die die Kinder zu Fuß oder mit dem Rad besuchen können. So kutscht man durch die Gegend, die eine zur Turnhalle, die andere zum Bahnhof, die nächste zur Musikschule und den jungen Herrn zum Fußballplatz. Dazwischen ist Zeit für Spaziergänge oder, sehr beliebt, zum Angucken der Waschstraße mit dem jüngsten, noch hobbylosen Familienmitglied.
Wir fahren an einem großen Banner vorbei: Spende Blut! Schenke Leben! Es wär mal eine Abwechslung zur Waschstraße. Die Kleinste hatte selbst mal Blutkonserven gebraucht. Man könnte sie zurückspenden, man ist ja nicht vom Stamme Nimm! Die vergangenen achtzehn Jahre hatte ich nie die Gelegenheit, Schwangere und Stillende dürfen nicht. Blut zu spenden ist keine große Sache. Wie ich nachgelesen habe, spenden in Deutschland 3% der Bürger gelegentlich Blut.
Ich fand es ergreifend, nicht meine bescheidene Tat, sondern dieses Kollektivgefühl. Die Leute stehen an! Alte und junge, meist schlichte Dorfbevölkerung. Ich denke oft schlecht über unseren bräsigen Landstrich. Gerade revidiere ich einen Teil. Die kriegen kein Geld dafür, und aus reiner Langeweile könnten sie auch andere Dinge tun. Eine besondere Aufwallung herrscht ja auch nicht, keine Flut, kein Kriegsbeginn, keine Epidemie.
Die Sache dauerte. Erst der Anamnesebogen, dann Ohrpieks und Fiebermessen beim Sanitäter, dann Arztgespräch, dann auf die Liege, immer mit Anstehen. Ich habe, weil´s eine spontane Aktion war, wenig getrunken und liege darum länger rum in der alten DDR-Turnhalle als meine Mitspender links und rechts. Die Tochter erschrickt über das dicke Ding, das mir in die Vene geschoben wird, es ist kein feines Nädelchen wie beim Arzt. Der junge Mann neben mir unternimmt wichtige Aktionen mit seinem Smartphone, die Frau neben mir sagt, es sei ihre 52. Spende.
Anschließend werde ich zu einem opulentem Buffet geladen, ich erhalte eine Primel und eine Aloe und als Erstspenderin einen Anstecker in Blutstropfenform sowie eine herzförmige Tupperware. Die Kleine bekommt massenweise Süßigkeiten zugesteckt und vertilgt alles sofort. Eigentlich ist ja Aschermittwoch, aber diesen Hinweis versteht hier niemand. Man lacht wie über einen anzüglichen Witz, ich gebe klein bei. Sowohl die Anamnesefrauen als auch der Arzt, der Sanitäter und die Bufettfrauen bedanken sich herzlich für meine Bereitschaft, es ist mir fast peinlich. Gerührt fahre ich abholen.
6.3. 2014
Unsere Kinder pflegen teilweise eine etwas altertümliche, vielleicht poetisierende Sprache. Mit der Einschulung ist das stets zu Teilen geschwunden, aber sie reden im Ernst von „speisen“ statt „essen“, sie sagen „gewaltig“ statt „groß“, und sie sprechen von „Gewand“ statt „Kleidung“. Vermutlich ist der Einfluß Kubitscheks schuld an der Wortwahl. Des weiteren pflegen wir dieses rückwärtsgewandte Faible, uns zu besonderen Anlässen besonders zu kleiden. In einem Landstrich ohne Bürgertum im bürgerlichen Sinne mag das eine affektierte Eigenart sein. Tochter: „Kein Mensch kleidet sich hier zur Zeugnisausgabe oder zum Streicher-Vorspiel festlich!“ – „Doch. Wir.“
Daß wir gern die kostengünstigen Schülerkonzerte im Leipziger Gewandhaus besuchen, hatte ich schon mal an dieser Stelle geschrieben. Heute wieder; für die große Tochter war´s eine Pflichtveranstaltung, für uns Eltern und die Kleinste reine Kür. Die Kleine durfte Samtkleidchen und Lackschuhe anziehen, sie wurde ganz feierlich in solchem Gewand. In ihrem Kopf ist die Verbindung zwischen „Gewand“ und „Gewandhaus“ präsent, und diese Differenzierung: daß es Klamotten gibt und Gewänder. Und daß es aber keineswegs Pflicht oder auch nur der Normalfall ist, im Gewandhaus ein Gewand zu tragen.
Interessanterweise enthielt die schülergerechte Einführung ins dargebotene Werk, Schostakowitschs 5. Symphonie, keinerlei aktuelle Bezüge. Dabei hatte der Komponist die Arbeit an dem Werk 1937 ausgerechnet auf der Krim begonnen. Es war die Zeit der stalinistischen Terrors, und der sich halb in Ungnade befindliche Schostakowitsch sollte mit seiner Symphonie beweisen, ob er noch „der Öffentlichkeit zugemutet“ werden könne. Er konnte. Das Stück wurde als Verherrlichung des Regimes bewertet, als Rückkehr des verlorenen Sohns unter die Fittiche der stalinistischen Kulturpolitik.
Der Komponist widersprach dem, vor allem der Deutung des letzten, triumphal lauten Satzes später vehement: „Was in der Fünften vorgeht, sollte meiner Meinung nach jedem klar sein. Der Jubel ist unter Drohungen erzwungen. […] So als schlage man uns mit einem Knüppel und verlange dazu: Jubeln sollt ihr! Jubeln sollt ihr! Und der geschlagene Mensch erhebt sich, kann sich kaum auf den Beinen halten. Geht, marschiert, murmelt vor sich hin: Jubeln sollen wir, jubeln sollen wir. Man muss schon ein kompletter Trottel sein, um das nicht zu hören.“
Pauken, Trommeln, Becken und Gong (letzter Satz!) gefielen unserer Jüngsten am besten.
Zwischen Kubitschek und mir gibt es seit je einen Dissens, was Kulturveranstaltungen im Beisein von kleinen Kindern betrifft. Kurz: Er ist dagegen. Er hat gute Gründe: Sie stören immer die eigene Konzentration und gefährden potentiell die Konzentration der anderen. Ich sehe das Problem, möchte die Kinder hingegen dabeihaben. Nicht, weil ich finde, die „Gesellschaft“ müsse aus Kinderfreundlichkeit auch mal Lärm im seriösen Betrieb ertragen, das auf keinen Fall. Ich war nie der „Mutter-mit-Kind-hat- Vorfahrt“-Typ, weit entfernt! Es sind zum einen egoistische Gründe. Wer ein, zwei Kinder hat, mag sich gern mal für eine Zeit bescheiden mit Ausflügen in die Hochkultur. Aber über einen Zeitraum von fast zwei Jahrzehnten? Nö!
Wesentlicher aber erscheint mir dies: Es gibt kaum einen besseren Erzieher als a) der sonntägliche Gottesdienst mit unhintergehbarem Stillsitzzwang und ohne Krabbelperspektive und b) die Heiligtümer der Hochkultur. Ein Kind, konfrontiert mit diesen mächtigen Autoritäten, kann nur gewinnen. Ja, für die Eltern ist es ein Ritt auf dem Vulkan. Man muß das aushalten: Daß die eigenen Hände zu Schraubzwingen werden, daß man streng flüsternd am Ohr des Kindes hängt statt hochkonzentriert zu folgen. Es ist kein purer Genuß. Ich bin in dieser Hinsicht schon zahlreiche Wagnisse eingegangen, nie mit Verlust (also mit zähneknirschender Flucht aus dem Raum), und ich behaupte: es zahlt sich aus. Ich erinnere mich noch gut an einen äußerst gewagten Konzertbesuch vor Jahren, es wurde Beethovens Eroica gegeben. Der Gatte hielt es für hirnrissig, die kleinen Kinder (paar Monate, drei und vier Jahre) mitzunehmen, ich ging im Streit, die Kleinen im Schlepptau. Die Einlaßdamen zeigten mir einen Vogel und warnten, „beim kleinsten Laut…!“ Es gab keinen Laut, nur eine nervlich strapazierte, dennoch glückliche Mutter. Das ist keine musikalische Früherziehung. Es sind Gehorsamsübungen. Diese Kinder sind mittlerweile groß. Sie wissen, wann man aufmucken darf/sollte und wann nicht.
7.3. 2014
Für mich war es nur eine Frage der Zeit, bis sie einen Grund finden, die Lewitscharoff an den Wickel zu kriegen. Alle Intellektuellen, die nicht ganz und gar zeitgemäß sind, sind früher oder später dran. Und bei dieser klugen Schriftstellerin fiel mir in letzter Zeit auf, wie beinahe vehement sie ihre Herkunft aus der ganz linken Ecke betonte. Als gäbe es da einen prophylaktischen Schutzwall aufzurichten!
Ich höre und lese eigentlich täglich irgendwelche Stellungnahmen linker Denker oder Künstler, die mir völlig verdreht, gemein und ja, krank vorkommen. Ich erinnere mich aber nicht, daß es da je irgendwelche nennenswerte Empörungs-Tsunamis gab. Gab es je in den vergangenen Jahren eine ähnliche wilde und vor allem eintönige Hatz gegen Linke, so wie es sie gegen Martin Hohman, gegen Eva Herman, gegen Sarrazin gegeben hat? Oder zweimal gegen Martin Mosebach, einmal wegen des Himmler/Saint-Just- Vergleichs, andermal wegen seines Blasphemie-Stücks? Ich habe Frau Lewitscharoffs inkriminierte Dresdener Rede über den Machbarkeitswahn bei Leben und Sterben ganz gelesen. Sie ist in großen Teilen sehr persönlich, fast intim. Lange Passagen handeln vom Tod ihr nah stehender Menschen, ihr Vater hat sich erhängt, als sie ein Kind war. Die zwei Stichworte, wegen denen der Schriftstellerin nun die Hölle heiß gemacht werden, lauten „Onanieverbot“ und „Retortenkinder als Mischwesen.“ Die Lewitscharoff sagte: „Die Vorstellung, daß ein Mann in eine Kabine geschickt wird, wo er, je nach Belieben, mit oder ohne Hilfe pornographischer Abbildungen, stimuliert wird, seine Spermien medizingerecht abzuliefern, die später in den Körper einer Frau praktiziert werden, ist mir nicht nur suspekt, ich finde sie absolut widerwärtig.“
Und später: „Grotesk wird es in inzwischen zahlreichen Fällen, in denen sich Frauen Spermien aus einem Katalog verschaffen, worin die Rasse und gewisse körperliche Merkmale und soziale Eigenschaften des anonymen Senders verzeichnet sind, oder in denen sich lesbische Paare ein Kind besorgen, indem entweder ein anonymer Spender oder ein naher Verwandter der Freundin der künftigen Mutter herangezogen wird, um sein Sperma abzuliefern.“ Auch die Leihmutterpraxis hält sie für „grauenerregend“, für „Fortpflanzungsgemurkse“, daß sie geneigt sei, „Kinder, die auf solch abartigen Wegen entstanden sind, als Halbwesen anzusehen. (…) Das ist gewiß ungerecht, weil es den Kindern etwas anlastet, wofür sie rein gar nichts können. Aber meine Abscheu ist in solchen Fällen stärker als die Vernunft.“
Nun schreien sie Zeter und Mordio wegen dieser von der Rednerin selbst als unvernünftig eingestandenen Rede. Gestern noch hat die Lewitscharoff ihre Rede verteidigt („Wenn Sie eine Rede schreiben, dann kommt Ihnen doch auch mal als Würzmittel ein scharfer Satz unter, um die Leute aufzuwecken“) und erneut betont, daß sie die reproduktive „Selbstermächtigung der Frau“ für eine „katastrophale Entwicklung“ hält. Heute hat sie sich im Fernsehen entschuldigt. Nutzt ihr gar nichts! Ich habe nur die ersten beiden Leserkommentarseiten auf spiegel-online gelesen. Anders als bei vormaligen Empörungsstürmen (Herman, Sarrazin) wird diesmal in einer einzigen Front gegen den Feind geschossen. Es gibt kein Halten, es darf beleidigend und dreckig zugehen. Einer, der sich Zaphod nennt, hält seine Worte zwar im Zaum, aber er meint:
Die zunehmende Präsenz der Rechtsintellektuellen in den Medien wird langsam zu viel. Obwohl weniger als 5 % der Bevölkerung rechtsintellektuell sind, werden diese Menschen andauernd in den Medien gepriesen und zu Talkshows eingeladen. Dort dürfen sie dann ihre schrillen Ansichten äußern, über die jeder normale Mensch nur seinen Kopf schütteln kann. (…)Fehlt nur noch, dass demnächst auch Profifußballer rechtsintellektuell werden. Dauernd fordern die Rechtsintellektuellen auch mehr Rechte, sie wollen immer krassere Meinungen äußern dürfen, obwohl das Grundgesetz sich ganz klar für die Gleichheit der Menschen und die Würde des Menschen ausgesprochen hat. Aber dies Regelungen wollen sie uminterpretieren und auf ihre Ideologie anpassen. Wir Normal-Bürger müssen aufpassen, dass wir nicht unter das Diktat der Rechtsintellektuellen kommen. Sonst sieht es schlecht aus um uns und um unsere Kinder!
Wir haben ja kein Fernsehen. Nur Radio und Blätter. Vermutlich darum ist mir der mediale Rechtsruck völlig entgangen.
8.3. 2014
Das Magazin der Süddeutschen Zeitung kommt diesmal als Heft über „bewundernswerte Frauen“ daher. Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig bewundert besonders Helena Angermaier, „die Frau, die Leben schenkte“. Frau Angermaier ist Herrin zehntausender Schöpfungsakte. Sie ist die leibhaftige Anti-Lewitscharoff. Angermaier hört am liebsten Wagner und meint, „vielleicht überträgt sich der Geist der Musik ein wenig auf die Embryonen“. Einmal hatte ihr ein Mann gleich drei Samenlieferungen an einem Tag übergeben. Bei der der Begutachtung der dritten Probe habe sie ihre „absolute Favoriten-Musik“ aufgelegt, und just beim Tristan-Akkord „sehe ich ein Spermium vorbeischwimmen, ein schönes obendrein!“ Das klingt natürlich wunderbar, fast göttlich und nicht so pervers wie Frau Lewitscharoffs Einlassungen. Frau Angermaier selbst wollte „nie ein Kind!“ Die Vorstellung einer Schwangerschaft war für sie „albtraumhaft“:
„Tausende Kinder im Labor zu zeugen ist mir lieber, als ein einziges zu haben. Ich sage das zuweilen auch ganz offen: dass mir Kinder am sympathischten vor dem fünften Lebenstag sind. Da kann ich sie in den Brutschrank stellen, und sie sind still.“
Empörung? Nicht dafür!
9.3. 2014
Wie in den vergangenen Jahren steht der März zwischen Frauentag und Equal-Pay-Day ganz im Zeichen der Frau als Opfer. (Eine Ausnahme mag unser Landkreis darstellen, hier hängen vielfältige „erotische“ Plakate mit Einladungen zu Stripshows. Am Frauentag lassen Männer die Hosen runter.) In Berlin hingegen fand gestern ein großangelegter Frauenkampftag statt:
„Dieses Jahr hat sich erstmals ein breites, bundesweites Bündnis aus Vertreter*innen verschiedenster Frauen*-, queerer und migrantischer Gruppen, Jugend- und Studierendenorganisationen, Gewerkschaften, Parteien und Initiativen unterschiedlicher Generationen und Hintergründe zusammengefunden, um gemeinsam zum Frauen*kampftag aufzurufen. Dabei geht es sowohl um noch immer aktuelle Forderungen wie equal pay, Gleichverteilung der Reproduktionsarbeit oder der Kampf gegen Alltagssexismus, als auch um die Kämpfe der women* of color sowie der queer‑, Trans*- und Inter*szene“
Anscheinend müssen sie das Kämpfen lernen, die Frauen und ihre bunte Anverwandtschaft. Sogar unsere biedere Lokalzeitung alarmiert: Jede dritte Frau in Europa hat schon einmal schwere Gewalt erlebt! Um genau zu sein: 35% der Frauen in Deutschland, 45% in den Niederlanden, 52% in Dänemark, 46% und 47% in Schweden und Finnland. Eventuell muß gelten: Je weißer, je nördlicher die Männer, desto gewalttätiger. In Spanien und Slowenien waren nur 22% der Damen Opfer von Männergewalt, in Polen gar nur 19%. Morten Kjaerum von der „Agentur der europäischen Union für Grundrechte“ zieht bedenkenswerte Schlüsse.
„Frauen sind nicht sicher – auf den Straßen, am Arbeitsplatz und schlussendlich auch nicht zu Hause.“
Die „Dunkelfeldstudie“, von der Emma als Meilenstein („größte Gewaltstudie der Welt“) gefeiert, befragte 42.000 Europäerinnen – auch über Erfahrungen mit psychischer Gewalt. Vorhin hörte ich im näheren Umfeld eine tiefe Stimme, die bedrohlich rief: „Mädels, wenn jetzt nicht Ruhe herrscht, dann setzt´s was“. Das war eindeutig psychisch. War es im Nachbarhaus? Wohin man schaut, hört: Gewalt gegen Frauen.
ch.
"und das auch alle Frauen im Kleide zu meiner Aufführung erscheinen, ja Mama"
- meine Tochter (4) gestern...