Man sprach über die von Afghanistan ausgehende terroristische Bedrohung. Um die Mittagszeit des folgenden Tages wurde der General vom amerikanischen Vizeaußenminister Richard Armitage zu einem Gespräch einbestellt, das kurz und intensiv verlief. Pakistan habe keine andere Wahl, als den USA im Kampf gegen Al Kaida zu helfen – andernfalls würde es »in die Steinzeit zurückgebombt« werden. Mahmud wollte über die Geschichte der Beziehungen Pakistans zu den USA sprechen, aber Armitage unterbrach ihn: »Ich kenne die Geschichte Pakistans sehr gut, General, aber wir sprechen über die Zukunft, und für Sie und uns beginnt die Geschichte heute. – Das war das Ende der Begegnung«.
»History starts now« – geschichtsbewußte und ‑belastete Europäer hätten diese Worte vermutlich als kurios empfunden und aus ihnen nur die nervliche Belastung eines temperamentvollen Politikers zu Zeiten einer nationalen Krise herausgehört. Auch als Präsident George W. Bush am 14. September 2001 in einer Rede an die Nation verkündete, es sei nun die Aufgabe Amerikas, die Welt vom Bösen zu befreien (»to rid the world of evil«), mochte man dies wohl der Stimmungslage, drei Tage nach den Terrorattacken, zuschreiben.
In Wirklichkeit tat sich hier ein Abgrund gegenseitigen Mißverstehens zwischen Europa und Amerika auf. Mit Folgen: Schon bald machte sich die Bush-Regierung nämlich eine »demokratische Domino-Theorie« aus den 1980er Jahren zu eigen. Die gesamte islamisch geprägte Region von Marokko bis Pakistan (»Greater Middle East«) sollte nach amerikanischen Vorstellungen von Freiheit und Demokratie umgeformt werden. Der von der Tyrannei befreite und demokratisierte Irak sollte dabei gleichsam alle anderen islamischen Länder nach sich ziehen.
Amerika als die außerordentliche Nation, die beauftragt sei, eine Weltordnung herbeizuführen, mit der die Geschichte neu beginne, für die die Vergangenheit keine Rolle spiele – diese Vorstellung findet man auch in einem Aufsatz, den Condoleezza Rice im Jahre 2008 in der Zeitschrift Foreign Affairs veröffentlichte. Die Noch-Außenministerin tritt in diesem politischen Testament mit Entschiedenheit für Amerikas Recht und Pflicht ein, den Rest der Welt so umzugestalten, daß die Sicherheit der USA garantiert werde. »Wir leben in der Zukunft, nicht in der Vergangenheit. Wir halten uns nicht lange mit unserer Geschichte auf«. Rices »einzigartiger amerikanischer Realismus« ist – wie schon der Untertitel des Aufsatzes sagt – für eine »neue Welt« gedacht: eine Welt nach amerikanischem Vorbild. Macht und Wertekodex werden miteinander verknüpft, um eine internationale Ordnung zu schaffen, die von amerikanischen Werten durchdrungen ist. Das langfristige nationale Interesse der USA könne auf diese Weise am besten geschützt werden. Mit diesem Credo artikuliert Rice die Überzeugungen jener politischen Bewegung, die – völlig zu Unrecht – »neokonservativ« genannt wird: Nach Ansicht von Autoren wie Andrew Bacevich, William Pfaff und Olivier Roy sei sie wegen ihres missionarischen Eifers bei der Schaffung einer einheitlichen »Neuen Welt« eher auf seiten der Linken zu verordnen.
Unbestreitbar befinden sich die USA seit Beginn der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts in einer ökonomischen Abwärtsspirale. Am Ende des Zweiten Weltkrieges verfügten sie über etwa zwei Drittel der Welt-Goldreserven, ihre Exporte waren mehr als doppelt so hoch wie die Importe. Die Wende zur Destabilisierung der Wirtschaft trat zwischen 1965 und 1973 ein. Ein Faktor war die Höhe der Kosten für den Vietnamkrieg, der andere die zunehmende Nachfrage nach billigem Benzin, die die USA durch Eigenproduktion nicht mehr decken konnten. Dadurch wurden die Vereinigten Staaten immer mehr in den Bannkreis der erdölproduzierenden islamischen Staatenwelt gezogen. Die Folgen sind bekannt.
Doch jene Kritiker, die hinter dem amerikanischen Dominanzstreben nur wirtschaftliche Interessen sehen, machen es sich zu leicht. Das amerikanische Sendungsbewußtsein ist viel älter als die Abhängigkeit vom Erdöl Saudi-Arabiens und des Persischen Golfes. Politiker wie George W. Bush, Paul Wolfowitz, Richard Perle, Richard Armitage und ihre publizistischen Mitstreiter wie Robert Kagan und William Kristol sind auch keineswegs Exoten oder Sektierer im amerikanischen Politikbetrieb der neuesten Zeit; in ihren Worten und Taten tritt nur eine Tendenz besonders deutlich zutage, die die amerikanische Befindlichkeit prägt, seit Angloamerika die Bühne der Geschichte betreten hat. Es wäre eine verkürzte und daher vulgärmaterialistisch verfälschende Sicht der Dinge, den Einfluß von Ideen auf das Handeln geringzuschätzen, denn auch pure ökonomische Fakten gewinnen erst durch Ideen ihre handlungsleitende Bedeutung: Nahöstliches Erdöl ist für die Amerikaner im Grunde amerikanisches Erbteil, da Amerika zur Durchführung seiner Weltmission darauf angewiesen sei.
Thomas Paine, der Ideologe der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung, schrieb in seinem Traktat Common Sense (1776): »Wir sind dazu aufgerufen, und die Gelegenheit ist nun vorhanden, die edelste und makelloseste Verfassung auf dem Antlitz der Erde zu schaffen. Es steht in unserer Macht, die Welt neu zu beginnen. Seit den Tagen Noahs gab es keine Lage mehr, die der heutigen gleicht. Die Geburt einer neuen Welt steht bevor«. Wir können die Welt von vorne beginnen: Die Gründung der Vereinigten Staaten von Amerika entspricht der Neuerschaffung der Welt nach der Sintflut; durch sie wird der Bund Gottes mit der Menschheit auf ein neues Fundament gestellt. Amerika wird in eine Heilsgeschichte eingerückt, die das Gestern in die Bedeutungslosigkeit verweist. Was zählt die Geschichte, wenn die eigentliche, wahre, Neue Welt vor uns liegt? Paine knüpft aber nur an ein älteres Vorbild an, denn Amerikas »Mission«, die Welt durch sein »auserwähltes Volk«, das amerikanische, zu erneuern, hatte schon John Winthrop in seiner Predigt »A Model of Christian Charity« im Jahre 1630 verkündet. Winthrop nahm sich einen Vers aus der »Bergpredigt« zum Vorbild: »Ihr seid das Licht der Welt. Es kann die Stadt, die auf einem Berge liegt, nicht verborgen sein«. (Mt. 5,14) Die Siedler der Massachusetts Bay sollten eine »Stadt auf dem Berge« errichten, der ganzen Welt zum Zeichen und Vorbild.
Das Selbstbewußtsein des amerikanischen Volkes, das sich aus der Gewißheit speist, mit einer besonderen heilbringenden Mission beauftragt zu sein, findet in der Metapher der »City upon a Hill« beredten Ausdruck. Ronald Reagan, der viel zu lange, namentlich in Deutschland, unterschätzte geniale Kommunikator, machte immer wieder erfolgreich von ihr Gebrauch. »Er strahlt Zuversicht« aus, lauteten die oft hymnischen amerikanischen Pressekommentare zu seinem Amtsantritt als 40. amerikanischer Präsident. Die Vereinigten Staaten sind auch noch heute, »so wie sie es immer waren, im tiefsten Sinne ein unverbesserlich christliches Land«, urteilt daher der Historiker Bacevich. Sogar Amerikaner, denen diese Zusammenhänge nicht mehr bewußt sind oder die die christlichen Grundlagen des modernen amerikanischen Selbstverständnisses ablehnen, sind von der historischen Ausnahmerolle der USA überzeugt. Der wohlbekannte Ruf »Yes, we can« Präsident Barack Obamas hat hier seinen Ursprung, er markiert einen Code, der tief im amerikanischen Bewußtsein wurzelt. Diese Worte hätte man auch einem Ronald Reagan abgenommen.
Die Überzeugung von der amerikanischen Auserwähltheit fand in der griffigen Formel »Manifest Destiny« (offenbare Bestimmung) ihren Niederschlag. Sie wird auf den seinerzeit einflußreichen Journalisten John O’Sullivan zurückgeführt, der in einem Aufsatz aus dem Jahre 1839 mit dem programmatischen Titel »The Great Nation of Futurity« mit eindringlichen Worten die Bestimmung der USA als Land der Zukunft beschwor, dessen Mission die Errichtung einer neuen politischen Ordnung sei, die auf dem universellen Prinzip der Gleichheit der Menschen beruht. Die Vergangenheit anderer Länder habe keine Bedeutung für diese neue Nation, sie biete dem amerikanischen Volk nur abschreckende Beispiele. O’Sullivan war auch ein entschiedener Befürworter der Annexion von Texas. In einer Veröffentlichung von 1845 begründete er diese Annexion mit der »offenbaren Bestimmung« der USA, den ihr von der Vorsehung zugewiesenen Kontinent mit ihrer jährlich anwachsenden Millionenbevölkerung zu füllen.
Bei O’Sullivan verbindet sich die Überzeugung von Amerikas »offenbarer Bestimmung« mit einer weiteren für das amerikanische Selbstkonzept prägenden Vorstellung, die der Historiker Frederick Jackson Turner 1893 in seiner Schrift The Frontier in American History herauspräpariert hat: Die egalitäre, demokratische, freiheitliche Gesinnung der Amerikaner, die Neuerungsbereitschaft und der aggressive Zug ihres Nationalcharakters beruhten auf ihrer fortschrittlichen Mission, die Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation immer weiter nach Westen voranzutreiben. Die Vermählung von »Manfest Destiny« und Fortschritt kommt sehr prägnant in dem allegorischen Gemälde »American Progress« von John Gast (ca. 1872) zum Ausdruck, in dem die Dame Columbia auf ihrem Weg nach Westen Indianer und wilde Tiere vor sich hertreibt, um für Siedler, Eisenbahnen und Telegraphendrähte Platz zu schaffen.
Unter den Präsidenten Theodore Roosevelt und Woodrow Wilson nahm die Leitidee des »Manifest Destiny« jene machtpolitisch wirksame Form an, die sie noch heute besitzt. Nicht mehr territoriale Expansion war nun das Ziel, sondern weltweite Dominanz, ein Anspruch, dem notfalls auch durch militärische Intervention Geltung zu verschaffen ist. Roosevelt nahm für die USA das Recht in Anspruch, als »internationale Polizeitruppe« aufzutreten, um ihre Interessen in der westlichen Hemisphäre zu schützen. Wilson ging in seiner Rede vor dem Kongreß am 2. April 1917 ein Stück weiter: »The world must be made safe for democracy«. Den USA falle in diesem weltweiten Kampf die Rolle eines »Streiters für die Rechte der Menschheit« zu. In diesem Sinne rief Henry R. Luce, der einflußreiche Verleger und u.a. Gründer der Zeitschriften Time und Life, im Jahre 1941 das »amerikanische Jahrhundert« aus, in dem den Vereinigten Staaten, dem »Guten Samariter der ganzen Welt«, die Aufgabe zufällt, überall die Hungernden und Verzweifelten zu nähren und aufzurichten. Diesem Unterfangen, so Luce, sei aber nur dann dauerhafter Erfolg beschieden, wenn Amerika zugleich seinen Idealen – Freiheitsliebe, Chancengleichheit, Selbstvertrauen, Gerechtigkeit, Wahrheitsliebe, freie Marktwirtschaft, Fortschritt – weltweit Geltung verschaffte. Nur in solch einer, nach amerikanischem Vorbild geformten Welt könnten auch die Vereinigten Staaten auf Dauer bestehen.
Der konservative Geschichtsprofessor, Militarismus-Kritiker, Vietnam-Veteran und Ex-Oberst der US-Armee, Andrew J. Bacevich, hat in seinem Buch mit dem doppeldeutigen Titel Washington Rules die »Regeln« nach denen Washington heute glaubt, die Welt regieren zu müssen, in kritischer Absicht auf den Punkt gebracht: Es sei Aufgabe der Vereinigten Staaten (und nur der Vereinigten Staaten), die Welt zu führen, zu retten, zu befreien und sie schließlich umzugestalten. Um so den Weltfrieden und die Weltordnung nach amerikanischem Vorbild zu gewährleisten, müssen die USA globale militärische Präsenz zeigen, ihre Streitkräfte auf globale Machtprojektion ausrichten und bestehenden oder vermuteten Bedrohungen durch eine Politik des globalen Interventionismus begegnen.
Diese »Mission« schlägt sich in den Militärausgaben nieder: Im Dezember 2009 genehmigte der Kongreß der USA Militärausgaben in Höhe von 636 Milliarden Dollar. In diesen bereitgestellten Mitteln sind die Ausgaben für das Nuklearprogramm sowie die Leistungen für Veteranen und Geheimdienstoperationen noch nicht eingerechnet, so daß der Militärhaushalt für 2010 – konservativ geschätzt – etwa 700 Milliarden Dollar betrug. Die USA geben damit derzeit mehr für ihr Militär aus, als alle anderen Staaten der Welt zusammen. Die von Präsident Obama angekündigten »Kürzungen« reduzieren diesen enormen Militärhaushalt nicht substantiell. Etwa 300000 Soldaten waren ferner gegen Ende der ersten Dekade dieses Jahrhunderts außerhalb der USA stationiert, nicht eingerechnet die ca. 90000 Seeleute und Marineinfanteristen auf See. Der ganze Erdball ist in »Unified Combatant Commands« (UCC) eingeteilt, in regionale Einsatzkommandos mit vereinigten Kompetenzen, in denen jeweils mehrere Teilstreitkräfte die weltweite militärische Präsenz der USA in ihren Verantwortungsbereichen organisatorisch umsetzen. Jedes dieser sechs Einsatzkommandos wird von einem Viersternegeneral oder Admiral geleitet.
Europäer, denen angesichts dieser Fakten schwindelig wird, sollten ihre Hoffnungen nicht auf Regierungswechsel in den USA setzen. In Verteidigungsfragen muß sich die Demokratische Partei wie die Republikaner geben, heißt es. Die USA besitzen nicht nur in dieser Frage im Grunde genommen ein Einparteiensystem, wie Noam Chomsky illusionslos darlegt. Der machtpolitische Konsens ist überparteilich. Nur realitätsblinde Idealisten können sich darüber im Irrtum befinden, wie beispielsweise Deutschlands unpolitische Massen, die seinerzeit Barack Obama, vor dessen Amtsantritt, zu Hunderttausenden in Berlin zugejubelt hatten, oder die berauschten Mitglieder des norwegischen Friedensnobelpreiskomitees, die ihm in seinem ersten Amtsjahr den Friedensnobelpreis verliehen. Obama hat sich längst in den Fallstricken des Bush-Krieges verheddert.
Wo bleibt bei alledem Europa? Was hat Europa dem Anspruch der USA entgegenzusetzen, die »einzige Weltmacht« zu sein? Wenig bis nichts, meint der Historiker und Publizist Robert Kagan, ein einflußreicher intellektueller Stichwortgeber der »Neocons«. In seinem Traktat Of Paradise and Power hält er den Europäern den Spiegel vor. Höflich-distanziert, aber in aller Deutlichkeit weist er sie auf ihre Machtlosigkeit hin, für die nicht zuletzt ihre militärische Schwäche verantwortlich ist. Europäer, meint Kagan, lebten in einem »postmodernen Paradies«. Ohne entsprechende militärische Stärke könne Europa sein ökonomisches Gewicht nicht in politische Stärke umsetzen. Dabei hält Kagan den Europäern zugleich vor Augen, daß sich ihr »Paradies« nur unter dem militärischen Schutzschirm der Amerikaner während des Kalten Krieges entwickeln konnte.
Die Antwort auf Kagans Diagnose wäre eine starke militärische Aufrüstung der europäischen Staaten, in Verbindung mit der Schaffung einer effektiven transnationalen europäischen Verteidigungsstruktur – nicht, um unbedingt Waffen zum Einsatz zu bringen, sondern um der eigenen Stimme, allein durch Existenz einer starken Armee, Gewicht und Respekt zu verschaffen. Nach Aufrüstung sieht es aber in Europa nicht aus, im Gegenteil. So wird es wohl das Schicksal der verbleibenden europäischen Restarmeen sein, Washington bei der Durchsetzung seiner globalen Mission weiterhin an überseeischen Schauplätzen Hilfsdienste zu leisten. Im Berliner Politiker-Neusprech heißt das freilich: »Mehr Verantwortung übernehmen«.