aber ebenso als vermutlich “kulturgeschichtliches” Phänomen. Jene vergleichsweise wenigen, die mehr Puls haben, fallen glücklicherweise um so eindrucksvoller auf. Wo überhaupt mögen noch Leidenschaften liegen? – Nein, es geht mir nicht um die übliche Jugendschelte, nur weil ich selbst fünfzig werde. Meine Schüler und jungen Freunde sind in Ordnung. Sie können so allerlei, sie beherrschen die Programme des Informationszeitalters, sie greifen auf alles mögliche, meistens aber auf Virtuelles zu, sie kennen eine Menge praktischer Apps und tippen Sätze schneller als ich in die Welt.
Ihre Emotionen oszillieren zwischen Allmachtsphantasie und Unsicherheit, oft scheinen sie mir Angst zu haben, vor der Zukunft, vorm Versagen, vor dem Gespenst Hartz IV; aber hinsichtlich ihrer Begeisterungsfähigkeit registriere ich oft nur flache Amplituden. Schwierig, die Gleichgerichtetheit zu zackigen Ausschlägen zu bewegen. Leben ist mehr als Stoffwechseln. Wie im optischen Gegensatz dazu wirken immer mehr Jugendliche körperlich allerdings so akzeleriert, daß man sich öfter mal deren geringes Alter vergegenwärtigen muß. Zuweilen sehen Jungen und Mädchen bereits in der siebenten Klasse äußerlich so entwickelt aus wie früher in der Oberstufe. Kinder, in großen Körpern gefangen. Sie wirken in der Schule wie interniert, und man fragt sich unwillkürlich, wie diese rein physisch Erwachsenen es noch jahrelang in Klassenräumen aushalten können.
Bei allgemeiner Reizüberflutung scheint sie aber kaum etwas tief zu erregen oder aufzuregen. Sie sind freundlich, loyal, bisweilen sogar solidarisch, aber schwer zu entzünden. Als Lehrer konkurriert man daher mit dem allgegenwärtigen Medien-Entertainment. Außerdem beargwöhne ich ihren Hang zum allzu Lauen: Statt herb gehopftes Pils bevorzugen die, die es dürfen, aromatisierte Mischgetränke mit bunten Etiketten, also verpanschtes Bier. Sie meinen widerlich süße Energy-Drinks zu benötigen, um in Gang zu kommen; den Zuschnitt ihrer Jeans halte ich für unpraktisch, er behindert kräftiges Ausschreiten; und sich überhaupt mal mit Verve zu bewegen oder abzurackern, das finden sie uncool, weil ihnen die Erfahrung fehlt, daß das Eigentliche erst jenseits dessen beginnt, was man eben noch für seine Leistungs- oder Schmerzgrenze hielt. Lieber Spiel als Sport. Und diese Rollkoffer, die sie hinter sich herziehen, gab es früher nur für Rentner. Selbstüberwindung? Was ist das denn, Herr Bosselmann? Und ja: Wir sind leidenschaftslos, da haben Sie wohl recht. Ist nun mal so. Keep cool! – Ich nehme an, ließe man sie an richtige Maschinen heran und nicht nur mit Ersatzteilen spielen, dann täte sich was. Trennschleifer, Traktoren, Motorräder und, ja, Waffensysteme, das mögen u.a. veritable pädagogische Vehikel sein – konfrontativer, kraftvoller und intensiver Erlebnis und Bewährung ermöglichend als Standbilder, Wandzeitungen und all diese langweiligen Bastelstraßen des sog. Projektunterrichts.
Als ich neulich auf dem Neubrandenburger Stadtwall an zwei einander gegenübergestellten Parkbänken vorbeiging, einer Art improvisierter Sitzgruppe, in der ein halbes Dutzend dieser mit üblichen „Markenklamotten“ gut angezogenen, dazu aufwendig frisierten und durchaus gepflegten Jungs abhing und „chillte“, Hip-Hop hörte und sich über Smart-Phones mit der Welt verband, glaubte ich plötzlich zu wissen, woran das liegt, was ich da wahrzunehmen meine. Woran es liegt, daß sie einerseits wirklich richtig gute und gesunde Jungs sind, andererseits aber so durchhängen. Den einfachen Satz, der mir dazu einfiel, mag eine problematische bis gefährliche Last beschweren, vermutlich wieder mal eine böse ideologische, aber dieser Satz markiert den Unterschied zwischen meiner Generation der in den Sechzigern und Siebzigern im Osten Geborenen und jenen, die ich zuweilen bedauere. Er lautet:
WIR WURDEN GEBRAUCHT!
Präteritum natürlich. – Wer braucht die Jungs auf der Bank? Die Deutschland AG? „Europa“? Schon lange scheint mir die „Volkswirtschaft“ mehr Konsumenten als Produzenten zu benötigen.
Ja, ja, mein ehemaliges Heimatland ging unter, zerfiel zur geschichtlichen und ökonomischen Konkursmasse, ein Ramschladen zur vielfältigen Bedienung, vermittelt über eine „Treuhandanstalt“, die von einer sehr harten Anstaltsleiterin im Interesse der neuen Verwerter geführt wurde. Aber daß es so kommen würde, wußten wir in den Siebzigern und Achtzigern noch nicht, denn da hatten wir den Eindruck, wir würden tatsächlich gebraucht. Daß es so sein sollte, säuselte man uns nicht antiautoritär vor, nein, man versah diese Prognose, diesen Anspruch mit einem barschen Ausrufezeichen: Ihr werdet gebraucht, Leute! Strengt euch an! Gebt euch nicht mit Mittelmaß zufrieden, sonst verlieren wir die Auseinandersetzung der Systeme! Kindergarten ist vorbei, das hier ist kein Spiel mehr aus Lust und Laune, sondern Kampf! Zwar nicht unmittelbar militärisch, noch nicht, aber ehrlich gesagt kann euch selbst das noch blühen. – Wir sollten ein Gedicht des russisch-sowjetischen Avantgarde-Lyrikers Wladimir Majakowski interpretieren, das uns schon damals etwas streng erschien: „Geheimnis der Jugend“.
Ob Lehrling oder Schüler: Ranzuklotzen galt als lobenswert, besonders dann, wenn nicht gleich nachgefragt wurde, was man denn jetzt persönlich davon hätte. Man mag mißgünstig unterstellen, daß unsere Elterngeneration vom Dritten Reich diszipliniert und mobilisiert worden war und ihre Haltungen vom Nationalsozialismus auf den DDR-Sozialismus und so auf uns übertrug. Heutzutage hingegen wird selbst Fußball eher für Geld gespielt als für eine Idee von Sieg. Und wenn es um Werte geht, denken viele, es ginge um die Preise, also wieder mal um Strichcodes.
Die meisten von uns wurden gern gebraucht, nicht wenige mögen gar mißbraucht worden sein, indem sich ihr Ehrgeiz problematisch eingespannt fand: systemnah. – Aber ein Kerl war, wer was zuwege brachte. Coolness gab’s in Amerika, und wir mochten das, was wir zuweilen im Kino oder Westfernsehen sahen, im Sinne eines anderen „Lifestyle“ wohl nachzuahmen versuchen, aber dann hieß es gleich wieder: Mehr Fleiß! Engagement! Initiative! Mensch, ihr werdet gebraucht! Hängt hier nicht rum! – Als ich Mitte der Achtziger endlich aus der Armee ausschied, schienen mir draußen plötzlich ganz andere Jugendliche unterwegs zu sein: Die hatten neuerdings Friseurtermine, gingen Klamotten kaufen, anstatt karierte Arbeitshemden zu tragen, und hörten keine gerade klassische Rockmusik mehr, sondern die Synthie-Pop-Gruppe „Depeche Mode“. War das nicht schon der Beginn der Wende, noch vor Gorbatschows Freischaltung unseres Landes für Freiheit und Markt?
Ich denke darüber nach, ob nur Ideologie solche Motivation hervorbringen kann. Was gleich noch die ketzerische Frage provoziert, ob es gar besser ist, mit der falschen aufzuwachsen als mit gar keiner? – Sicher inspiriert auch die Kunst. Aber wer ist schon ein Künstler? Poetry Slam etwa vergesellschaftet ja gerade Lyrik, und Petra Engelmanns gefeierter Auftritt bringt den Eindruck zur Sprache, den ich oben beschrieb. – Andererseits weiß ich: Die Jungs, die ich kenne, wären am Maidan in Kiew auch auf den Barrikaden, wenn es um den Mut ginge, sich für und somit auch gegen etwas einzusetzen. Nur wofür und wogegen sollten sie das gerade tun? Apple-iPhone oder Samsung-Handy? Selbst wer den Regenwald retten möchte, was sehr anerkennenswert sein dürfte, ist von ihm weit entfernt.
Arthur Spät
Die Motivation, Power, Leidenschaft, die Ideologien oft mit sich bringen, sind, wie jeder weiß, ambivalent. Anschaulichstes Negativ-Beispiel unserer Zeit ist der Islamismus. Dass es so ist, ist ein praktisches Problem, für jeden, der sich ein "bisschen mehr" Ideologie wünscht. Mit der richtigen Ideologie, in der richtigen Dosierung, könnte man sagen, ließe sich diese Schwierigkeit vielleicht auflösen. Aber es gibt noch ein grundlegenderes, moralisches Problem. Ideologien sind immer, egal welche und egal in welcher Dosierung, unterdrückerisch für diejenigen, die ihnen nicht anhängen. Sie müssen Dinge tun oder Unterlassen, die sie sie nicht tun oder unterlassen wollen, was sich nicht begründen lässt. Dieses Problem lässt sich nicht auflösen.