärts-Verlag eigens ein Heftchen druckte und gerade an die noch übrig gebliebenen 474.820 Genossen verschickt. Eine Menge Porto.Von den SED-Parteitagen hieß es übrigens gleichfalls, daß deren Beschlüsse breit diskutiert würden. Allerdings wurde ihnen dann reflexsicher hundertprozentig zugestimmt, während jetzt frei gemosert werden darf, worin – ohne Zweifel – der demokratische Vorteil besteht, jedenfalls solange tatsächlich alles zur Diskussion gestellt würde, also nicht nur Dokumente, die – bei allem Respekt – nicht so existentielle Veränderungen vorsehen wie es etwa vor Jahren die eigens nicht abgestimmte Entscheidung für den Euro oder eine EU-Verfassung einschloß.
Wer sich den glatten Text von der Präambel bis zur Garantie des “Deutschen Bienenmonitorings” durchliest, der findet darin politisch die bekannte Verlautbarungsrhetorik für Anspruchsvolle versammelt. Und ausnahmslos klingt alles sehr gut und nach lichter Zukunft, für die man gern Seit an Seite schreiten würde, selbst wenn einem mancher Kompromiß nicht liegt.
Nur um in den Ton einzustimmen: “Die Koalition aus CDU, CSU und SPD will dafür Sorge tragen, dass die Grundlagen für unseren Wohlstand und den Zusammenhalt gesichert und ausgebaut werden. Wir wollen, dass alle Menschen in Deutschland – Kinder, Frauen und Männer, Junge und Alte, in Ost und West – ein gutes Leben führen können und unser Land auf seinem guten Weg weiter vorankommt.”
Diese Diktion wird beibehalten. Folglich mutet das Papier nicht nur hinsichtlich der immensen Zugeständnisse der CDU/CSU an ihren rosa Partner – bspw. hinsichtlich doppelter Staatsbürgerschaft – tendenziell sozialdemokratisch an, sondern ebenso wegen der salbungsvollen Weise des Ausdrucks. Interessant wäre ferner eine lexikologische Zusammenstellung all der schönen Reizworte, die mit heilender Wirkung aufgeladen scheinen. Für den Bereich “Bildung” – als Wort schon immer per se positiv konnotiert – ist das vor allem die Zauberformel “Ganztagsschule”, ohne die “Bildung” offenbar gar nicht mehr geht. “Ganztagsschule”, das gehört zur “Bildung” wie farbige Streifen zur Zahnpasta.
Dem Wiener Kongreß warf man vor, er tanze nur und verhandele nicht. Das ist heute anders. Um einen Koalitionsvertrag wird nächtelang gestritten, ja gerungen, so daß man das Streßschwitzen durchzuriechen meint, und alle Akteure sehen in dieser Nachtarbeit eine physische Herkulesaufgabe. Man haut sich für Deutschland die Nächte um die Ohren. Wir früheren DDR-Bürger denken gleich wieder an Weinerts Stalin-Gedicht:
Ich schau aus meinem Fenster in die Nacht;
Zum nahen Kreml wend ich mein Gesicht.
Die Stadt hat ihre Augen zugemacht.
Und nur im Kreml brennt noch Licht.
Gut, man sollte grundsätzlich Respekt haben vor Schlipsträgern, die Nachtschichten absolvieren. Wesentlicher ist etwas anderes. Bei allen propagandistischen Wortungetümen ist der Koalitionsvertrag vor allem reine Buchhalterei. Der Kongreß der zukünftigen Koalitionäre tanzt natürlich nicht, aber er inspiriert ebensowenig; er rechnet nur. Das muß so sein, denn Zahlen rationalisieren und rationieren Sachverhalte. Aber eigentlich wird ausschließlich gefeilscht. Es geht um Zahlen, dann noch mehr um die Posten und Pfründen, vielmehr als um Ideen. Ideen, das ist böses 19. Jahrhundert! Deutschland ist Standort, ist Deutschland-AG, ist eine Art Panzerkreuzer im Exportwettkampf, braucht also Investitionen. Klar. Leitbegriff ist das immer so ein bißchen feist klingende Signalwort: Wohlstand! – Wohlstand für alle! Mindestlohn! Endlich! Mütterrente! Endlich! Ende des Mißbrauchs von Leiharbeit und Werkverträgen! Endlich! – Und vor den Türen summe leise, aber eindringlich die Gewerkschaften: Bitte mehr Wohlstand, noch mehr Wohlstand! Ihre Bosse daneben im Baß: Keine neuen Steuern! Bloß keine Steuern!
Was wäre aber eine Idee? Selbst wenn es eben nur um Wohlstand gehen soll, läge sie beispielsweise darin, die gut saturierten Beamten endlich im solidarischen Sinne an den Gesundheitskosten und der Rentenfinanzierung für alle zu beteiligen. Was für Möglichkeiten einer solidargemeinschaftlichen Finanzierung! – Keine Angst! War ja nur ein Beispiel. Aber klar, da würden draußen Barrikaden gebaut, und deswegen verzichtet man auf solche doch nur enervierenden Vorschläge gegen loyale Klienten, ebenso wie man natürlich nichts darüber verlauten läßt, wie man, abgesehen von der mystifizierten Ganztagsinternierung von Schülern, dem zwanzig Prozent funktionalen Analphabetismus bei Fünfzehnjährigen abhelfen oder überhaupt gegen das zunehmend illiterate Milieu des betreuten Durchschnitts an Oberschulen wirken wollte. Zu “digitalem Lernen” hingegen kann man etwas erfahren. Klingt ja auch super.
Bismarck, Rathenau, Stresemann, Adenauer, Erhard, Strauß, Schmidt, Wehner, Lambsdorff, die rechneten auch alle. Und waren doch mehr als Buchhalterseelen.
Ideen? “Wir haben uns neue Götzen geschaffen. Die Anbetung des antiken goldenen Kalbes hat eine neue und erbarmungslose Form gefunden im Fetischismus des Geldes und in der Diktatur einer Wirtschaft ohne Gesicht und ohne wirkliches menschliches Ziel. Die weltweite Krise, die das Finanzwesen und die Wirtschaft erfaßt, macht ihre Unausgeglichenheiten und vor allem den schweren Mangel an einer anthropologischen Orientierung deutlich – ein Mangel, der den Menschen auf eines seiner Bedürfnisse reduziert: auf den Konsum.” Das schreibt kein Neomarxist, sondern Papst Franziskus. Sicher, man kann ein Koalitionspapier nicht vergleichend gegen das apostolische Schreiben “Evangelii Gaudium” halten. Nur als Beispiel für mutige Analyse – hier ist lange nicht die polemischste Passage zitiert – sei das Gefälle verdeutlicht.
Oswald Spengler schrieb: “Bei Chaironea und Leipzig wurde zum letzten Male um eine Idee gekämpft. Im I. Punischen Krieg und bei Sedan sind die wirtschaftlichen Momente nicht mehr zu übersehen.” – Diese Momente sind heutzutage alles. Man kann das sachlich gut finden. Man wird aber etwas Wesenhaftes vermissen.
Rumpelstilzchen
Den Koalitionsvertrag will ich gar nicht durchlesen.
Wohlstand, gutes Leben für alle - prickelnd wie Fußpilz .
Wie öde, wie langweilig.
Dagegen der Text von Papst Franziskus EVANGELII GAUDIUM.
Eine Offenbarung, ein programmatischer Text. Für Rechte, für Linke, für Gottlose, für Andersdenkende, Andersgläubige, für Ökonomen und Theologen. Ein Papier, über das sich diskutieren läßt.
Beim morgendlichen Überfliegen der online Medien stieß ich auf die Schlagzeile: Papst firmt Römer "Habt keine Angst zu fallen".
https://kath.net/news/43955
Eine militärische Ausdrucksweise. Und ich greife zu Josef Piepers Büchlein:
Vom Sinn der Tapferkeit
Dort lese ich über das Verhältnis der Tapferkeit als sittlicher Grundhaltung zur soldatischen Tüchtigkeit:" Vielleicht sind die weniger Tapferen die besseren Soldaten, so lautet ein nachdenklicher Satz des heiligen Thomas."
Jetzt auf einer krummen Kurve den Bezug zur Soldateska hergestellt.
Der Text des Papstes ist in der Tat der Gegenpol zur ideenlosen Propaganda des Wohlstands. Ein kämpferischer Text.
Eine Tugendethik gegen Gesinnungsethik. Ein Durchbruch.