Die deutschen »Ideen von 1914« enthalten ein politisch konstruktives Freiheitsverständnis; »Tannenberg« und »Langemarck« sind zwar deutsche »Mythen«, halten aber im Kern einer »Entmythologisierung« stand, weil weder an der militärischen Leistung bei Tannenberg noch an der militärisch zwar sinnlosen, aber dennoch übermütig-heldenhaften Opferbereitschaft der Freiwilligen bei Langemarck zu zweifeln sei; das deutsche »Augusterlebnis« für »widerlegt« zu halten, nur weil nicht sämtliche Deutschen im August 1914 gleichermaßen begeistert über den Kriegsausbruch waren, ist grotesk; das Scheitern der deutschen und der US-amerikanischen Friedensinitiativen war nicht die Schuld des um Verständigung bemühten Reichskanzlers Bethmann Hollweg, sondern seiner unversöhnlichen französischen und englischen Kollegen; die geopolitische »Mittellage« Deutschlands ist ein tatsächlich bestehendes Problem; die These Niall Fergusons vom »falschen Krieg«, den England auf eigene Kosten und zum alleinigen Nutzen der USA geführt habe, ist durchaus plausibel.
Gut und Böse sind bei Münkler relativ gleich auf die beteiligten Staaten verteilt; in Deutschland waren die Militärs und Annexionisten die Bösen, während die Politiker und (liberalen) Befürworter eines »Verständigungsfriedens« die Guten waren.
Das Buch hat aber doch zwei erhebliche Schwächen. Die erste ist die fast durchgängig auf Deutschland beschränkte nationale Perspektive, die Münklers eigenem Anspruch widerspricht, eine Gesamtdarstellung des Ersten Weltkriegs zu bieten. Da ist es dann zu wenig, hin und wieder auf Ereignisse in Paris, London, Wien und St. Petersburg zu verweisen, die denen in Berlin mehr oder weniger ähnlich waren. Vor allem aber wird durch die breite Schilderung der deutschen Politik und Kriegführung permanent der Eindruck eines aktiven und angreifenden Deutschlands und einer passiven und verteidigenden Entente erzeugt. Zwar nennt Münkler Rußland als die für den Kriegsausbruch entscheidende Macht, hält aber insgesamt doch an einer zentralen Verantwortung Deutschlands für die Kriegsursachen sowie die Eskalation der Julikrise fest.
Die zweite Schwäche des ‑Buches hängt damit zusammen, daß Münkler kein Historiker, sondern Politologe ist, und daß man dies auch merkt. Münkler bleibt ganz und gar abhängig von dem, was die Forschungsliteratur der letzten Jahrzehnte zu bieten hat, und kann diese dann mit mehr oder weniger originellen Ideen ergänzen, aber nicht immer einleuchtend in den historischen Zusammenhang einordnen.
So folgt er im großen und ganzen der Behauptung, die massive antideutsche Kriegspropaganda habe im »brutalen Vorgehen« der Deutschen in Belgien eine rationale Ursache gehabt und verzichtet dabei weitgehend darauf, das Verhalten der deutschen Besatzungsmacht in Belgien mit dem Verhalten der Kriegsgegner in ähnlichen Situationen zu vergleichen. Immerhin aber verweist Münkler auf die Möglichkeit eines solchen Vergleichs, wenn er erwähnt, daß auch Ausländer wie Sven Hedin die Deutschen mit dem Hinweis auf das viel brutalere Vorgehen Rußlands in Ostpreußen in Schutz nahmen. Aus unerfindlichen Gründen hält Münkler diese Argumentation aber für »schwach« und wenig überzeugend.
Der Unterschied zu Arbeiten von Historikern fällt besonders ins Auge, wenn man die Darstellung der Kriegsursachen bei Münkler mit derjenigen Christopher Clarks (Die Schlafwandler) vergleicht: Münkler betont zwar, daß Deutschlands »Blankoscheck« für Österreich-Ungarn in der Julikrise 1914 alles andere als verantwortungslos gewesen sei. Man müsse auch die ganz ähnlichen Zusagen Rußlands an Serbien und Frankreichs an Rußland berücksichtigen. Auch könne von einer »Störenfriedrolle« des Deutschen Reiches nur bedingt gesprochen werden. Er bleibt aber doch der alten Sichtweise verhaftet, nach der Deutschlands bloßes Vorhandensein eine Art Sicherheitsrisiko für die Entente-Mächte gewesen sei, angesichts dessen die deutsche Politik ein besonneneres Auftreten an den Tag hätte legen müssen. Clark zeigt dagegen, daß die Einkreisung Deutschlands kaum mit einer angeblichen deutschen »Gefahr« zusammenhing, sondern mit davon unabhängigen Verschiebungen des europäischen Staatensystems.
Trotz dieser Schwächen ist Münklers Buch zu begrüßen. Als stellenweise origineller Überblick über den Ersten Weltkrieg aus deutscher Perspektive und als zusammenfassende Kommentierung des gegenwärtigen Forschungsstandes ist es sinnvoll benutzbar. Es ist zudem trotz gewisser Einschränkungen eine weitere Referenzgröße für die wissenschaftliche Erledigung deutscher Hauptschuldvorwürfe. Das ist schon viel wert in Anbetracht der in diesem Jahr bevorstehenden geschichtspolitischen Auseinandersetzungen um die Deutung des Ersten Weltkriegs. Münkler wird dabei vermutlich eher auf der richtigen Seite stehen.
Herfried Münkler: Der Große Krieg. Die Welt 1914–1918, Berlin: Rowohlt 2013. 928 S., 29.95 €
Sirius
Ich habe das Buch von Münkler noch nicht gelesen. aber eines steht für mich fest: Es gibt für den Ausbruch des 1. Weltkriegs keinen Hauptschuldigen. Jeder der Beteiligten hat hierzu seinen Beitrag geleistet. Den Vorwurf , den man allerdings dem deutschen Kaiserreich machen kann, ist, dass es sich in dummer Nibelungentreue an die Habsburger gebunden hat.
Und wegen eines Attentats in einem kleinen Balkanstaat einen großen, unkalkulierbaren Krieg zu riskieren, das war mit Sicherheit Selbstüberschätzung und falsch verstandene Ehre sowie ein bodenloser Leichtsinn. Ähnlich unbedacht und überhaupt nicht risikokalkuliert hat ja auch Hitler mit seinem geistig unterbelichteten, hackenknallenden Generalstab die riesige, bis an die Zähne bewaffnete Sowjetunion angegriffen. - Ein weiterer, unbedachter deutscher Wahnsinn.
Wenn man man die Österreicher kennt, weiß man, dass diese an Kampfkraft und Ausdauer niemals an die Reichsdeutschen heranreichten.
Die hatten doch eine Operettenarmee, zusammengwürfelt aus verschiedenen Nationen und immer stärkeren Zentrifugalkräften ausgesetzt. Das bestätigte sich dann auch während des Krieges, als Truppen des Deutschen Reiches zunehmend den Österreichern an vielen Frontabschnitten unter die Arme greifen mußten und deshalb wichtige deutsche Kräfte im Westen fehlten.
Also: Kritisch bewertete Strategie , Risikoanalyse, Bescheidenheit
Lebensklugheit, geschickte Diplomatie und deutlich mehr Vorfeldspionage bei Freunden und Feinden wären im Vorfeld des 1. Weltkriegs überlebensnotwendig gewesen zur Vermeidung des Krieges . Es hat leider bei den Deutschen und Österreichern sehr daran gemangelt. - Vielleicht
weil beide Völkerschaften irgendwo doch viele Gene gemeinsam haben ?