Ungeachtet der vielfach prämierten Verfilmung seines 2005 publizierten Romans No Country for Old Men (Kein Land für alte Männer, 2008) durch die Brüder Ethan und Joel Coen (2007) ist der Bekanntheitsgrad des US-amerikanischen Schriftstellers Cormac McCarthy in Deutschland noch gering.
Das muß bei einem Autor irritieren, dessen Roman Blood Meridian: Or the Evening Redness in the West (dt. Die Abendröte im Westen) zu den wichtigsten Büchern gezählt wird, die im 20. Jahrhundert in den USA publiziert wurden. Möglicherweise spielt seine Distanz zur Öffentlichkeit eine Rolle; McCarthy steht für Interviews oder »Presse-Events« nur selten zur Verfügung.
Einem größeren US-Publikum wurde der 1933 in Rhode Island geborene McCarthy mit seinem Roman All the Pretty horses (1992, dt. All die schönen Pferde) bekannt, dem ersten Teil seiner »Border-Trilogie«, die durch die Romane The Crossing (1994, dt. Grenzgänger) und Cities of the Plain (1998, dt. Land der Freien) abgeschlossen wurde. 2006 erhielt er für sein Werk The Road (2006, dt. Die Straße) den Pulitzer-Preis.
In einem seiner seltenen Interviews erklärte McCarthy, der im Juli dieses Jahres 80 Jahre alt wird, gegenüber der US-»Talkmasterin« Oprah Winfrey, daß er keine Schriftsteller kenne und den Umgang mit Wissenschaftlern vorziehe. Er betonte weiter, daß er einfache Aussagesätze (»simple declarative sentences«) präferiere und keine Anführungszeichen verwende; er wolle die Buchseiten nicht »mit verrückten kleinen Zeichen überstreuen« (»blot the page up with weird little marks«).
Der Fokus der Erzählungen McCarthys liegt häufig auf Protagonisten, die durch Extremsituationen in einen Ausnahmezustand gebracht werden. Dieser Ausnahmezustand indes eröffnet auch Spielräume, Freiheiten, und zwar sowohl im Guten als auch im Bösen. Das gilt insbesondere für McCarthys 1985 publizierten Roman Die Abendröte im Westen. In dem »Wilden Westen«, der hier entfaltet wird, finden sich keine edlen Indianer, »toughen« Desperados oder optimistischen Siedler, die sich anschicken, »God’s own country« zu einem besseren Platz für die Menschheit zu machen. Statt dessen bestimmen Skalpjäger und Indianerbanden das Bild, die mordend und skalpierend durch wüstes Land ziehen. Zweifelsohne löst das »Kakeidoskop« (von gr. kakós = schlecht) der »Bestialität des Menschen« (Ulrich Greiner in der Zeit, 2/1997), das McCarthy in diesem Buch entfaltet, dort Irritationen aus, wo das Gutsein des Menschen den Charakter einer nicht mehr zu hinterfragenden Gewißheit angenommen hat.
Leitmotivisch stehen dem Buch drei Zitate voran, darunter eines des deutschen Mystikers Jakob Böhme (1575–1624): »Und ist doch nicht also zu dencken, daß das Leben der Finsternüß also in ein Elend sincke, da sichs vergäße, als traurete es: Es ist kein Trauren. Denn die Traurigkeit ist ein Ding, das im Tode ersincket. So ist aber der Tod und das Sterben der Finsternüß Leben.« In der mythischen Schöpfungstheologie Böhmes erscheinen Gott und Teufel als Manifestationen eines Typus. In der dualistischen Perspektive Böhmes gibt es kein bewußtes Sein ohne Gegensatz. Dies gilt auch für Gott selbst, der eines »Gegenwurfs« bedürfe. Ohne diesen »Gegenwurf« gibt es keine Veränderung, keine Bewegung. Dieser Dualismus spiegelt sich auch im Menschen, in dem sich Himmel und Hölle befinden. Wenn der Mensch Gutes und Böses in sich findet, soll er begreifen, so Böhme, »daß solches alles von und aus GOtt [sic] selber herkomme, und daß es seines eigenen Wesens sey, das Er selber ist, und er selber aus sich also geschaffen habe: und gehöret das Böse zur Bildung und Beweglichkeit, und das Gute zur Liebe«. Böhmes Werke waren, da er das Böse als Teil der Schöpfung begriff, zu seinen Lebzeiten verboten. Bereits der Titel des Romans von McCarthy – Die Abendröte im Westen – dürfte eine Anspielung auf das Hauptwerk Böhmes, nämlich Aurora oder die Morgenröte im Aufgang (1612), sein.
Diese Böhme-Rezeption McCarthys hat sicherlich zu der These beigetragen, die beispielsweise der amerikanische Literaturprofessor Leo Daugherty vertritt: Der Autor habe hier eine »gnostische Tragödie« vorgelegt, in der dem Jungen die Rolle des »gefallenen Pneuma« zukomme und seinem Gegenpart, Richter Holden, die Rolle des »Archonten« (eine Emanation des Demiurgen, des Schöpfergottes). Diese Deutung indes krankt vor allem daran, daß der Junge keineswegs die Rolle des Guten spielt, sondern auch aktiv in Mord und Totschlag verstrickt ist. Schauplatz des Romans ist das texanische Grenzgebiet zu Mexiko nach dem Ende des Mexikanisch-Amerikanischen Krieges von 1846 bis 1848. Dieses Gebiet ist Tummelplatz diverser Banden, unter anderem von amerikanischen Skalp- und Kopfgeldjägern und Indianern. In den Fokus seiner Erzählung hat McCarthy einen Jungen gestellt, der sich zunächst mehr schlecht als recht als Dieb durchs Leben schlägt und Hunger und Durst leidet.
Dieser Junge, der vorerst nur als »Junge« bezeichnet wird, muß quasi von Anfang an, da in ärmliche Verhältnisse geboren, ums Überleben kämpfen und sich behaupten. Bereits der Beginn des Romans zeigt, daß McCarthy seinen Text als »Passionsgeschichte« angelegt hat, wie Hubert Spiegel in einer Rezension für die Frankfurter Allgemeine Zeitung (1. Oktober 1996) konstatiert. Der »namenlose Held« wird im »Ecce-Homo-Gestus« eingeführt: »Seht das Kind. Der Junge ist blaß und mager, trägt ein dünnes, zerschlissenes Leinenhemd … Nacht deiner Geburt.« Die Mutter starb bei der Geburt; der Vater, ein ehemaliger Lehrer, trinkt und zitiert »längst vergessene Dichter«.
Mit vierzehn Jahren kann der Junge zwar weder lesen noch schreiben, aber ein »Hang zu sinnloser Gewalt brütet bereits in ihm«. Er läuft von zu Hause fort und vagabundiert durchs Land; immer wieder sucht er Prügeleien. Nach einer schweren Verwundung durch zwei Schüsse – einer in den Rücken, einer unter das Herz – wird er von der Frau eines Gastwirtes gepflegt und zieht weiter nach Texas. Er schließt sich dort einer Gruppe von Freischärlern an, die von einem Captain White angeführt wird, der den Friedensvertrag zwischen Mexiko und den USA nicht akzeptieren will und den Krieg auf seine Weise fortzuführen gedenkt; vor allem geht es ihm darum, weiteres Land von Mexiko zu annektieren. Seine Bande als »Speerspitze der Freiheit« stilisierend, lockt er mit reichem materiellem Gewinn.
Unmittelbar vor Aufbruch in Richtung mexikanische Grenze treffen der Junge und zwei Mitglieder der Freischärler, die unterwegs sind, um Ausrüstungsgegenstände zu ergänzen, in einem Kaff namens Laredito auf einen Mennoniten, der ihnen rät, sich von Mexiko fernzuhalten. Warum, sagt er nicht. Nur kurze Zeit, nachdem sie die mexikanische Grenze passiert haben, konkretisiert sich der Grund dieser Warnung: Die Freischärler treffen auf eine Gruppe Komantschen-Krieger, die McCarthy wie Dürers »Apokalyptische Reiter« inszeniert. Am Ende stillt Staub »den Blutfluß aus den kahlen Schädeln der Skalpierten, die, mit ihren Haarfransen unter der Wunde, tonsuriert bis auf die Knochen, wie verstümmelte, nackte Mönche auf der blutprallen Erde lagen, überall stöhnten und röchelten Sterbende.«
Das Massaker überleben nur wenige; unter anderem der Junge und ein schwerverletzter Mitstreiter namens Sproule. Auf ihrer Flucht geraten sie in ein Dorf, das vorher von Indianern überfallen wurde. In der Kirche machen sie eine grausige Entdeckung: »Es gab keine Bänke; auf dem Steinboden stapelten sich die skalpierten und nackten, teilweise angefressenen Leiber von vierzig Menschen, die sich im Gotteshaus gegen die Heiden verbarrikadiert hatten … Dunkle Blutzungen bedeckten den Boden, Blut leckte über die Fliesen …« Sproule und der Junge ziehen weiter »durch eine terra damnata aus rauchender Schlacke«.
Der Junge stößt dann auf die Glanton-Bande, einer Gruppe von Mördern und Skalpjägern, der er sich anschließt. Die Bande hat mit einigen Ortsvorstehern einen Vertrag abgeschlossen, deren Städte oder Dörfer vor herumziehenden Indianern zu schützen. Eigentlicher Kopf dieser Bande ist nicht deren Führer John Glanton, sondern »Richter« Holden, ein etwa zwei Meter großer Albino, der völlig unberechenbar agiert. Auf der einen Seite ein emotionsloser Mörder, auf der anderen Seite ein Intellektueller, der neugierig die Natur erkundet und ständig Aufzeichnungen macht. Er zitiert Thales und Anaximander, beherrscht die deutsche Sprache und verficht die Meinung, daß Gewalt der Grund der menschlichen Natur sei.
Ben Tobin, Bandenmitglied und Ex-Priester, mit dem sich der Junge anfreundet, erzählt, wie die Bande auf der Flucht vor den Apachen mitten in der Wüste auf den Richter traf, wo er auf einem Felsbrocken saß und sie scheinbar erwartete. Richter Holden führte sie in eine Gegend mit Vulkangestein, das er, schamanengleich, pulverisiert zu Schießpulver anrührt – ein »Teufelskuchen«, mit dem die Indianer reihenweise niedergestreckt werden. Für Holden sind derartige Metzeleien nur Ausdruck der »natürlichsten Form der Auslese«, wie er es nennt: »Der Krieg stellt der Macht des einen die Macht des anderen gegenüber, gelenkt von einer höheren Macht, die die beiden vereint und daher genötigt ist, eine Auswahl zu treffen. Krieg ist das höchste, denn Krieg stiftet letztendlich die Einheit des Lebens. Krieg ist Gott.«
Nach Monaten des Umherziehens und Skalpierens überschreitet die Gang die Grenze zu den Vereinigten Staaten. Hier gelingt es ihnen, sich mit Hilfe von Yuma-Indianern eines Fährdienstes zu bemächtigen. Schließlich werden auch die Indianer aus dem Fährbetrieb gedrängt und zum Teil massakriert. Siedler, die die Fähre benutzen müssen, werden ausgeraubt oder zur Entrichtung von Wucherpreisen gezwungen. Die Yuma schließlich sind es, die dieses Spiel beenden, indem sie einen Großteil der Glanton-Bande umbringen. Einzig der Junge sowie die Bandenmitglieder Tobin und Toadvine, der Richter und ein Kretin, den Holden wie einen Haushund hält, können in die Wüste entkommen. Tobin und der Junge, beide verletzt, treffen dort auf Holden, der sie erst zu überreden versucht und dazu aufgefordert, dann aber bedroht, ihm eine Pistole und andere Besitztümer zu übergeben. Beiden gelingt es, Holden abzuschütteln, der sie aber wieder aufspürt und Tobin in den Rücken schießt. Dennoch gelingt es Tobin und dem Jungen zu entkommen. Obwohl sich dem Jungen in der Folge die Gelegenheit eröffnet, Holden zu erschießen, unterläßt er es, als sich ihre Wege kreuzen. Gerettet werden Tobin und der Junge von Indianern, die sie wieder gesundpflegen. Beiden gelingt es, sich nach San Diego durchzuschlagen.
Viele Jahre später stößt der Junge, der nun »der Mann« genannt wird, in Fort Griffin in Texas wieder auf Richter Holden, der ihn anspricht: »Außer dir und mir dürften wohl alle untergegangen sein.« Er sei von ihm, »damals wie heute«, enttäuscht. In seinem Herzen hätte er, der Mann, Barmherzigkeit für die Heiden bewahrt. Der Richter gibt ihm zu verstehen, daß er den Saloon betreten habe, um zu tanzen, und zwar den Tanz der Gewalt, des Krieges, des Blutvergießens:
»Wenn der Krieg nicht mehr in Ehren gehalten wird und seine Würde in Frage gestellt wird, sind die Redlichen, die die Heiligkeit des Blutes anerkennen, vom Tanz ausgeschlossen; da aber der Tanz die ureigene Sache des Kriegers ist, gerät der Tanz ohne ihn zu einem falschen Tanz …« Aussagen wie diese lassen Assoziationen mit Friedrich Nietzsches »Anmerkungen über die Natur des Tanzes« in der Fröhlichen Wissenschaft [2. Buch, 84. Aphorismus] aufkommen, in denen davon die Rede ist, daß »längst bevor es Philosophen« gab, man der »Musik die Kraft zu[gestand], die Affekte zu entladen, die Seele zu reinigen, die ferocia animi [Wildheit der Seele] zu mildern, und zwar gerade durch das Rhythmische in der Musik. Wenn die richtige Spannung und Harmonie der Seele verlorengegangen war, mußte man tanzen … das war das Rezept dieser Heilkunst … mit ihr nahm man auch die wildgewordenen rachsüchtigen Götter in Kur. Zuerst dadurch, daß man den Taumel und die Ausgelassenheit ihrer Affekte aufs Höchste trieb, also den Rasenden toll, den Rachsüchtigen rachetrunken machte – alle orgiastischen Kulte wollen die ferocia einer Gottheit auf einmal entladen und zur Orgie machen, damit sie hinterher sich freier und ruhiger fühle und den Menschen in Ruhe lasse.« Holden indes bleibt bei der ferocia animi stehen: »Nur wer sich dem Blut des Krieges vollständig ergeben hat«, so der Richter, »wer am Boden der Hölle gelegen, das Grauen ringsum gesehen und schließlich begriffen hat, daß dies alles zutiefst seine Seele anspricht, nur der kann wirklich tanzen.«
Mancher Kritiker meinte, in Aussagen wie diesen Anklänge an Ernst Jünger herauslesen zu können. In der Tat drängen sich hier beispielsweise bestimmte Passagen aus Jüngers 1922 publizierter Schrift Der Kampf als inneres Erlebnis auf, in der davon die Rede ist, daß der Krieg dem Kämpfer »den Stempel des Tierischen« aufdrückt, ihn ins »Gemetzel«, in »Orgien der Wut« treibt. Bezeichnenderweise beginnt Jüngers Buch mit einem Kapitel über »Blut«; Jünger-Biograph Helmuth Kiesel vermerkt hierzu, daß im »Blut« die »tierische und frühmenschlich wilde Erbschaft des heutigen Menschen« stecke; in ihm seien immer noch »›Blutdurst‹ und Vernichtungslust«. Jünger schreibt: Im Krieg »schäume [das Blut = die menschliche Natur] auf« und lasse vom »Grunde der Seele« »das Tier« aufsteigen.
McCarthys Roman endet bezeichnenderweise auf dem Abort, wo der Richter den Jungen/den Mann umbringt – zumindest legt McCarthy das nahe. Die letzten Worte des Richters an die Adresse des Jungen lauten: »Auf der Bühne ist nur Platz für ein einziges Tier. Die übrigen müssen zurück in die Nacht, in die ewige, anonyme Nacht. Nacheinander steigen sie hinab ins Dunkel hinter dem Rampenlicht.« An dieser Stelle wird deutlich, wie McCarthy seinen Roman gelesen haben will, nämlich als eine Art Totentanz, der die überragende Gewalt des Todes zum Ausdruck bringen will. Der mittelalterliche Todestanz war ein Reflex auf den Eindruck des Massensterbens an der Pest Mitte des 14. Jahrhunderts. Er nahm volkstümliche Vorstellungen vom nächtlichen Tanz der Toten als Fegefeuerqual auf und stellt tanzende Tote oder den Tanz von Toten und Sterbenden dar. Daß Richter Holden – Richter über Leben und Tod – stellvertretend für den »großen Gleichmacher« Tod steht, daran kann am Ende des Romans kein Zweifel mehr bestehen: »Er [der Richter] schwenkt den Hut … er wirbelt herum … Seine Füße bewegen sich leicht und behende. Er schläft nie. Er sagt, er wird niemals sterben. Er tanzt im Licht und im Schatten … Er tanzt und tanzt. Er sagt, er wird niemals sterben.«
Legt man einen der Ansätze zugrunde, von denen der Literaturwissenschaftler Peter-André Alt ausgeht, nämlich daß sich die »Ästhetik des Bösen« jenseits aller Werte offenbare, dann hat McCarthy mit seiner Abendröte ein Stück unmoralischer Literatur vorgelegt, deren Tiefenauslotung menschlicher Möglichkeiten in der moderneren Literatur ihresgleichen sucht.