Eine Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs muß daher Fragment bleiben, das auf einer sehr subjektiven Auswahl beruht.
Pipers Buch ist von der Idee getragen, daß es bis zum August 1914 so etwas wie eine gesamteuropäische Kultur gegeben habe, die dann gewaltsam auf das Schlachtfeld geführt wurde. Insofern sieht er in dem Krieg das Ende dieser Kultur und damit ein widersinniges Ereignis, das dem kosmopolitischen Trend entgegengesetzt gewesen sei. Bereits der Prolog weist in diese Richtung: Piper schildert darin das tragische Schicksal Georg Trakls, der, konstitutionell denkbar ungeeignet für einen Krieg, sich freiwillig meldet und bereits zu diesem Zeitpunkt von den schlimmsten Ahnungen erfüllt ist. Daß der depressive Feldapotheker Trakl dann an einer Überdosis Kokain stirbt, wird hier als Resultat der totalen Mobilmachung gedeutet, die alles in ihren Dienst stellt und verbraucht.
Piper geht im Anschluß daran, soweit das bei einer Kulturgeschichte durchhaltbar ist, chronologisch vor. Seine Tour d’horizon reicht von den Debatten im Vorfeld des Krieges über die Kriegserklärung, die Mobilisierung, den Krieg selber, die Hoffnungen von 1917 auf eine amerikanische Schlichtung, bis hin zu den Auswirkungen der Kriegserfahrungen und dem unterschiedlichen Totengedenken in den beteiligten Ländern. Dazwischen liefert Piper Abschnitte über die Bemühungen Intellektueller, den Krieg mit den Waffen des Wortes zu führen, über den Futurismus, der dem Krieg eine Schönheit abgewinnen konnte, über das Judentum, das sich auf viele Länder verteilte und damit automatisch ein Loyalitätsproblem zu haben schien und viele andere Aspekte.
Immer wieder kommen Einzelschicksale von Künstlern oder Schriftstellern – etwa Hermann Löns, Franz Marc – zur Sprache, die die Folgen des Krieges eindringlich verdeutlichen. Viele Intellektuelle konnten sich im Laufe des Krieges aus der Schußlinie nehmen, weil ihre Fähigkeiten bei der Zensur oder an anderen zivilen Orten besser gebraucht werden konnten als an der Front. Dennoch blieb der Blutzoll hoch. Piper vergleicht, was seine Arbeit hier recht aufschlußreich macht, diese Tatsache mit anderen Ländern. Die Österreicher schufen beispielsweise ein Kriegspressequartier, das Schriftsteller ziemlich geschlossen in den Dienst nahm und so vor der Front bewahrte.
Die Schwerpunktbildungen des Buches sind teilweise sehr aufschlußreich. Allerdings wird damit der Anspruch, eine Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs zu schreiben, nicht eingelöst. Das Buch hat, auch wenn es mit zahlreichen Fußnoten versehen ist, etwas Essayistisches. Das kommt insbesondere in einigen wertenden Zuspitzungen zum Ausdruck, die sich Piper als Historiker eigentlich verbieten müßte. Hinzu kommt, daß das Buch eine gründlichere Gliederung hätte vertragen können, ohne die der Leser doch hin und wieder etwas verloren zwischen all den Aspekten und Einzelheiten steht. Löblich ist, daß Piper die neue Debatte um die Kriegsschuldfrage zur Kenntnis genommen hat. Leider kommt er darauf erst am Ende des Buches zu sprechen, am Anfang stehen dagegen Pauschalisierungen, die uns allen aus Schulbüchern geläufig sind.
Ernst Piper: Nacht über Europa. Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs, Berlin: Propyläen 2013. 587 S., 26.99 €