Solche Mißverständnisse bilden häufig die Grundlage von Verbindungen, und spät zeigt sich schmerzlich, daß mit demselben Wort und unter der gleichen Sache etwas je anderes verstanden wurde. Denn die Naturen und Herangehensweisen sind verschieden.
So war es auch bei Wagner und Nietzsche. Deren unterschiedlicher Umgang mit der Illusion ließ diese beiden grundverschiedenen Charaktere schließlich aneinander scheitern – und auch mit diesem Scheitern unterschiedlich umgehen. Während nämlich Nietzsche die menschliche Enttäuschung, die er durch Wagner erlitt, nie ganz überwand und sie besonders in seiner letzten Schaffensperiode wieder hervorhob, war für Wagner der »Fall Nietzsche« kaum je mehr als eine Episode gewesen. Das lag freilich vor allem daran, daß Nietzsche Wagner von Anfang an zu ernst genommen hatte und deshalb weniger von Wagner als vielmehr von sich selbst enttäuscht sein mußte, während Wagner – und auch Cosima – in Nietzsche bloß einen abtrünnigen, ehemaligen Freund des Hauses sahen, dessen Verlust angesichts der illustren Anhängerschaft kaum ins Gewicht fiel.
Es ist freilich nicht so, daß Nietzsche, wie er später in Ecce homo behauptete, mit dem ersten Klavierauszug einer Wagner-Oper, den er zu Gesicht bekam, sogleich Wagnerianer geworden wäre. Erst das philosophische Erweckungserlebnis, das die Lektüre Schopenhauers in ihm auslöste und das vor allem darin bestand, endlich auf eine »verwandte Seele« gestoßen zu sein, eröffnete ihm auch den Zugang zu Wagner. Denn Wagner, selber ein glühender Anhänger der pessimistischen Lehre Schopenhauers, verfolgte mit seiner konzeptionellen Kunst die gleichen Ziele, die der junge Nietzsche in der Philosophie anstrebte: das Leben zu ästhetisieren. Weil das Dasein nur dann zu ertragen und gegen die Macht des Willens zu behaupten sei, wenn ihm der Schleier der Illusion oder des Wahns umgeworfen werde, bedürfe es einer Kunst, die gezielt eben dazu verführe. Eine solche Kunst sei in der Antike die attische Tragödie gewesen – und sollte fürderhin das Gesamtkunstwerk Richard Wagners werden.
Als der junge Philologie-Professor nach einer Reihe von Aufsätzen und Vorträgen zur Erläuterung dieser Absicht 1872 sein ästhetisches Manifest Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik vorlegte, das demonstrativ ein Vorwort an Richard Wagner enthielt, zog er sich zwar den Tadel seiner Zunftkollegen zu, erntete aber – wie erwartet und beabsichtigt – bei Wagner höchste Anerkennung. Zu diesem Zeitpunkt erreichte die seit 1869 bestehende Freundschaft ihren Höhepunkt, und Wagner schrieb geschmeichelt und enthusiastisch an seinen jungen Verehrer: »Schöneres als Ihr Buch habe ich noch nichts gelesen!« Und ein Jahr später: »Ich … schwöre Ihnen zu Gott zu, daß ich Sie für den einzigen halte, der weiß, was ich will.«
Doch wußte Wagner auch, was Nietzsche wollte? Dieser verstand unter dem Dionysischen die Verklärung des Daseins zum Zwecke der Selbsterhebung, ja Selbstüberhebung. Das die Grenzen zwischen Ich und Welt aufhebende Schauspiel sollte den Betrachter in einen Rausch versetzen, damit der Mensch auf individuelle Weise, aber im Sinne des »lebendigen« Mythos schöpferisch werde. Darin war aber auch das Paradox eines absichtlichen Aufgehens in der »Schönheit des Scheines« enthalten – Voraussetzung für die erhebende Wirkung der Tragödie. Nachahmung des Griechischen über Wiederbelebung der Tragödie bedeutet hier Nachahmung von Kunst und Natur, was in den Zustand der Verschmelzung des »dionysischen Rauschkünstlers« mit dem »apollinischen Traumkünstler« zurückführen sollte, den Nietzsche in der attischen Tragödie verwirklicht sah. Allein durch die erneute Zusammenfügung beider Zustände, des alten, gewissermaßen »naiven«, wie Nietzsche in Anlehnung an Schiller formuliert, mit dem modernen, gewissermaßen »sentimentalischen« im neuen, von Wagner begründeten Gesamtkunstwerk könne die Zerstückelung aufgehoben werden und zu einem »Wiedervereinigungsfeste der griechischen Künste« führen, wodurch der Mensch wieder »als ganzer Mensch zu genießen« lerne. Denn: »alles Unfrei, alles Isolirte der einzelnen Künste ist mit ihm überwunden.«
Der Enthusiasmus dieses Verlangens versetzte Nietzsche selber in jenen Rausch, den er vom neuen Musikdrama erwartete. Er gab sich dem Wagnerschen Werk hin und spielte sogar mit dem Gedanken, seine berufliche Laufbahn aufzugeben, um als Propagandist Wagners durch die Lande zu ziehen. Doch bestanden der Sinn und die Funktion eines solchen Rausches für Nietzsche eben darin, sich radikal selber zu verändern, also gewandelt und »wahrhaftiger« aus diesem Rausch hervorzugehen. Jener unbedingte Wille zum Wandel legt den Verdacht nahe, daß Nietzsches späterer Kampf gegen Wagner auch ein Kampf gegen gewisse Tendenzen seines eigenen früheren Philosophierens war. Denn eine Erneuerung der als festgefahren empfundenen europäischen Kultur konnte laut Nietzsche nur durch eine Art »dionysischen Sturz« zurück hinter die alten christlich-abendländischen Wertvorstellungen gelingen. – Und genau hier beginnt die Differenz zu Wagner: Nietzsche erkannte früh, lange bevor er Zeuge der ersten Bayreuther Festspiele (1876) wurde, nämlich bereits unmittelbar nach Erscheinen der Geburt der Tragödie, daß Wagner ihm im wesentlichen, mitthin im Philosophischen weder folgen konnte noch wollte. Fortan meinte Nietzsche, die Kunst Wagners als Affektmalerei zu durchschauen, in der es vor allem darum ginge, die Nerven zu reizen, um dem modernen Publikum zu geben, wonach es verlangte.
Während Wagner dem Pessimismus Schopenhauers als Aufruf zur Willensverneinung mit dem Ziel der Erlösung vom Willen verschrieben blieb, verlangte Nietzsche zunehmend nach einem »Pessimismus der Stärke«, der ein Pessimismus aus Stärke, also ein Pessimismus aus jener Furchtlosigkeit sei, den Wahrheiten der Dinge ins Gesicht zu blicken. Dazu forderte Nietzsche von sich selbst den Eintritt in ein »heroisch-philosophisches Leben«, was bedeutet, aller religiösen oder philosophischen Dogmatik radikal zu entsagen, um sich freiwillig dem »Leiden der Wahrhaftigkeit« auszusetzen.
Der Nachlaß von 1874 gibt darüber Aufschluß, wie sehr Nietzsche das Ideal der praktizierten, antiken, vorakademischen Philosophie anstrebte, wie sie zeitlebens sein großes Vorbild blieb und welche Opfer er dafür zu bringen bereit war: »Das freiwillige Leiden der Wahrhaftigkeit, die persönlichen Verletzungen auf uns nehmen. … Worin bestehen die Leiden der Wahrhaftigkeit? Man vernichtet sein Erdenglück. Man muss den Menschen, die man liebt, feindlich sein. Man muss die Institutionen, an die man durch Sympathie geknüpft ist, enthüllen und preisgeben.« Doch geht es hier freilich nicht um den bloßen, selbstgefälligen Opferkult, der durch die Entsagung irdischer Dinge mentales Glück verheißt, sondern gerade um das Gegenteil: Das Leiden an der Wahrhaftigkeit ergibt sich notwendig aus intellektueller Redlichkeit, solange der bequeme Mensch in den Wahn der Religionen – und sei es auch die der Kunst – flieht, um eben dadurch vor den Abgründen der Wahrheit geschützt zu sein.
Doch niemand war sich über die lebenserhaltende Funktion des Wahns und der Illusion deutlicher im klaren als Nietzsche selbst. Denn wer »zufrieden« sein und menschengemäß, also politisch oder sonst gesellschaftsrelevant leben und handeln will, muß sich zur Illusion bekennen, muß sich täuschen lassen und auf die Konsequenzen der Erkenntnis verzichten. Die Überwindung des Pessimismus ist also verbunden mit der Preisgabe des Absolutheitsanspruchs philosophischen Erkennens.
Damit hat Nietzsche den entscheidenden, mutig-verwegenen Schritt vollzogen, ohne den sein späteres Werk nicht zustande gekommen wäre. Von nun an ahnte er, daß ihn ein Leben in absoluter Einsamkeit erwartete und daß es nur sehr wenige Menschen geben würde, die begreifen wollten, warum dieser Schritt erforderlich war und was durch den damit verbundenen Verlust zu gewinnen wäre.
Tatsächlich verlor Nietzsche nach Erscheinen von Menschliches, Allzumenschliches (1878), das nunmehr demonstrativ Voltaire gewidmet war, die meisten seiner Leser, die er der bisherigen geistigen Nähe zu Wagner verdankte. Denn in dem neuen Buch wandelte sich Nietzsche vom schwärmerischen zum radikal skeptischen, waghalsigen Denker und begann genaugenommen erst jetzt, unzeitgemäß zu sein. Beim »Denken ohne Geländer« ging er das Wagnis des Erkennenden ein, das von Giordano Bruno bis zu Hannah Arendt in keiner Gesellschaft je willkommen war – auch im Hause Wagner nicht. Cosima, der Herzensfreundin, mißfiel sogleich das »Freigeistige« dieser Schrift, das sie als »zersetzend« empfand und auf den Einfluß Paul Rées zurückführte, auf den Sieg »Judäas« über »Germania«. Das große Ereignis erhoffter Seelenverwandtschaft hatte sich für Nietzsche nach der Trennung von Wagner ebenfalls als Illusion erwiesen. Der Philosoph blieb allein. Auch jeder künftige Versuch, den ersehnten Geistesfreund zu finden, sollte scheitern.
Wagner war eitel, klug und selbstsüchtig genug, Nietzsche nicht auf dem geistesaristokratischen, einsam-heroischen, jedenfalls konsequent-philosophischen Weg zu folgen, dessen Ethos es verbietet, aus persönlichen Rücksichten gedankliche Widersprüche oder Ungereimtheiten zum Schutze der jeweiligen Weltanschauung hinzunehmen. Wagner ging also gewissermaßen den umgekehrten Weg, indem er sich seinen Schopenhauer erst nihilistisch und dann christlich auslegte, um schließlich, im Alter, einem neuen modischen Wahn zu verfallen, nämlich dem, daß der Mensch, der in Urzeiten als Vegetarier friedlich und gut gewesen sei und erst durch den »Sündenfall« des Fleischverzehrs jene verhängnisvolle Entwicklung genommen habe, die ihn daran hindere, bestimmte Sozialutopien zu verwirklichen; schließlich hält Wagner sogar Löwen und Tiger für entartete Pflanzenfresser und endet als Apostel einer Menschheitsrettungsvision, die sich am besten in arischen Vegetarier-Kolonien jenseits Europas verwirklichen lasse.
Viel weiter hätte sich das musikalische Genie vom Philosophen kaum entfernen können. Wagner suchte über den Wahn, über die Kunst nach »Erlösung«, also nach Gewißheit, während für Nietzsche die Illusion nur ein Mittel zur Erkenntnis und zur Loslösung blieb. »Der Gott des schönen Scheins muß zugleich der Gott der wahren Erkenntniß sein.« Damit ist gesagt: erkenne den Schein als Schein, um dich an dem zu erhöhen und zu stärken, was er verbirgt; und sei es das Scheußlichste. Solchen Naturen ist der Wille zur Wahrhaftigkeit ein Tanz der Gedanken, ja des Denkens selbst und damit etwas Orgiastisches. »Der Ekel am Weiterleben wird als Mittel zum Schaffen empfunden«. – In eben dieser Ambivalenz aus Trost durch den Schein bei gleichzeitigem Verlangen nach Wahrhaftigkeit besteht für den dionysischen Menschen im Sinne Nietzsches das höchste Glück einer leidenschaftlich freigeistigen Existenz.