Er ist es, der immer wieder darauf verweist, daß man sich vor 3000 Jahren Geschichte Rechenschaft ablegen können müsse, und dieses Unterfangen stößt den Konservativen mehr und gnadenloser denn je auf die Aussichtslosigkeit seiner Bestrebungen des Bewahrens. Und so scheint der akute intellektuelle sex appeal weder vom politischen noch vom Gärtner-Konservatismus (Mohler) und auch nicht vom apologetischen Zurückweichen in einen »Modernitätstraditionalismus« (Lübbe, Marquard) auszugehen, sondern von der Reaktion.
Denn der Reaktionär argumentiert anders: Er hält die Wurzeln (radices), die sie ausreißt, der modernen Welt vor. Dies ist sein Prinzip. Die Konturen werden mit konkretem Habitus gefüllt: der Kirche, Monarchie, des Reiches. Die Reaktion bedarf ihrer, doch sie weiß, daß all dies äußerliche nicht ohne weiteres zu restituieren ist. Radikalität der PARRHESIA (freie Rede), der stoisch christlichen Freimütigkeit, ist der Reaktion eigen. Was dann auch immer ihr Gegenstand sei: Sie ist die actio der nach dem Maßstab der Welt schon Geschlagenen, sei es das monarchische Prinzip, oder jenes der Katholizität oder auch nationaler Souveränität. Reaktion beruht mithin auf einem geistigen Selbstverständnis, das mit der Fluchtlinie der Moderne, ihrer immer auch zerstörerischen Flucht in Zukunft letztlich weder zusammenbestehen kann noch will.
Unvermeidlich ist hier der Rekurs auf Gómez Dávila, den Denker und Aphoristiker der Reaktion, der sich diese Position offensiv und ohne zu zögern zu eigen machte. Ihm zufolge heißt »reaktionär sein, nicht an bestimmte Lösungen glauben, sondern ein scharfes Gespür für die Komplexität von Problemen haben«. Charakteristisch ist auch Dávilas programmatische Verweigerung, »die Inkohärenz der Dinge zu vergewaltigen«. Der Reaktionär im Sinn Dávilas denkt aus dem Widerspruch. Er wendet sich mit einem polemischen Streich gegen alles, was er »aufklärerischen Rationalismus« nennt.
Den Staat sieht die Reaktion unter dem Vorbehalt der göttlichen Macht. Der große Einwand gegen die Demokratie ist, daß sie den Menschen vergöttere. Es ist alles andere als zufällig, daß reaktionäres Denken in seiner hohen Konsequenz eine Gegen-Theologie gegen die immanenten Theologien der politischen Moderne evoziert – nicht nur in ihrer totalitären, sondern auch in ihrer freiheitlich-liberalen Version. »Unbefragbarkeit und Frommheit« (Botho Strauß) ist ihr eigen, und zugleich, mit Nietzsche, »Aufenthalt in den eisigsten Regionen«.
Reaktion als geistiges Prinzip wäre dann der stehende Pfeil, die Dialektik im Stillstand (Walter Benjamin), die Notbremse, die zu ziehen selbst schon ein revolutionärer Akt ist. Und wenn das »hic Rhodus hic saltus« des Konservativen ausgehöhlt ist, weil dieses Hier völlig korrumpiert ist, weil sein Überlieferungsfaden schon abgerissen ist, dann schneidet die Reaktion die Fäden ab, die der Konservative immer noch als letzte mögliche Anknüpfungspunkte bewahrt.
Von den Klassikern der Reaktion sehe ich ab. Ich gehe stattdessen zu zwei großen Paradigmen (Urbildern) europäischen Denkens, die sich einer Lesart als Zeugnisse der Reaktion öffnen: Platons Periagogé sowie Nietzsches und Heideggers Coenakel der Kehre.
Der Platonische Sokrates fordert die Periagogé, die Umwendung des Geistes auf das in der Idee Wahre. Dadurch erweist er sich als »göttlicher Mann«, als »wahrer Staatsmann« und »einzig Gerechter«. Doch gibt es keine Verbindung zu der realen griechischen Polis. Es gibt nicht einmal eine Genealogie zu Sokrates hin: Kein Solon und kein Perikles kann dafür in Anspruch genommen werden.
Der sophistischen Widerspruchskunst, der Antilektik, setzt Sokrates die Forderung eines LOGON DIDÓNAI (Rechenschaft geben)und damit die Radikalität in der Gewinnung der Wahrheit entgegen. Das Gute ist naturgemäß, es ist nicht bloße Setzung. Damit bricht Sokrates mit der Sophistik als Avantgarde modernen Lebens: der Selbstbefragung als dem Wirbel, der die Polis in Relativität, Sinnkrise und Dekadenz gestürzt hatte. Zugleich weiß Platon, daß die alte Polisethik und ihre Institutionen nicht mehr existieren. Kein faktisches Gebilde genügt den Anforderungen des Ethos. Die PERIAGOGÉ (Blickwendung) gilt der Gerechtigkeit in der Seele, der kleinen Schrift und schließlich der Wendung zu der höchsten Idee, die über die Sphäre der DOXA hinausreicht und EPEKEINA TES OUSIAS, jenseits des Seienden, ist. Dies bedeutet aber politisch, daß die Akademie die innere Polis ist. Die äußere Stadt wird preisgegeben. Platon wendet sich im Namen des »inneren Staates« von ihr ab. Der wahre Staatsmann ist Sokrates, weil er dem NOMOS folgt, dem bleibenden Gesetz, das im Sinne Platonischer Anthropologie und Theologie nur von Gott hervorgebracht worden sein kann, nicht vom Menschen.
Die Richtungsänderung aus der Höhle, die Umkehrung des Blicks gegenüber den Gleichheitserwartungen, dieses Platonische Signum kann zur Grundmatrix der Reaktion werden.
Nietzsche ist in seiner Bestimmung dessen, was vornehm ist, in seinem Eliteverständnis, das nur ein Pathos der Distanz zuläßt, alles andere als der Parteigänger einer Zeit. Er schließt sich dezidiert nicht dem Philistertum, dem selbstverständlichen, bürgerlichen Konservatismus seiner Zeit an. Deshalb kann man diesen großen Unzeitgemäßen als einen radikalen Denker der Re-actio verstehen. Er verwirft gleichermaßen konsequent die sozialistischen und liberalistischen Ausprägungen in der Moderne.
Schon in der berühmten zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung zielt Nietzsche auf eine »monumentalische Geschichtsschreibung«, den Höhenweg der mahnenden, großen Menschen und Exempel der Geschichte. Das höchste europäische Menschsein sieht er jenseits der Sukzessionen der historischen Evolution und erst recht der neuzeitlichen Aufklärung. »Große Politik« ist für Nietzsche die Fähigkeit zu diesem Unzeitgemäß-Sein, ist »Wille zur Macht«, als Selbstüberwindung in der Skulpturierung des eignen Ich. Gewiß ist die faschistisch-megalomane Einverleibung und Trivialisierung Nietzsches im 20. Jahrhundert ein folgenreiches Verhängnis. Schlimmer noch als seine Einverleibungen und Verurteilungen im politischen Ideen-Weltbürgerkrieg des totalitären Zeitalters ist freilich seine Entschärfung zu einem Denker der Differenzen und Nicht-Identitäten.
Nietzsche als radikaler Reaktionär: dies bedeutet zugleich, daß es keinen Anhaltspunkt, keine Gestalten gibt, auf die er zurückgreifen kann. Da ist nichts, das hält, weder Christentum als Habitus, gar Kirche, noch die Monarchie. Er läßt nur die Coenakel gelten, die singuläre und singularisierende Gemeinschaft jener Wenigen, Seltenen, der Freunde und Freundinnen, die er niemals halten konnte. Dies ist eine Reaktion gegen die gesamte abendländische Vernunftgeschichte, die mit Sokrates ihren Sündenfall hatte und vom tragischen Bewußtsein abzufallen begann. Nietzsches Reaktion war in ihrer Radikalität kalt. Sie gab rettungslos verloren.
Der andere Exponent von Reaktion als geistigem Prinzip ist Heidegger: Nachdem er aufgehört hatte, wie es ihm bis zu Sein und Zeit notwendig erschienen war, die Sprache der Philosophie dieser Zeit zu sprechen, bricht er eine GIGANTOMACHEIA auf, die große Frage nach dem Sinn des Seins. Allein die Fragedimension von Sein und Zeit, zu einer Ur- und Grundphänomenologie der Seinserfahrung, reißt die Engführungen der klassischen abendländischen Philosophie auf – und führt so ins Freie. Eine Tendenz, die sich noch einmal in den Beiträgen zur Philosophie vertieft, und dies mit dem sprechenden Begriff der »Kehre«. Heidegger thematisiert darin, unter dem arkanen Titel Vom Ereignis, die planetarische Welt, ihre Machenschaft, das Gestell. Mit ihm rücken der Bolschewismus und Faschismus und die neue alles überwölbende globale Technik und Ökonomie zu einem Syndrom des »riesenhaften Gestells« zusammen.
Der Gestus der Kehre ist denkbar radikal. Heideggers spätes »Andenken« folgt indes der Einsicht, daß Denken selbst Handeln ist, reaktiver Widerstandsakt gegenüber dem großen Anihilement. Destruktion und Zerbrechen der alten Tafeln beschreiben bei Heidegger eine fundamentale philosophische Bewegung. Sie hat aber große Reichweite der geistigen Orientierung Europas im Rückgang hinter die Seinsvergessenheit. Es ist keine Tradition, die dies deckt, wenn denn Tradition immer auch ein Kontinuum meint. Heidegger geht es vielmehr um die »Verwindung« jener Tradition, die in den Nihilismus führt.
Der späte Rückgang auf die anfänglichen Worte der Philosophie, auch jene der Dichtung, der sich Heidegger zumal in seiner Spätzeit zuwandte, ist jedenfalls nicht ein Rückzug, sondern eine weitergehende Radikalisierung, die Anknüpfungspunkte destruiert. Gadamer hat insofern – nach einer bekannten Aussage von Habermas – Heidegger in der Tat urbanisiert und entschärft. Doch die Annahme eines ungebrochenen Überlieferungsstroms kann, bei genauer Betrachtung, gar nicht statthaft sein.
Anzumerken ist, daß auch die großen christlichen Denker der Moderne, die uns etwas bedeuten können, eher in diesem weiten Sinne das geistige Prinzip der Reaktion in Anspruch nehmen als die Fiktion eines Begriffskontinuums der Traditionen. Man denke an Dostojewski oder an Solowjew. Sie verweigern sich einer historistischen Vorstellung von der Geschichte. Das Kontinuum sehen sie in der bleibenden Wahrheit, nicht im Bewußtsein irgendeiner Epoche. Die Realität im verborgenen Glanz, splendor, christlicher Wahrheit erkennen zu lassen, bedeutet letztlich einen reaktionären, nicht einen nur konservativen Akzent.
Dies gilt nicht zuletzt für den katechontischen Geschichtsbegriff, den Carl Schmitt, an den 2. Thessalonicherbrief anschließend ins Feld geführt hat. Der Aufhalter des Antichrist, dessen Stelle nach Schmitt wohl nie ganz unbesetzt gewesen ist, ist Gegenhalt und Gegenpol zu der dahinstürzenden Auflösungstendenz der geschichtlichen Moderne. Die Katechontik läßt sich gerade nicht in die rasende Welle der Aufklärung einbeziehen.
Es gibt aber auch den gegenläufigen Akzent, vielleicht am markantesten bei Hegel. Dort hat der konservative Impetus seine höchste und tiefste Begründung. Die Zerreißungen der Moderne, die gegenläufigen Kräfte und Mächte im System der Bedürfnisse sollen im »sittlichen Staat« zusammengefaßt und gebündelt sein. Der Staat darf dabei in keiner Weise gegenüber der modernen Legitimationsdimension regredieren.
Die dagegen aufbegehrende Romantik war Hegel begrifflich nicht gewachsen. Sie war indes eine Avantgarde, die aus dem Klappern der mechanistischen Mühle auszubrechen und den Ordo eines Goldenen Zeitalters wiederzugewinnen suchte. Dies implizierte ein »reaktives« Geschichtsverständnis, das nicht in der Fortschrittslinie, sondern in einer Verwandlung des uneinholbar Vortrefflichen, in einer Fülle, die verlorengegangen ist, wurzelt. Man könnte hier von einer kontemplativen Reaktion sprechen, der auch Chateaubriand in seiner tiefschichtigen Erinnerung an die Schönheit des Christentums angehört, mit seinem Requiem auf jene Dimensionen, die in der Säkularisierung gewaltsam destruiert wurden.
Man sollte sich auch darüber nicht täuschen: Der Sezessionist bzw.der Staatspolitiker hat eo ipso einen Zug zur Reaktion; formuliert er doch diese Konzeption im Wissen um das Ende der Staatlichkeit oder doch um ihre Usurpation.
Die Frage bleibt akut: Ist der habituelle Konservative, wenn er erkennbar sein soll, genötigt, zur Reaktion als geistigem Prinzip zu finden? Er könnte sich dabei Graciáns Maxime »Rede wie die Meisten und denke wie die Wenigen!« nahelegen. Daß ein solches Denken überhaupt noch möglich ist, das wäre schon eine Leistung der Reaktion. Sie gewinnt eine innere Souveränität, eine königliche Würde, und sie läßt sich nicht vom Mainstream treiben. Dabei muß einem klar sein, keine bisherige Reaktion kann in irgendeiner Weise Vorbild für das Ethos sein, das aufgegeben ist. Und daher ist es eher die methodische Haltung; nicht aber ein simpler Monarchismus, ein einfacher Rekurs zur ewigen Katholizität, der der Reaktion als geistigem Prinzip Gewicht geben kann. Es ist auch keineswegs die umgekehrte Attitude einer permanenten Revolution.
Es ist aber ein fundamentaler Beginn, eine Radikalität, die das Seelenhaus baut und damit auch den Staatshaushalt verändert, die ENTOS PRAXIS, oder – wie Foucault im Blick auf die Stoa meinte – eine PARRHESIA: die Haltung, wenn die Quellen versiegt sind, der Nihilismus tobt und seine schwarzen Vögel fliegen läßt, wenn der opportune Verrat an den Fundamenten längst das Bürgertum erfaßt hat, wenn eine zeitgeisthörige Kirche abstreitet, daß es der Wende und der METANOIA bedürfe, daß das Böse überhaupt eine Macht sei, wenn sie ihre Selbstsäkularisierung so weit treibt, daß sie sich selbst ad absurdum führt. Wenn die destruction totale droht und die Akademiker ein letztesmal sich selbst verraten.
Was kann der Maßstab sein für dieses SIC ET NON, das sich, anders als mit dem Konservatismus, mit der Reaktion verbindet: Es ist das SEIN des Schönen, ein vielleicht portatives Vaterland, eine »andere Moderne« (Michael Stahl): aus dem die Reaktion überhaupt erst schöpft, so wie der »authentische Konservatismus« meint, er könne deren Linie in einem Tradierungskontinuum weitertragen.
Dies bedeutet, die zerklüfteten Landschaften des Widerspruchs zu ertragen gegenüber dem modernen Hauptdogma der Lebenslüge vom guten, perfektionierbaren, ins Unendliche verbesserbaren Menschen. Zugleich aber hat Dávila die kobraschnelle Re-actio nicht ohne Grund mit der Haltung des Guerillakämpfers verglichen: »Wir müssen mit jeder x‑beliebigen Waffe aus jedem x‑beliebigen Gestrüpp auf jede x‑beliebige moderne Idee schießen, die allein auf dem Wege vorrückt.«
Der Reaktion ist damit die Melancholie und die saturnalische Tiefe der schon Besiegten eigen, die sublime innere Gewißheit eines Bundes der Geister, der nicht außer Kraft zu setzen ist, eine Radikalität, die weiß, daß sie sich an die meisten nicht richten kann. Doch das Antidotum zur modernen Massengesellschaft besteht auch darin, daß hier eine elitäre Grundhaltung eingefordert ist, die auf Massenwirksamkeit gerade nicht setzt. »Unnütz jemandem einen Gedanken erklären zu wollen, dem eine Anspielung nicht genügt.« (Dávila) Daher bekenne ich mich zur geistigen Reaktion auch als Summe des Konservatismus. Und ich plädiere auch für sie, freilich im Sinn eines METOPOS: nicht OU-TOPOS. Gemeint ist damit, daß keine Reaktion bislang eigentlich tief genug ging, weil sie sich doch in eine Partei oder ein Ideal verwickelte, und eben nicht Dávilas Diktum vom »Gespür für die Komplexität der Probleme« folgte. Ich verstehe dies auch im Sinn der klassischen Protreptik der Platonischen Akademie: für etwas zu gewinnen – und zugleich zu warnen.