Daß Mosebach sein Publikum radikal spaltet, wie oft behauptet wird, ist nicht ganz wahr. Mit wenigen Ausnahmen ist man sich über den hohen Rang dieses Schriftstellers einig. Neben vielerlei Lorbeerkränzen, die Leitmedien wie die SZ, der Deutschlandfunk und gar Frankfurter Rundschau und taz dem Buch gewunden haben, hat man Mosebach nun aber auch Dornenkronen aufgesetzt:
Ausgerechnet die FAZ, die man bislang für stark mosebachaffin halten konnte, hat den Daumen über dem Roman gesenkt, von „grotesker erzählerischer Willkür“ ist die Rede. Was ist dran am “Realismusstreit” um diesen großen Roman?
Der Lyriker Paul Valéry hatte die Romanschreiberei einmal damit lächerlich gemacht, es sei für ihn unvorstellbar, einen trivialen Satz zu schreiben wie »Die Marquise ging um fünf Uhr aus«. Es war die Zeit, als die Rede von der »Krise des Romans« populär war. Die Wirklichkeit sei zu komplex geworden, hieß es. Neue Medien seien besser geeignet, die Realität einzufangen. Auch könne die Sprache, derer ein Roman bedürfe, kaum mithalten in einer Welt transzendentaler Obdachlosigkeit.
Vor fünfzig Jahren hat Claude Mauriac dem Valéryschen Diktum zum Trotze einen Roman verfaßt, der Die Marquise ging um fünf Uhr aus titelte, eine Art Sekundenstil-Versuch, das Detail zu mikroskopieren, im Kleinen das Große sichtbar zu machen.
Martin Mosebachs Roman Das Blutbuchenfest hebt mit diesen Worten an: »Die Markies verließ um fünf Uhr das Haus«, und schnell wird deutlich, daß sie keineswegs zufällig bereits um fünf – »morgens wohlgemerkt« – das Haus verläßt, obwohl ihr Flug viel später geht. Die Markies, keine Markgräfin, sondern Geschäftsführerin einer Marketingagentur, »war eine überlegene Planerin ihres Lebens und bezog auch eigene Schwächen in ihre Planung ein«. Die Büromädchen wissen, daß sie zurückkehren würde, um noch Wichtiges zu erledigen. Auch sie wissen zu planen und den Zeitpunkt abzuschätzen, ab dem die Agenturgemeinde ihr Tempo herunterfahren kann. »Der Galeerentakt der gemeinsamen Ruderschläge wurde nicht mehr vorgegeben«, führungslos driftet man, Einzelinteressen verfolgend, auseinander.
Eine der Angestellten ist Winnie, ein zartes Mädchen, das seine Herzschwäche durch das Tragen von Kampfstiefeln und Armeekluft konterkariert. Eine weitere Lohnkraft der Inge Markies ist Ivana. Die Bosnierin hält die Markiesschen Privaträume sauber, und bald auch die wüsten, büchergefluteten Zimmer des Ich-Erzählers.
Dieser Berichterstatter ist ein Kunsthistoriker ohne Anstellung jenes Alters, das Mosebachs Angelfiguren meist haben, Mitte dreißig, habituell beeindruckbar, ungebunden, doch nicht bindungsunwillig. Mosebachs Erzähler nimmt, auch dies erneut, eine in denkbar höchstem Maße auktoriale Perspektive ein. Er hat nicht nur die Außensicht auf das Romanpersonal, er macht sie kernhaft kenntlich, kennt ihre Gedanken, blickt in abgeschlossene Räume. Daß das funktioniert, ohne Irritationen zu hinterlassen, darf man der Zauberkraft des Autors zurechnen.
Frankfurt, weithin Ort der Handlung, ähnelt als Handlungsraum dem St. Petersburg Dostojewskis. Hier wie dort kreuzen sich die Wege des Romanpersonals, als wäre die Stadt ein Dorf. Ivana putzt auch bei den Breegens. Der feiste Breegen ist ein Immobilienhai, gestern noch berüchtigter Pleitier, heute wieder obenauf. Ivana wischt und wienert in der Wohnung der betörenden Maruscha, die zugleich Breegen und dem melancholischen Multiplikator Wereschnikow (mit »Kontakten zu Henry Kissinger und Boutros Ghali«, dies seine bedeutsamen Referenzen) als Gespielin dient. Sie hält den Haushalt des lebensuntüchtigen Doktor Glück mit seiner mehr zufällig akkumulierten Napoleonica-Sammlung rein und den der Beate Collisée, jener betagten Couturistin, deren Nichte und Mitbewohnerin ausgerechnet die zwirnsfadendünne Winnie ist.
Während der Ich-Erzähler den Auftrag Wereschnikows annimmt, eine Ausstellung des wenig bekannten Bildhauers Mestrovic zu kuratieren (die Schau soll eine von humanistischem Geist getragene Balkankonferenz flankieren) und zugleich eine Affäre mit Winnie aufnimmt; während Breegen im Kleiderschrank der heimlichen Geliebten festsitzt; während ein zwielichtiger Rotzoff eine Promiparty in Glücks Großstadtgarten plant (das Blutbuchenfest, das revolutionär enden wird), braut sich in Ivanas Heimat ein ungleich größeres Unglück zusammen: Wir schreiben 1992, Jugoslawien bricht auf. Krieg und Fest treffen in eins. So viel gestorben wurde nie in Mosebachs Romanen.
Daneben gilt wie immer bei diesem Schriftsteller: Unter dem glänzenden, in mustergültiger Kunstfertigkeit aufgetragenen Firnis wuchert das Holz. Es folgt seiner Wuchsrichtung, als wäre es nie abgesägt, verarbeitet und glattpoliert worden. Mosebach ist ein begnadeter, scharfsichtiger Menschenkenner, das beweist erneut dieser Roman. Ein Naseweis mag fragen, weshalb in einer Geschichte, die vor über zwanzig Jahren spielt, bereits Klingeltöne, SMS und schmale Klapprechner für die Nachrichtenübertragung sorgen. Mosebach wagt es, das Realismuskonzept des bürgerlichen Romans augenzwinkernd zu übertreten. Was, wenn nicht das unüberhörbare Stampfen der dräuenden Kriegsmaschinerie, bezeugt die »Antiquiertheit des Menschen« (Günther Anders) gegenüber der Macht der Großtechnik? Nach Anders obsiegt der technische Apparat mit seiner Fähigkeit, »auf Knopfdruck« den »weltlosen« Menschen zu bezwingen.
Die handelnden Subjekte bei Mosebach denken »mit den Fingerspitzen, fixe Gedanken, die sich den Fakten anschmiegen wie ein Handschuh«. Der Krieg, das Fest: sie wirken am Ende nicht als zuverlässige Läuterungsinstanz. Die Reinigungskraft? »Sie streifte den Jogginganzug über. Dann begann sie aufzuräumen.« Trivial: nicht dieser Roman.
Martin Mosebach: Das Blutbuchenfest. Roman, München: Hanser 2014. 448 S., 24.90 €
Jens
Ich kann hierzu leider nichts sagen, da ich den Roman (noch) nicht gelesen habe, weise aber darauf hin, dass am 27.02. im Literaturhaus FFM eine Lesung aus demselben stattfindet.