Eine konservative Neudeutung des Ausnahme-Komponisten, der einmal als der deutscheste von allen galt, liegt bislang nicht vor, und auch die antideutschen Wagnerfeinde scheinen auf dem Rückzug. Vorläufig soll jedoch ein kurzer Rückblick auf einige Bücher genügen, die voraussichtlich auch weiterhin zur unüberholbaren Referenzliteratur zählen werden.
Die ganze Spannbreite der mit Wagner und der deutschen Frage umrissenen Problematik hat keiner so erschöpfend durchdrungen und inwendig ausgeleuchtet wie Thomas Mann. Sein vielzitiertes Nachkriegswort, es sei »viel Hitler in Wagner«, bedeutete durchaus keine blanke Diffamierung, hatte Mann doch noch 1939 selbstkritisch von »Bruder Hitler« gesprochen. Jedenfalls bewegte sich der Lübecker Schriftsteller, der sein eigenes literarisches Verfahren an der Leitmotivtechnik Wagners schulte, zeitlebens im geistigen Umkreis des Bayreuther Meisters. Dies bezeugt der von Hans Rudolf Vaget herausgegebene Band Im Schatten Richard Wagners (Frankfurt a.M.: Fischer 2010), der alles enthält, was Mann jemals über Wagner zu Papier gebracht hat: neben den berühmten Schriften »Leiden und Größe Richard Wagners« (1933) und »Richard Wagner und der ›Ring des Nibelungen‹« (1937) auch Tagebuchnotizen, briefliche Äußerungen und bekenntnishafte Abschnitte aus den frühen Betrachtungen eines Unpolitischen. Besser, wahrer und schöner ist über Wagner nie geschrieben worden.
Nach 1945 begann indessen eine neue Rezeptionsphase, in der die meisten Liebhaber Wagners es für ratsam hielten, sich politische Abstinenz aufzuerlegen und die Deutungshoheit über seine Weltanschauung kampflos den Gegnern zu überlassen, um so wenigstens die reine Kunst kassieren zu können. Zu diesen Wagnerianern alter Schule zählt an erster Stelle Curt von Westernhagen, der sich wegen eines belastenden Büchleins über Richard Wagners Kampf gegen seelische Fremdherrschaft (München: Lehmanns 1935) in seinen späteren Büchern mit Leben und Werk Wagners beschied und Ausblicke auf die politische Wirkungsgeschichte strikt vermied. Obgleich von Westernhagen aufgrund seiner offenkundigen Apologetik zu Recht als Hohepriester des orthodoxen Wagnerismus gilt, sind Richard Wagner. Sein Werk, sein Wesen, seine Welt (Zürich: Atlantis 1956) sowie Wagner (Zürich: Atlantis 1968) in ihrer stupenden Gelehrsamkeit noch immer ein Studium wert.
In einem zunächst von der fremdverordneten Re-education und späterhin von einem selbstauferlegten Antifaschismus durchtränkten Klima durften es hierzulande nur deutsch-jüdische Marxisten wie Ernst Bloch oder Hans Mayer wagen, sich freimütig als »Wagnerianer« zu bekennen und Wagner selbst eine unverminderte Aktualität zu bescheinigen: »Da in unseren Tagen nichts gelöst worden ist von dem, was Richard Wagner leiden und schaffen machte, besteht nach wie vor Gleichzeitigkeit zwischen ihm und uns.« Mit diesen Worten eröffnet Mayer seine philosophie- und literaturgeschichtlich versierte Gesamtdarstellung Richard Wagner (Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998), die sich als eine der geistreichsten und lebendigsten Einführungen in das Künstlertum Wagners empfiehlt, zumal Mayer bei aller kritischen Reflektiertheit mitunter einen beherzten Kulturnationalismus an den Tag legt, wie er gegenwärtig nur noch in rechtskonservativen Kreisen gepflegt wird. Überhaupt erinnert Mayers sympathetisches Verhältnis zu Wagner an eine Zeit, als eine marxistisch geschulte Linke es noch für erstrebenswert hielt, sich das deutsche Kulturerbe anzueignen, anstatt es als nationalistisch oder präfaschistisch zu diffamieren, wie es die heutige Gesinnungslinke tut, die von dem durch sie mitverursachten Bildungsverfall ersichtlich selbst schwer betroffen ist.
Allerdings hatte sich noch zu Wagners Lebzeiten auch eine konservative Front von Gegnern formiert, denen seine rauschhafte Kunst ebenso undeutsch erschien wie sein rastloses Leben. Diese längst historische Feindschaft zwischen Goethe-Deutschen und Wagner-Deutschen hatte bereits Thomas Mann zu zwei Seelen in seiner Brust verinnerlicht. Für Dieter Borchmeyer, der sich als Herausgeber und Großausleger Goethes und Wagners einen Namen gemacht hat, ist dergleichen kein Problem mehr: Der ideelle Gesamtdeutsche unter den zeitgenössischen Kulturkonservativen verortet die Bayreuther Romantik ganz selbstverständlich in der Nachfolge der Weimarer Klassik. Vor allem mit seinem frühen Buch Das Theater Richard Wagners (Stuttgart: Reclam 1982), worin er als erster auch die kunsttheoretischen und kulturphilosophischen Schriften Wagners einer gründlichen Lektüre unterzog, hat Borchmeyer eine bis heute unübertroffene Pionierarbeit geleistet.
Daß Wagners Leben schon so oft erzählt worden sei, daß es nicht mehr erzählbar ist, befand bereits vor Jahrzehnten der Musikwissenschaftler Carl Dahlhaus, der mit Wagners Konzeption des musikalischen Dramas (München: dtv 1990) und Richard Wagners Musikdramen (Stuttgart: Reclam 1996) grundlegende Werkeinführungen für Fortgeschrittene erarbeitete. Einen ganz neuen, frischen Erzählton hat freilich Martin Gregor-Dellin in seiner romanhaften Biographie Richard Wagner. Sein Leben, sein Werk, sein Jahrhundert (München: Piper 1980) angeschlagen, die alle hagiographische Devotion vermeidet und in einem mitreißenden Duktus die Odyssee eines abenteuerlichen Herzens schildert. Aus seiner Sympathie für den jungen Revolutionär macht Gregor-Dellin keinen Hehl, er verläßt Wagner aber auch nach seiner konservativen Kehre nicht und breitet überhaupt ein farbenprächtiges Panorama des deutschen 19. Jahrhunderts aus.
Demgegenüber bietet Karl Richter mit seinem großen Wurf, Richard Wagner. Visionen (Vilsbiburg: Arun 1993) eine entschieden nationalrevolutionäre Gesamtschau, die Wagners jungdeutsche und linksrevolutionäre Jugend vollständig verleugnet. Dafür gibt der Autor ariosophische Spekulationen zum besten und legt sogar nationalsozialistische Bekenntnisse von einer solchen mystischen Inbrunst ab, daß jede politische Kritik daran sich als Verletzung religiöser Gefühle geradezu verbietet. Gleichwohl hat der damals junge Autor, der es unterdessen mit tragischer Konsequenz zum stellvertretenden Vorsitzenden der NPD gebracht hat, ein über weite Strecken elektrisierendes Buch geschrieben, dessen leidenschaftlicher Patriotismus sich auch in dem gediegenen Deutsch niederschlägt, mit dem er Wagners Werk und Wirken in epischen Ausmaßen darbietet.
Uneitel und unerschrocken präsentiert sich schließlich Christian Thielemann in seinem aus Gesprächen hervorgegangenen Bekenntnisbuch Mein Leben mit Wagner (München: Beck 2012), worin der profilierteste Wagner-Dirigent unserer Tage sogleich in medias res geht. Nachdem in seiner Kindheit Wagner und Mahler »die beiden Herzen in meiner Brust« gewesen waren, stand im fünfzehnten Lebensjahr eine existentielle Entscheidung an: zwischen dem »Lebensbejahenden« und den »Verlockungen des Abgrunds«. Fortan sollte Thielemann seinem Lieblingskomponisten Bruckner, Strauss und Pfitzner zur Seite stellen, deren schwerblütigen deutschen Ton er so eindringlich wiederzubeleben verstand, daß dies eigentlich den Argwohn des Verfassungsschutzes hätte wecken müssen. Wiederum staatstragend erklärt Thielemann, er habe es nie nötig gehabt, mit den Kindern von Marx und Coca Cola auf die Barrikaden zu gehen – Wagners Musik war ihm revolutionär genug. Von seinen »Heroen« Furtwängler und Karajan auf den rechten Weg gebracht, mußte er endlich auch in Bayreuth ankommen, um im Bunde mit seinem »väterlichen Freund« Wolfgang Wagner »ein klares Votum gegen die Kommerzialisierung des Musikbetriebs« abzugeben.
Dabei ist Thielemanns Kritik der Kulturindustrie nicht einfach feuilletonistisch hingeworfen; sie bewährt sich in seiner künstlerischen Arbeit selbst, die sich mehr am Handwerk des Kapellmeisters als am Blendwerk des Stardirigenten ausrichtet. Geschichtspolitisch beeindruckt Thielemann durch die souveräne Gelassenheit eines aufgeklärten Konservatismus, der weder Wagners antijüdische Schriften noch den Mißbrauch seiner Bühnenwerke im Dritten Reich verharmlost und doch scharf die neuerliche »Vergewaltigung« Wagners durch seine antideutschen Exegeten anprangert: »Ich gehörte einer Generation an, die es gründlich gelernt hat, sich selbst und alles Deutsche zu hassen, natürlich auch die deutsche Musik und allen voran Richard Wagner. Gegen diese political correctness habe ich mich erst intuitiv und später dann ganz bewußt gewehrt. Ich wehrte mich, weil mir etwas aus dem Herzen gerissen werden sollte, das ich um keinen Preis mehr herzugeben bereit war.«