Das klingt übertrieben, doch dieser merkwürdige Gentleman aus Providence, Rhode Island, der als ewig kränkelndes Einzelkind, behütet von seiner Mutter und zwei Tanten im Haus der Großeltern aufwuchs – der Vater war als Syphilitiker an fortgeschrittener Paralyse im Irrenhaus gestorben, wenige Jahre später endete auch seine schwer neurotische Mutter in einer Nervenanstalt –, war nicht nur ein manischer Büchernarr, der seine Tage hinter geschlossenen Vorhängen mit dem Studium okkulter Literatur und Astronomie verbrachte, sondern der geniale Begründer einer hauseigenen Kosmologie, die ihresgleichen sucht. Lovecrafts »Cthulhu-Mythos« ist eine perfekte Pseudo-Mythologie und ‑Dämonologie, eine Mischung aus purem Schrecken und raffinierter Irrationalität, in der Fiktion und Realität ständig verschwimmen. Die finsteren Mächte, die Monster-Gottheiten außerirdischen Ursprungs, die Großen Alten vom nachtschwarzen Planeten Yoggoth, Dagon und Azathot und über all diesem Grauen der Große Cthulhu: Es ist dies nichts anderes als eine imaginäre Religion, komplett mit allen Göttern und dem fiktiven »Necronomicon« als Bibel.
Insgesamt blieb Lovecrafts Œuvre recht schmal, vierzig kürzere und zehn längere Erzählungen: Doch die – für Europa entdeckt von Jean Cocteau und Louis Pauwels – feiern seit Jahrzehnten wahre Triumphe, und das nicht nur bei Liebhabern gehobener Phantastik. Weniger bekannt ist, daß der Mussolini-Verehrer und erklärte Feind aller massendemokratischen Bestrebungen neben seinen Horrorgeschichten eine Zeitschrift mit dem programmatischen Titel The Conservative herausgab, doch brachen sein ausgesprochener Antimodernismus und seine Abneigung gegen fremde, nichtweiße Rassen auch in Erzählungen wie Das Grauen in Red Hook durch.
Der chilenische Schriftsteller Sergio Fritz-Roa hat nun das Werk Lovecrafts auf eine tiefere Bedeutung untersucht und ist dabei zu erstaunlichen Resultaten gekommen. Bei seiner Forschung nach der Quelle für Lovecrafts Inspirationen stieß er auf die Integrale Tradition im Sinne Julius Evolas und René Guénons, während er im Kapitel »Lovecraft und die Antarktis« Bezug auf Poe, Melville und seinen Mentor Miguel Serrano und dessen »esoterischen Hitlerismus« nimmt. In der Erzählung »Berge des Wahnsinns« sieht Fritz-Roa den »Höhepunkt von Lovecrafts bildmächtigem Schaffen«. Tatsächlich verzichtet der Dichter hier fast völlig auf konventionellen Okkultismus, sondern entwirft eine Jahrmillionen überspannende Chronik vormenschlicher Kulturen, die von außerirdischen Rassen auf der Erde gegründet wurden. Mit der Gründlichkeit eines wissenschaftlichen Berichts schildert er die Südpolexpedition einer Forschergruppe der fiktiven Miskatonic-Universität, die hinter den riesigen Bergketten der Antarktis die Ruinen einer fremdartigen Architektur und die Überreste einer außerirdischen Rasse entdeckt.
Fritz-Roas Verdienst ist es, eine neue Seite in der Lovecraft-Rezeption aufgeschlagen zu haben und dem mit all seiner Sprachgewalt, überquellenden Phantasie, seinen Wahnvorstellungen, Halluzinationen und realen Wahrnehmungen wohl größten Chronisten des Grauens ein weiteres literarisches Denkmal gesetzt zu haben.
Sergio Fritz-Roa: Jenseits des Abgrunds. Im Reich des Howard Phillips Lovecraft, Kiel: Regin 2013. 174 S., 18.95 €