Europäische Spitzenpolitiker werfen Cameron nun vor, er betreibe ein »Rosinenpicken« um Ausnahmeregelungen für den Inselstaat. Tatsächlich liegen sie mit dieser Einschätzung nicht daneben. Cameron hat bisher keinen Plan für ein freieres, unbürokratisches Europa und die Neuordnung des Verhältnisses zwischen Nationalstaat und Europäischer Union erkennen lassen. So sehr also das Vorhaben einer Volksabstimmung zu begrüßen ist, so sehr fehlt auf der anderen Seite eine charismatische Figur, die über die Frage »EU – ja oder nein?« hinaus eine politische Vision für die eigene Nation und Europa entwerfen könnte. Gleichermaßen verhält es sich in den Niederlanden: Ministerpräsident Mark Rutte fordert zu Recht, daß jeder Mitgliedstaat jederzeit einzelne EU-Institutionen verlassen können müsse. Er reagiert damit auf eine wachsende Skepsis seiner Landsleute gegenüber dem Staatenbund und seiner Gemeinschaftswährung. Eine Vision für Europa kann aber auch er nicht bieten, weshalb dessen Forderung im Feilschen um Vertragsdetails enden wird.
Der derzeitige Irrweg der Europäischen Union bedarf jedoch einer grundsätzlichen Korrektur. Es geht zunächst um das Fundament. Der britische Historiker Edward Gibbon (1737–1794) hat dazu in seinem Monumentalwerk Geschichte des Verfalles und Unterganges des römischen Weltreiches den Nagel auf den Kopf getroffen: »Es ist die Pflicht eines Patrioten, das ausschließliche Interesse und den Ruhm seines Vaterlandes vorzuziehen und zu befördern; ein Philosoph aber darf seine Blicke erweitern und Europa als eine große Republik betrachten, deren verschiedene Bewohner fast dieselbe Höhe der Gesittung und Kultur erreicht haben. Das Gleichgewicht wird fortfahren zu schwanken, und der Wohlstand unseres eigenen wie der benachbarten Königreiche mag abwechselnd gehoben oder herabgedrückt werden: aber diese vereinzelten Ereignisse können unserem allgemeinen Glückszustande, dem Systeme der Künste, Gesetze und Sitten, welches die Europäer und ihre Kolonien so vorteilhaft von dem übrigen Menschengeschlechte unterscheidet, keinen wesentlichen Abbruch tun.«
Nur wenn sich Europa auf diese Selbstverständlichkeit besinnt, kann es einen eigenen Weg in der Welt einschlagen und der postdemokratischen Globalisierung etwas entgegensetzen. In Asien entstehen derzeit politisch-ökonomische Gebilde, deren Effizienz schwer zu übertreffen sein wird. Es handelt sich dabei um Formen des Staatskapitalismus, die auf Schnelligkeit setzen und erkannt haben, daß Demokratie und Freiheit die Motorleistung der Wirtschaft verringern. Wenn auch zögerlich, so hat Europa diesen Weg doch ebenfalls eingeschlagen und gibt so seine Einzigartigkeit zugunsten einer ökonomisch begründeten »Alternativlosigkeit« auf. Europa folgt damit zum einen angeblichen Notwendigkeiten, um wettbewerbsfähig zu bleiben, zum anderen einem jahrhundertealten Impuls.
Der tschechische Husserl- und Heidegger-Schüler Jan Patočka (1907–1977) hat in seinem hervorragenden Essay »Europa und das Europäische Erbe bis zum Ende des 19. Jahrhunderts« beschrieben, wie früh und folgenreich das Abendland seinen einzigartigen Geist wirtschaftlichen Vorteilen geopfert habe. Er meint, daß im 16. Jahrhundert »die Sorge zu haben, die Sorge um die äußere Welt und ihre Beherrschung« gegenüber der »Sorge um die Seele, die Sorge zu sein«, dominant geworden sei. Europa habe im Kampf gegen den Islam immer wieder zu einer Einheit gefunden, seinen Lebensstil aber an jenem Punkt verloren, wo aus der Verteidigung ein Expansionsbestreben wurde. »Seither gibt es für das expandierende Europa kein universales Band, keine universale Idee mehr, die sich in einer konkreten und tatkräftig einigenden Institution und Autorität verkörpern könnte. Das Primat des Habens vor dem des Seins schließt Einheit und Universalität aus, und vergeblich sind alle Versuche, beide durch die Hegemonie der Macht zu ersetzen.«
Mit seinem Lehrer Edmund Husserl beharrt Patočka darauf, daß es eine »Kultur der Einsicht« sei, die Europa im Inneren stark gemacht habe. Europa müsse sich darum bemühen, eine »Gemeinde der Gerechtigkeit und Wahrheit« zu sein. Gerade in der Aufklärung sieht er diese Ideale nicht verwirklicht. Vielmehr sei ihr tiefgreifendstes Produkt der Aufstieg der modernen Wissenschaft, die Wissen in Wert umwandeln möchte. Im Verbund hätten so Aufklärung, Wissenschaft, Technik und die »partikularistische Realität des Nationalstaates« zu einem falschen Selbstvertrauen geführt, das seinen eigentlichen Boden bereits verloren hatte. Auch Edmund Burke war der Meinung, daß die europäische Einzigartigkeit in anderen Eigenschaften als der Expansionskraft und dem Geist der Aufklärung liege. Er sah sie in der Verknüpfung von ritterlicher Haltung und religiösem Geist. Friedrich Schiller bringt einen weiteren Aspekt ins Spiel, wenn er auf das Zusammenspiel von Realismus und Idealismus »in einer menschlich schönen Form« hinweist. Es sind die Gegensätze, die Europa dynamisch machen: Nord-Süd, Ost-West, Romantik-Klassik, antik-modern, kämpferisch-innerlich sowie christlich-hellenistisch.
Gegenwärtig nimmt dagegen die »Sorge zu haben« von Tag zu Tag groteskere Züge an. Sie geht einher mit falschem Selbstvertrauen und – in psychopathologischer Form – mit einem Haß auf das Eigene. Die ökonomische Seite dieser Medaille ist die zwanghafte Rettung der eigenen Gemeinschaftswährung Euro sowie insolventer Staaten und Banken. Die politische Seite betrifft die Vorstellung, an der Seite der Vereinigten Staaten die ganze Welt mit der Ideologie der Menschenrechte versorgen zu müssen. Folgerichtig bemerkt Jürgen Habermas in seinem Essay Zur Verfassung Europas, die europäische Einigung sei nur ein Zwischenziel auf dem Weg zu einer »globalen Verfassungsordnung« für eine »multikulturelle Weltgesellschaft«.
Diese Weltgesellschaft soll auf Basis der Menschenrechte funktionieren, die von einem Weltparlament mit »geteilter« Souveränität zwischen Bürgern und Staaten regiert werden könne. Im Klartext heißt dies, daß Europa nur so lange existieren solle, wie es an seiner Selbstabschaffung arbeite. Das langfristige Ziel der EU müsse ein utopischer Weltstaat sein. Zu dieser Forderung kommt Habermas nur, weil er an die Gleichheit der Menschen glaubt und annimmt, ihr Vernunftdenken sei darauf ausgerichtet, irgendwann die zivilisierende Kraft der Demokratie zu begreifen. Die politische Realität sieht jedoch anders aus: Gegen die Hoffnung von Habermas sprechen nicht nur die »youth bulges« im islamischen Raum und Afrika, die politische Architektonik der asiatischen Staaten, sondern auch die Erfahrungen in Europa, wie verheerend sich die Ideen von 1789 im Massenzeitalter auswirken können – zumal, wenn sie in imperialem Ausmaß Anwendung finden sollen.
Dennoch würde es nicht dem Wesen des Europäers entsprechen, auf diese Herausforderung einfach mit einem Rückzug ins Private, Provinzialismus und der »Entdeckung der Langsamkeit« (Sten Nadolny) zu antworten. Wenn selbst die kulturellen Selbsthasser nicht aus ihrer Haut können und ihre Ideologie im Weltmaßstab – notfalls sogar mit militärischer Hilfe – umsetzen wollen, dann ist dies der beste Beweis für den altbekannten Geltungsdrang, der Europa über Jahrhunderte stark gemacht hat und der nun als destruktive Kraft wirkt. Die Frage muß also lauten, wer in der Lage sein könnte, die »Sorge um die Seele, die Sorge zu sein« mit positiver Energie zu füllen. Es wäre einerseits fatal, würde sich diese »Sorge zu sein« auf Selbstreflexion und eine ewige Sinnsuche beschränken. Andererseits sind die orgiastischen Exzesse des 20. Jahrhunderts noch immer ein mahnendes Trauma, und kein Europäer kann es wagen, große Entwürfe öffentlich und selbstbewußt zu vertreten. Es spricht viel dafür, daß diese Handlungshemmung langfristig zum Untergang der abendländischen Kultur führt, aber es wäre in jedem Fall der falsche Weg, sich damit frühzeitig abzufinden.
Der spanische Philosoph José Ortega y Gasset hat deshalb am Ende seines in Deutschland wohl bekanntesten Werkes, Der Aufstand der Massen, ein neues Lebensprogramm durch die Schöpfung eines europäischen Nationalstaates gefordert, der aus freiem Entschluß der Völker entstehen müsse. Ortega y Gasset geht in dem 1929 erstmals erschienenen Buch von einer chaotischen Herrschaftssituation aus. Seitdem »die europäischen Gebote nicht mehr gelten«, hätte die Menschheit einfach ohne Gebote weitergelebt. Er vertritt also die Ansicht, niemand außer den Europäern selbst sei in der Lage, das Sinnvakuum auf der Welt zu füllen. »Gewöhnt sich der Europäer daran, daß er nicht gebietet, so werden anderthalb Generationen genügen, damit der alte Kontinent und nach ihm die ganze Welt in sittliche Trägheit, geistige Unfruchtbarkeit und allgemeine Barbarei versinkt«, so Ortega y Gasset.
Diese Trägheit werde durch die zu klein gewordenen europäischen Staaten begünstigt. Die Europäer könnten aber nur leben, »wenn sie in eine große gemeinsame Aufgabe hineingestellt sind«. Aus heutiger Sicht kann diese große Aufgabe nur darin bestehen, der Welt zu beweisen, daß ein Leben in christlicher Verantwortlichkeit, regionaler und nationaler Vielfalt sowie dem Streben nach Wahrheit und Gerechtigkeit auch jetzt noch allen anderen Lebensprogrammen überlegen ist. Europa mag mit diesem Lebensprogramm vielleicht manche Spitzenstellung in der Wirtschaft einbüßen, aber trotzdem aufgrund seiner geistigen Kreativität niemals materielle Not leiden.
Es darf nicht der europäische Weg sein, der Beschleunigung der globalen Wirtschaft nachzugeben und im Hamsterrad mitzulaufen. Vor allem in Frankreich diskutiert man unter dem Stichwort »décroissance« bereits eine Gegenstrategie. Unter »décroissance« ist eine nachhaltige Wachstumsrücknahme zu verstehen, die auf einem allumfassenden Lebensprogramm beruhen muß, das freiwillig – also ohne staatlichen Zwang – auf ökologische Verantwortung, bewußten Konsum und nachhaltiges Denken setzt. Die europäischen Völker müssen darüber hinaus ein Bewußtsein dafür entwickeln, daß sie gemeinsam vor den gleichen Problemen stehen: Überfremdung, Demographie, Dekadenz.
Ortega y Gasset fordert: »Einzig der Entschluß, aus den Völkergruppen des Erdteils eine große Nation zu errichten, könnte den Puls Europas wieder befeuern. Unser Kontinent würde den Glauben an sich selbst zurückgewinnen und in natürlicher Folge wieder Großes von sich fordern, sich in Zucht nehmen.« Gerade die »konservativen Klassen« seien es jedoch, die mit ihrem Festhalten am Nationalstaat »die Katastrophe herbeiführen« könnten. Beim Anblick der Europäischen Union mag man diese Mahnung nicht gern hören.
Bedenken sollte man jedoch, wie wenig die Nationalstaaten Europas in den letzten Jahrzehnten geleistet haben. Mit den morschen Institutionen von gestern ist kein neuer Staat zu machen. Deshalb, so sagt es auch der österreichische Schriftsteller Hugo von Hofmannsthal: »Große Menschen haben die eigene Nation zum Schicksal, Europa zum Erlebnis. … Wo ein großer Gedanke gedacht wird, ist Europa. Wo er innerhalb der Sphäre des Nationalen gedacht wird, wartet er nur darauf, ins Universale zu münden. Jede Philosophie ist … europäisch. Jede fortwirkende hohe politische Idee ist europäisch. Jede fruchtbare Erkenntnis der Vergangenheit ist europäisch.«
Unsere Zukunft kann nur europäisch sein. Europa aber hat nichts mit der Europäischen Union zu tun. Das zu vermitteln ist die große Aufgabe der nächsten Jahre.