Erst mussten wir «Sex-Tabu» spielen, welches wie ein herkömmliches im Handel erhältliches «Tabu» funktioniert, aber nun nur mit Sexbegriffen wie Oralverkehr, Schwangerschaft, Quickie, Analverkehr und so weiter. Manche von uns hatten Probleme mit einigen Begriffen oder wollten sie aus Scham nicht erklären. Sie mussten es dann aber trotzdem tun.
Als unsere älteste Tochter vor vielen Jahren Aufklärungsstunden hatte, hatten wir vorab das Gespräch mit der Lehrerin gesucht und uns Punkt für Punkt sagen lassen, was im Unterricht thematisiert werden soll. „Keine Sorge, es wird nichts Ungewöhnliches hineingetragen“, sagte die Lehrerin damals, ich erinnere mich noch gut an den Ausdruck des „Hineintragens“.
In der Tat war meine Sorge unbegründet. Es kamen bislang bei keinem Kind die berüchtigten Sexköfferchen zum Einsatz, es mußten auch keine Bananen mitgebracht werden, wie man es andernorts hört. Behandelt wurden pubertäre Veränderungen und Schwangerschaft, und wer unmäßig kicherte oder unflätig wurde, wurde als unreif gescholten und mußte das Klassenzimmer verlassen. Gerade ist das Thema bei unserem Sohn dran. Diesmal hieß es sogar, sowohl Kinder als auch Eltern können über eine Teilnahme an jenen Unterrichtsstunden entscheiden. Vorbildlich! Dieser in der Basler Zeitung online publizierte Bericht wirkt, das muß man sagen, nicht vollends wie von Kinderhand verfaßt. Sei´s drum, inhaltlich wird er stimmen.
Sexualkundeskeptische Eltern sagen ja, Aufklärung sei Familiensache. Man stelle sich vor, ein Papa würde seine Kinder exakt so aufklären, wie es die Aufklärungsbeauftragte an dieser Klasse unternommen hat – ihm würde die Hölle heiß gemacht.
18.2. 2014
Über dem Feuerlöscher im Warteraum der Musikschule hängt etwas Grünes. Es mag sein Jahren dort hängen, ich habe es nie beachtet. Es scheint ein kleiner Verbandskasten zu sein, darauf steht: Holthaus Medical. Zwei Musikschüler, beide vielleicht elf, zwölf Jahre alt, sitzen mit mir herum. Er: „Boah, total verrückt. Echt verrückt!“ Sie: „Was denn?“ „Er: „Dieses Ding an der Wand da. Ich hab grad irgendwie gelesen: Holocaust medical.“ Sie: „Da steht aber Holthaus.“ Er: „Ja, seh ich ja auch jetzt. Ich hab halt Holocaust gelesen.“ Sie: „Jetzt halt deinen Mund, du bist ja völlig pervers.“
19.2. 2014
Holthaus ist überall, irgendwie. Kommt der Neunjährige aus der Schule. „In Musik haben wir jetzt Mozart.“ -„Schön.“- „War der eigentlich Jude?“ – „Mozart? Wieso denn das jetzt?“ – „Weiß auch nicht. Die Frau B. hat gesagt, sie spielt uns was von Mozart vor. Hat sie getan. Und dann hat der J. [der Klassenproll, E.K.] gesagt: Ja, kennt er. Der ist in der Gaskammer verreckt, hat er gerufen.“ – „Und die Frau B.?“ – „Die hat gesagt, die Bemerkung sei daneben.“
J. ist daneben, so viel steht fest. „Der hat´s immer so mit Hitler“, sagt der Sohn. Woher aber diese Assoziation? Aus einer Ahnung heraus, daß das Gehörte schön war, irgendwie erhaben? Und daß das Schöne doch sämtlich in den Gaskammern endete? Woher hat er das?
20.1. 2014
Naja, Maxim Biller. Ich halte seine Schreibe in Kolumnen und Romanen („Der gebrauchte Jude“) für unausgegoren und unersprießlich, er hat halt sein Thema gefunden, Verlage und Leitmedien veröffentlichen ihn gern. Vielleicht wird er weniger gern gelesen, ich weiß es nicht. Sein jüngstes Buch steht bei amazon auf Platz 15.000. In der aktuellen ZEIT startet Biller eine Suada gegen die „unglaublich langweilige“ deutsche Gegenwartsliteratur.
Seit der Vertreibung der Juden aus der deutschen Literatur durch die Nationalsozialisten waren die deutschen Schriftsteller, Kritiker und Verleger jahrzehntelang fast nur noch unter sich,
schimpft Biller. Gerade die Abwesenheit „jüdischer Ruhestörer“ tue „unserer Literatur nicht gut“, sie sei dadurch immer “kraftloser und provinzieller“ geworden. Auch die Migranten hätten sich in ihrer Belletristik dem im „postnazistischen Deutschland“ angepaßt, es gäbe keine wahre Immigrantenliteratur. Die paar Dutzend erfolgreiche Autoren mit fernen Wurzeln (Marjana Gaponenko, Zsuza Bánk, Sasa Stanisic, Feridun Zaimoglu, Melinda Nadj Abonji, Selim Özdogan und ein paar Handvoll weitere) läßt Biller nicht gelten, denn die nutzten ja nicht ihre „Multilingualität und Fremdperspektive“. Er klagt:
Kritiker, aber auch Verleger, Lektoren und Buchhändler sind zu 90 Prozent Deutsche. Sie, als echte oder habituelle Christen, als Kinder der Suhrkamp-Kultur und Enkel von halbwegs umerzogenen Nazisoldaten, bestimmen, was gedruckt wird und wie, sie sagen, was bei Hugendubel, Thalia und Dussmann auf die alles entscheidenden Verkaufstische kommt, sie zahlen die Vorschüsse, sie verleihen die Preise, sie laden als Verleger zum Abendessen ein.
Soll man diese Sicht als Parallelwelt kennzeichnen oder benötigt man Termini aus der Psychiatrie?
21.1. 2014
Die zweitjüngste Tochter (7) sagt, die S. (eine Klassenkameradin) sei jetzt ihre Geheimfreundin. „Also, wir sind nur im Geheimen befreundet. S. sagt, wenn die L. erfährt, daß S. mit mir befreundet ist, dann ist die L. nicht mehr die Freundin von S.” Der Vater sagt: „Dann laß diese Freundschaft. Hast du nicht nötig.“ Ich hingegen rate zu. Ist nicht schön, aber so sind die Menschen. Als Verleger kennen wir das doch gut.
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@Enkel von halbwegs umerzogenen Nazisoldaten:
das geht immer und wird immer gehen, bis jene Enkel endlich anfangen darüber zu LACHEN.