War mit den Kleinen planschen in einem vorortmäßigen Großdorf namens Maintal. Zwischen Schwimmerbecken und Kleinkindbereich stehen zwei Regale. Darin nicht etwa die üblichen Lesezirkelausgaben mit Gala und Bunte, sondern eine knappe Hundertschaft echter Bücher. Im winzigen Hallenbad:
zweimal Konsalik, einmal Utta Danella, also das maximal erwartbare, aber daneben: Ina Seidel, dreimal E.T.A. Hoffmann, eine Prachtausgabe Der Vater von Jochen Klepper, zweimal Joachim Fernau, Brentano, Novalis, Gustav Meyrink, dann, schluck, zwei Landser-Ausgaben, ferner Coetzees Schande und zweimal Chesterton. Alles ohne Wasserränder. Ein Welträtsel.
16.12. 2013
Damals im Westen, als meine Großen klein waren, gab es so was: Spiel- und Singegruppen für Mütter mit kleinen Kindern. Nun, Osten, Provinz, ist es so, daß die Kleinen ab dem Alter von sechs Monaten von staatlichen Institutionen bespielt werden. Bin also den Kontakt mit Mutter- und- Kind seit Jahren völlig entwöhnt.
Nun die geballte Ladung im ICE-Kinderabteil, gleich drei schicke Großstadtmütter (alle Berlin) mit hübsch retrobenamsten Kindern. Biokekse, Biogummibären und Biotee auf dem Tisch: Upperclassmoms. Erstelle heimlich während der dreistündigen Fahrt eine Rangliste der zur Sprache gekommenen, an die Kinder gerichteten Interjektionen: Cool! (27 mal), Ssuper / boah, ssuper/ssupa! (insgesamt 23 mal), geil! (11 mal) oh nö, bitte! (9 mal).
17.12. 2013
Im Musikunterricht wird die Heilige Zeit eingeläutet, berichtet die Elfjährige. Geschöpft wird aus dem Vollen: Wie alle Jahre wieder Last Christmas mit allen Strophen, außerdem, ebenso unvermeidlich, der X‑mas-Emanzipationssong Herr Holle:
Herr Holle, Herr Holle, der schüttelt jetzt die Betten aus, die Betten aus,
denn er hilft seiner Frau im Haus, denn er hilft seiner Frau im Haus:
Herr Holle, Herr Holle, das wird ja Zeit, das wird ja endlich Zeit.
Viele hundert Jahre lang hat er sich gedrückt,
darum streut er heut den Schnee auch noch ungeschickt.
Hier schneit es zu wenig, dort schneit alles ein.
Doch ihr wisst ja, nur wer übt,
Der wird ein Meister sein.
„Und, haben alle artig den Mund aufgemacht?“ – „Hm… nja… die Jungs singen ja eh nicht so gern…“
18.12. 2013
An wen, an was erinnerte mich die alarmierend-aufgeregte Mädchenstimme im Deutschlandfunk, die gestern abend von der Pressekonferenz zum „Fall Valery Gergiev“ berichtete? Heute früh fällt´s mir ein: In genau diesem Ton spricht ein mir eng vertrautes Fräulein, wenn sie zwecks eigener moralischer Besserstellung eines ihrer Geschwister anschwärzen will. Dann schallt es ihr im Chor entgegen: „Petze, Petze ging in´ Laden, wollt´ für´n Groschen Knackwurst haben…“
Groschen gibt´s längst nicht mehr, und der Chor steht heute auf Seiten der Petzer. Die werfen Gergiev, dem künftigen Chefdirigenten des Münchner Philharmoniker nicht vor, Putins Gesetz gegen „nicht-traditionelle Lebensformen“ unterstützt zu haben – hat Gergiev defintiv nicht – sondern: nicht dezidiert gegen seinen Landsmann Stellung zu beziehen. So weit sind wir schon.
Empört und ein bißchen schauprozeßgeil berichtete das DLF-Fräulein, Gergiev habe „einen Eiertanz“ vollführt beim Bemühen sich aus der Affäre zu ziehen. In der Süddeutschen Zeitung lese ich heute: „Auf die Frage, ob er es für richtig halte, vor Kindern über das Thema Homosexualität zu reden, meinte Gergiev: Es ist wichtiger, in bestimmten Phasen der Kindheit über Puschkin und Mozart zu reden.“ Salomonische Worte.
19.12. 2013
Irgendwann hatten wir es aufgegeben, die sonntäglichen Familienkonzerte in Halle zu besuchen. Das war zwar meistens sehr schön und kindgerecht, Peer Gynt, den Karneval der Tiere oder Peter und der Wolf didaktisch aufbereitet von der Staatsphilharmonie vorgeführt und erläutert zu bekommen. Aber erstens änderte sich das Angebot ins Moderne und Häppchenhafte, nachdem der autoritär-charismatische „Moderator“ Prof. Hermann Große Jäger abgedankt hatte, zweitens war es so, daß sich das tolle Klassik-Erklärangebot zum Superpreis vor allem unter Senioren rumgesprochen hatte. Dann standen wir an der Konzertkasse, hörten „leider längst ausverkauft“ und wußten, an wen: vor allem an die Generation 70plus, die zuletzt fast die Mehrheit im Saal ausgemacht hatte.
Seither sind Schülerkonzerte unser Geheimtip. Die sind natürlich vormittags und kommen außer für Schüler und Rentner nur für Hausfrauen und Selbständige in Betracht. Heute: Konzert für Violine und Orchester von Antonin Dvorák. Erste Reihe, fünf Euro pro Nase, was für ein Luxus! Ein Segen! Als wir zuletzt ein Schülerkonzert im Gewandhaus besucht hatten, spielte das weltberühmte Orchester für sechs, sieben Klassen, heute ist der Saal Dreiviertel voll. Hier sind auch Jugendliche, die vielleicht ohne dieses Angebot nie in den Genuß eines klassischen Konzerts kämen. Ob sie´s goutieren?
Die kleine Tochter: „Guck mal, der! Mit den lila Haaren und den riesigen Ohrlöchern!! Ob dem das überhaupt gefällt?“ Der Sohn, in weiser Generosität: „Man hört nur mit dem Herzen gut, gell? Vielleicht kam dem das besonders leise vor. Oder besonders laut. Vielleicht haben diese Ohrdinger aber auch gar keine Bedeutung oder Funktion. Wissen wir ja nicht.“
20.12. 2013
Aus der Münchner Abendzeitung, online:
Überraschende Wendung im Fall Gergiev: Kurz vor der Demonstration schwullesbischer Aktivisten am Gasteig wurde gestern nachmittag ein Brief des Dirigenten an den Kulturreferenten Hans-Georg Küppers bekannt. Gergiev versichert darin, sich an die Anti-Diskriminierungsrichtlinien der Stadt zu halten. Außerdem kündigt er an, sich mit Vertretern schwullesbischer Organisationen treffen zu wollen: Er halte es für sinnvoll, „bei einem meiner nächsten Aufenthalte in München ein Gespräch mit der Community zu führen“, schreibt Gergiev.
Sascha
"Gergiev versichert darin, sich an die Anti-Diskriminierungsrichtlinien der Stadt zu halten. Außerdem kündigt er an, sich mit Vertretern schwullesbischer Organisationen treffen zu wollen: Er halte es für sinnvoll, „bei einem meiner nächsten Aufenthalte in München ein Gespräch mit der Community zu führen“"
Unter Stalin hieß sowas "Kritik und Selbstkritik".