Wagner-Literatur

53pdf der Druckfassung aus Sezession 53 / April 2013

von Siegfried Gerlich

Wiewohl eine umfassende Sichtung der in Wagners zweihundertstem Geburtsjahr zu erwartenden Neuerscheinungen kaum vor seinem Geburtstag am 22. Mai möglich sein wird, zeichnet sich doch schon im Vorfeld ab, daß politisch streitbare Publikationen eher die Ausnahme bilden dürften.

Eine kon­ser­va­ti­ve Neu­deu­tung des Aus­nah­me-Kom­po­nis­ten, der ein­mal als der deut­sches­te von allen galt, liegt bis­lang nicht vor, und auch die anti­deut­schen Wag­ner­fein­de schei­nen auf dem Rück­zug. Vor­läu­fig soll jedoch ein kur­zer Rück­blick auf eini­ge Bücher genü­gen, die vor­aus­sicht­lich auch wei­ter­hin zur unüber­hol­ba­ren Refe­renz­li­te­ra­tur zäh­len werden.

Die gan­ze Spann­brei­te der mit Wag­ner und der deut­schen Fra­ge umris­se­nen Pro­ble­ma­tik hat kei­ner so erschöp­fend durch­drun­gen und inwen­dig aus­ge­leuch­tet wie Tho­mas Mann. Sein viel­zi­tier­tes Nach­kriegs­wort, es sei »viel Hit­ler in Wag­ner«, bedeu­te­te durch­aus kei­ne blan­ke Dif­fa­mie­rung, hat­te Mann doch noch 1939 selbst­kri­tisch von »Bru­der Hit­ler« gespro­chen. Jeden­falls beweg­te sich der Lübe­cker Schrift­stel­ler, der sein eige­nes lite­ra­ri­sches Ver­fah­ren an der Leit­mo­tiv­tech­nik Wag­ners schul­te, zeit­le­bens im geis­ti­gen Umkreis des Bay­reu­ther Meis­ters. Dies bezeugt der von Hans Rudolf Vaget her­aus­ge­ge­be­ne Band Im Schat­ten Richard Wag­ners (Frank­furt a.M.: Fischer 2010), der alles ent­hält, was Mann jemals über Wag­ner zu Papier gebracht hat: neben den berühm­ten Schrif­ten »Lei­den und Grö­ße Richard Wag­ners« (1933) und »Richard Wag­ner und der ›Ring des Nibe­lun­gen‹« (1937) auch Tage­buch­no­ti­zen, brief­li­che Äuße­run­gen und bekennt­nis­haf­te Abschnit­te aus den frü­hen Betrach­tun­gen eines Unpo­li­ti­schen. Bes­ser, wah­rer und schö­ner ist über Wag­ner nie geschrie­ben worden.

Nach 1945 begann indes­sen eine neue Rezep­ti­ons­pha­se, in der die meis­ten Lieb­ha­ber Wag­ners es für rat­sam hiel­ten, sich poli­ti­sche Abs­ti­nenz auf­zu­er­le­gen und die Deu­tungs­ho­heit über sei­ne Welt­an­schau­ung kampf­los den Geg­nern zu über­las­sen, um so wenigs­tens die rei­ne Kunst kas­sie­ren zu kön­nen. Zu die­sen Wag­ne­ria­nern alter Schu­le zählt an ers­ter Stel­le Curt von Wes­tern­ha­gen, der sich wegen eines belas­ten­den Büch­leins über Richard Wag­ners Kampf gegen see­li­sche Fremd­herr­schaft (Mün­chen: Leh­manns 1935) in sei­nen spä­te­ren Büchern mit Leben und Werk Wag­ners beschied und Aus­bli­cke auf die poli­ti­sche Wir­kungs­ge­schich­te strikt ver­mied. Obgleich von Wes­tern­ha­gen auf­grund sei­ner offen­kun­di­gen Apo­loge­tik zu Recht als Hohe­priester des ortho­do­xen Wag­ne­ris­mus gilt, sind Richard Wag­ner. Sein Werk, sein Wesen, sei­ne Welt (Zürich: Atlan­tis 1956) sowie Wag­ner (Zürich: Atlan­tis 1968) in ihrer stu­pen­den Gelehr­sam­keit noch immer ein Stu­di­um wert.

In einem zunächst von der fremd­ver­ord­ne­ten Re-edu­ca­ti­on und spä­ter­hin von einem selbst­auf­er­leg­ten Anti­fa­schis­mus durch­tränk­ten Kli­ma durf­ten es hier­zu­lan­de nur deutsch-jüdi­sche Mar­xis­ten wie Ernst Bloch oder Hans May­er wagen, sich frei­mü­tig als »Wag­ne­ria­ner« zu beken­nen und Wag­ner selbst eine unver­min­der­te Aktua­li­tät zu beschei­ni­gen: »Da in unse­ren Tagen nichts gelöst wor­den ist von dem, was Richard Wag­ner lei­den und schaf­fen mach­te, besteht nach wie vor Gleich­zei­tig­keit zwi­schen ihm und uns.« Mit die­sen Wor­ten eröff­net May­er sei­ne phi­lo­so­phie- und lite­ra­tur­ge­schicht­lich ver­sier­te Gesamt­dar­stel­lung Richard Wag­ner (Frank­furt a.M.: Suhr­kamp 1998), die sich als eine der geist­reichs­ten und leben­digs­ten Ein­füh­run­gen in das Künst­ler­tum Wag­ners emp­fiehlt, zumal May­er bei aller kri­ti­schen Reflek­tiert­heit mit­un­ter einen beherz­ten Kul­tur­na­tio­na­lis­mus an den Tag legt, wie er gegen­wär­tig nur noch in rechts­kon­ser­va­ti­ven Krei­sen gepflegt wird. Über­haupt erin­nert May­ers sym­pa­the­ti­sches Ver­hält­nis zu Wag­ner an eine Zeit, als eine mar­xis­tisch geschul­te Lin­ke es noch für erstre­bens­wert hielt, sich das deut­sche Kul­tur­er­be anzu­eig­nen, anstatt es als natio­na­lis­tisch oder prä­fa­schis­tisch zu dif­fa­mie­ren, wie es die heu­ti­ge Gesin­nungs­lin­ke tut, die von dem durch sie mit­ver­ur­sach­ten Bil­dungs­ver­fall ersicht­lich selbst schwer betrof­fen ist.

Aller­dings hat­te sich noch zu Wag­ners Leb­zei­ten auch eine kon­ser­va­ti­ve Front von Geg­nern for­miert, denen sei­ne rausch­haf­te Kunst eben­so undeutsch erschien wie sein rast­lo­ses Leben. Die­se längst his­to­ri­sche Feind­schaft zwi­schen Goe­the-Deut­schen und Wag­ner-Deut­schen hat­te bereits Tho­mas Mann zu zwei See­len in sei­ner Brust ver­in­ner­licht. Für Die­ter Borchmey­er, der sich als Her­aus­ge­ber und Groß­aus­le­ger Goe­thes und Wag­ners einen Namen gemacht hat, ist der­glei­chen kein Pro­blem mehr: Der ideel­le Gesamt­deut­sche unter den zeit­ge­nös­si­schen Kul­tur­kon­ser­va­ti­ven ver­or­tet die Bay­reu­ther Roman­tik ganz selbst­ver­ständ­lich in der Nach­fol­ge der Wei­ma­rer Klas­sik. Vor allem mit sei­nem frü­hen Buch Das Thea­ter Richard Wag­ners (Stutt­gart: Reclam 1982), wor­in er als ers­ter auch die kunst­theo­re­ti­schen und kul­tur­phi­lo­so­phi­schen Schrif­ten Wag­ners einer gründ­li­chen Lek­tü­re unter­zog, hat Borchmey­er eine bis heu­te unüber­trof­fe­ne Pio­nier­ar­beit geleistet.

Daß Wag­ners Leben schon so oft erzählt wor­den sei, daß es nicht mehr erzähl­bar ist, befand bereits vor Jahr­zehn­ten der Musik­wis­sen­schaft­ler Carl Dah­l­haus, der mit Wag­ners Kon­zep­ti­on des musi­ka­li­schen Dra­mas (Mün­chen: dtv 1990) und Richard Wag­ners Musik­dra­men (Stutt­gart: Reclam 1996) grund­le­gen­de Werk­einführungen für Fort­ge­schrit­te­ne erar­bei­te­te. Einen ganz neu­en, fri­schen Erzähl­ton hat frei­lich Mar­tin Gre­gor-Del­lin in sei­ner roman­haf­ten Bio­gra­phie Richard Wag­ner. Sein Leben, sein Werk, sein Jahr­hun­dert (Mün­chen: Piper 1980) ange­schla­gen, die alle hagio­gra­phi­sche Devo­ti­on ver­mei­det und in einem mit­rei­ßen­den Duk­tus die Odys­see eines aben­teu­er­li­chen Her­zens schil­dert. Aus sei­ner Sym­pa­thie für den jun­gen Revo­lu­tio­när macht Gre­gor-Del­lin kei­nen Hehl, er ver­läßt Wag­ner aber auch nach sei­ner kon­ser­va­ti­ven Keh­re nicht und brei­tet über­haupt ein far­ben­präch­ti­ges Pan­ora­ma des deut­schen 19. Jahr­hun­derts aus.

Dem­ge­gen­über bie­tet Karl Rich­ter mit sei­nem gro­ßen Wurf, Richard Wag­ner. Visio­nen (Vils­bi­burg: Arun 1993) eine ent­schie­den natio­nal­re­vo­lu­tio­nä­re Gesamt­schau, die Wag­ners jung­deut­sche und links­re­vo­lu­tio­nä­re Jugend voll­stän­dig ver­leug­net. Dafür gibt der Autor ario­so­phi­sche Spe­ku­la­tio­nen zum bes­ten und legt sogar natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Bekennt­nis­se von einer sol­chen mys­ti­schen Inbrunst ab, daß jede poli­ti­sche Kri­tik dar­an sich als Ver­let­zung reli­giö­ser Gefüh­le gera­de­zu ver­bie­tet. Gleich­wohl hat der damals jun­ge Autor, der es unter­des­sen mit tra­gi­scher Kon­se­quenz zum stell­ver­tre­ten­den Vor­sit­zen­den der NPD gebracht hat, ein über wei­te Stre­cken elek­tri­sie­ren­des Buch geschrie­ben, des­sen lei­den­schaft­li­cher Patrio­tis­mus sich auch in dem gedie­ge­nen Deutsch nie­der­schlägt, mit dem er Wag­ners Werk und Wir­ken in epi­schen Aus­ma­ßen darbietet.

Unei­tel und uner­schro­cken prä­sen­tiert sich schließ­lich Chris­ti­an Thie­le­mann in sei­nem aus Gesprä­chen her­vor­ge­gan­ge­nen Bekennt­nis­buch Mein Leben mit Wag­ner (Mün­chen: Beck 2012), wor­in der pro­fi­lier­tes­te Wag­ner-Diri­gent unse­rer Tage sogleich in medi­as res geht. Nach­dem in sei­ner Kind­heit Wag­ner und Mahler »die bei­den Her­zen in mei­ner Brust« gewe­sen waren, stand im fünf­zehn­ten Lebens­jahr eine exis­ten­ti­el­le Ent­schei­dung an: zwi­schen dem »Lebens­be­ja­hen­den« und den »Ver­lo­ckun­gen des Abgrunds«. Fort­an soll­te Thie­le­mann sei­nem Lieb­lings­kom­po­nis­ten Bruck­ner, Strauss und Pfitz­ner zur Sei­te stel­len, deren schwer­blü­ti­gen deut­schen Ton er so ein­dring­lich wie­der­zu­be­le­ben ver­stand, daß dies eigent­lich den Arg­wohn des Ver­fas­sungs­schut­zes hät­te wecken müs­sen. Wie­der­um staats­tra­gend erklärt Thie­le­mann, er habe es nie nötig gehabt, mit den Kin­dern von Marx und Coca Cola auf die Bar­ri­ka­den zu gehen – Wag­ners Musik war ihm revo­lu­tio­när genug. Von sei­nen »Hero­en« Furtwäng­ler und Kara­jan auf den rech­ten Weg gebracht, muß­te er end­lich auch in Bay­reuth ankom­men, um im Bun­de mit sei­nem »väter­li­chen Freund« Wolf­gang Wag­ner »ein kla­res Votum gegen die Kom­mer­zia­li­sie­rung des Musik­be­triebs« abzugeben.

Dabei ist Thie­le­manns Kri­tik der Kul­tur­in­dus­trie nicht ein­fach feuil­le­to­nis­tisch hin­ge­wor­fen; sie bewährt sich in sei­ner künst­le­ri­schen Arbeit selbst, die sich mehr am Hand­werk des Kapell­meis­ters als am Blend­werk des Star­di­ri­gen­ten aus­rich­tet. Geschichts­po­li­tisch beein­druckt Thie­le­mann durch die sou­ve­rä­ne Gelas­sen­heit eines auf­ge­klär­ten Kon­ser­va­tis­mus, der weder Wag­ners anti­jü­di­sche Schrif­ten noch den Miß­brauch sei­ner Büh­nen­wer­ke im Drit­ten Reich ver­harm­lost und doch scharf die neu­er­li­che »Ver­ge­wal­ti­gung« Wag­ners durch sei­ne anti­deut­schen Exe­geten anpran­gert: »Ich gehör­te einer Gene­ra­ti­on an, die es gründ­lich gelernt hat, sich selbst und alles Deut­sche zu has­sen, natür­lich auch die deut­sche Musik und allen vor­an Richard Wag­ner. Gegen die­se poli­ti­cal cor­rect­ness habe ich mich erst intui­tiv und spä­ter dann ganz bewußt gewehrt. Ich wehr­te mich, weil mir etwas aus dem Her­zen geris­sen wer­den soll­te, das ich um kei­nen Preis mehr her­zu­ge­ben bereit war.«

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