Die Reaktion auf 1789 in sechs Thesen gefaßt

54pdf der Druckfassung aus Sezession 54 / Juni 2013

von Felix Dirsch

1.

Es gab drei Möglichkeiten der Reaktion auf 1789.

Zum einen war da die grund­sätz­li­che Beja­hung des Fort­schritts auf der Basis des vor der Revo­lu­ti­on Bestehen­den. Gemeint ist damit eine kon­ti­nu­ier­li­che Fort­ent­wick­lung ohne revo­lu­tio­nä­re Zäsu­ren. Reform von oben statt Revo­lu­ti­on von unten! So haben es die Reform­kon­ser­va­ti­ven beab­sich­tigt und in Preu­ßen durch­ge­führt. Ange­sichts der nur indi­rek­ten Aus­wir­kun­gen der Revo­lu­ti­on auf das Alte Reich ver­wun­dert es nicht, daß unter den Geg­nern der fran­zö­si­schen Ereig­nis­se hier­zu­lan­de die Reform­kon­ser­va­ti­ven domi­nier­ten, von denen August Wil­helm Reh­berg, Johann Wolf­gang von Goe­the und Fried­rich von Gentz zu nen­nen sind.

Die Restau­ra­ti­ven oder Reak­tio­nä­re bil­den die zwei­te Grup­pe. Die­se geht davon aus, daß die Zeit vor der gro­ßen Zäsur die bes­se­re gewe­sen sei, kann aber frei­lich nur schwer erklä­ren, war­um die Mas­se der Bevöl­ke­rung nicht zurück­strebt zur »guten alten Zeit«. Wäh­rend in Frank­reich mit Joseph de Maist­re und Lou­is-Gabri­el-Ambroi­se Vicomte de Bonald durch­aus theo­re­tisch ori­en­tier­te Köp­fe die­se Grup­pe reprä­sen­tier­ten, waren die Reak­tio­nä­re in Preu­ßen haupt­säch­lich ade­li­ge Män­ner der Tat, etwa der hef­ti­ge Geg­ner der Stein-Har­den­berg­schen Refor­men, der Gene­ral und Poli­ti­ker Lud­wig von der Mar­witz, der in der Auf­he­bung der Leib­ei­gen­schaft die Grund­la­gen der Gesell­schaft, näm­lich Ver­trag und Besitz, ver­letzt sah.

Eine drit­te Grup­pe durch­dach­te die Dia­lek­tik von Ver­gan­gen­heit und Zukunft. Der Pries­ter und Schrift­stel­ler Féli­ci­té de Lamen­nais ver­tei­dig­te zuerst als katho­li­scher Tra­di­tio­na­list das Anci­en régime. Im Lau­fe der Zeit wur­den aber die revo­lu­tio­nä­ren Errun­gen­schaf­ten selbst zur Tra­di­ti­on. Kon­se­quen­ter­wei­se ver­än­der­te er sei­ne Ein­stel­lung und mutier­te zum wich­tigs­ten Ver­tre­ter des libe­ra­len Katho­li­zis­mus. Auch der Phi­lo­soph Franz von Baa­der, der Lamen­nais anläß­lich sei­nes Todes in einem Bei­trag wür­dig­te, reflek­tier­te die­sen Umschlag. Der baye­ri­sche Gelehr­te arbei­te­te die Evo­lu­ti­on als das ent­schei­den­de Prin­zip des »wah­ren Fort­schritts« her­aus, weil sowohl der Reak­tio­när als auch der »Revo­lu­tio­nä­re gegen jede wah­re Ent­wick­lung protestieren«.

2.

Die füh­ren­den publi­zis­ti­schen Gegen­re­vo­lu­tio­nä­re in Frank­reich, de Maist­re und de Bonald, waren inso­fern Reak­tio­nä­re, als ihr Welt­bild durch­aus an der Ord­nung des Anci­en régime ori­en­tiert war, was zum Teil hef­ti­ge Kri­tik an die­ser nicht ausschließt.

Es greift zu kurz, de Maist­re nur als Dezi­sio­nis­ten (Carl Schmitt), Proto­fa­schis­ten (Isai­ah Ber­lin) oder kryp­to­li­be­ra­len Den­ker (Hans Mai­er) zu sehen. Er gehör­te der brei­ten Strö­mung der Phi­lo­so­phia peren­nis an, einer mys­tisch-theo­so­phi­schen Rich­tung, die sich durch die abend­län­di­sche Geis­tes­ge­schich­te zieht und durch berühm­te Geis­ter wie Meis­ter Eck­hart, Niko­laus von Kues und Jakob Böh­me reprä­sen­tiert wird. Lou­is Clau­de de Saint-Mar­tin und Mar­ti­nez de Pas­qual­ly ver­mit­tel­ten de Maist­re, dem Vater des katho­li­schen Tra­di­tio­na­lis­mus, die­ses Erbe, ins­be­son­de­re die poli­ti­sche Aus­rich­tung, die im Sün­den­fall ein Ein­falls­tor für die Legi­ti­ma­ti­on von stren­ger Straf­ge­walt sei­tens des Staa­tes erkennt. Selbst die Todes­stra­fe konn­te vor die­sem Hin­ter­grund, in Anleh­nung an klas­si­sche Autoren wie den hei­li­gen Augus­ti­nus, gerecht­fer­tigt wer­den. Die ursprüng­lich eher unpo­li­ti­sche Phi­lo­so­phia peren­nis wan­del­te sich ab die­sem Zeit­punkt zu einer emi­nent politischen.

3.

Die Kri­tik der zeit­ge­nös­si­schen Reak­tio­nä­re an der gro­ßen Umwäl­zung benö­tig­te den Rekurs auf Kon­zep­te der Poli­ti­schen Theologie.

Vor dem theo­so­phisch-mys­ti­schen Hin­ter­grund neh­men Frank­reich und die gal­li­ka­ni­sche Kir­che bei de Maist­re eine füh­ren­de Rol­le in der Heils­ge­schich­te ein. Dem ist das Land sei­ner Ansicht nach nicht gerecht gewor­den. Beson­ders die Wen­dung gegen die Reli­gi­on ist ihm Indiz für den Sieg des Sata­ni­schen. Die blu­ti­gen Ereig­nis­se führ­ten jeder­mann vor Augen, daß die Heils­ord­nung zer­stört wor­den sei. Dem »abso­lut Bösen« (Ernst Nol­te), das der savoy­ische Edel­mann für welt­ge­schicht­lich sin­gu­lär ein­schätzt, hält er das Kon­zept der Poli­ti­schen Theo­lo­gie ent­ge­gen. Nach­dem die Sün­de des Umstur­zes jede opti­mis­ti­sche Sicht der Ver­nunft unmög­lich gemacht hat, bleibt nur eine posi­ti­ve Per­spek­ti­ve auf Opfer, Gehor­sam, Inqui­si­ti­on und eini­ges mehr, das für die meis­ten Nach­ge­bo­re­nen das Bild de Mai­s­tres ver­dun­kelt. Das Straf­ge­richt von »1789«, die mas­si­ve »Gewalt­ge­schich­te der Fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on« (Horst Geb­hard), hat den einst der Ver­nunft gegen­über wohl­wol­len­den, »from­men« Frei­mau­rer zum ultra­mon­ta­nis­ti­schen Auf­klä­rungs­feind wer­den las­sen, der jed­we­der »phi­lo­so­phi­schen Kor­rekt­heit« (Schmidt-Big­ge­mann) widerspricht.

4.

Die Kri­tik an abs­trakt-unge­schicht­li­chen Zustands­be­schrei­bun­gen von Mensch und Gesell­schaft ist ein Kern­stück der Pole­mik von de Maist­re, de Bonald und ande­ren Gegenrevolutionären.

Der Dis­kurs der Auf­klä­rung brach­te häu­fig ein Ide­al­bild von Mensch und Gesell­schaft her­vor, das nur zur revo­lu­tio­nä­ren Legi­ti­ma­ti­on poli­ti­scher Herr­schaft dien­te, mit der rea­len All­tags­welt aber gar nichts zu tun hat­te. Bei­spie­le sind die Fas­sung des Natur­zu­stan­des bei Rous­se­au, Kants Vor­stel­lung vom »ewi­gen Frie­den« und die »Brie­fe« über die ästhe­ti­sche Erzie­hung bei Fried­rich Schil­ler. Er läßt in die­ser Schrift bereits die Visi­on vom Men­schen auf­blit­zen, der Mensch sei, indem er spie­le. Dem­nach sei der Mensch als sol­cher nur authen­tisch, wenn er von gesell­schaft­li­chen Zwän­gen und Zwe­cken ent­bun­den wer­de. De Maist­re dage­gen ruft eine Bin­sen­weis­heit in Erin­ne­rung: »Ich habe in mei­nem Leben Fran­zo­sen, Ita­lie­ner, Rus­sen usw. gese­hen. Dank Mon­tes­quieu weiß ich sogar, daß man Per­ser sein kann. Einen Men­schen aber erklä­re ich nie im Leben gese­hen zu haben, er müß­te denn ohne mein Wis­sen vor­han­den sein«.

Statt das Lob­lied auf den abs­trak­ten Men­schen zu sin­gen, dem man kei­ne Funk­ti­on über­tra­gen kön­ne, emp­fiehlt de Bonald die »Unter­ord­nung aller Wesen unter die Bedin­gung ihrer Erhal­tung« (Spae­mann). Folg­lich pro­fi­lier­te er sich nicht nur als »Anti-Rous­se­au par excel­lence« (Hans Mai­er), son­dern eben­so als »Anti-Schil­ler«, der auf eine Tra­di­ti­ons­li­nie vor­aus­weist, die von Augus­te Comte bis zu Charles Maur­ras reicht. Ähn­lich steht es um die Beur­tei­lung des Gesell­schafts­ver­tra­ges. Die­ses Kon­strukt beschreibt eine ide­al­ty­pi­sche Situa­ti­on, in der die Sub­jek­te als Freie und Glei­che her­aus­ge­stellt wer­den. Die­se ermäch­ti­gen einen Herr­scher, der ent­we­der an bestimm­te Auf­la­gen gebun­den ist (Locke) oder weit­hin frei agie­ren kann (Hob­bes), unter der Bedin­gung, daß er imstan­de ist, die Sicher­heit auf­recht­zu­er­hal­ten. De Maist­re betrach­tet sol­che hypo­the­ti­schen Dar­stel­lun­gen als Uni­for­mie­rung, die der Viel­falt der Völ­ker, Staa­ten, Sit­ten, Tem­pe­ra­men­te nicht gerecht wer­den könne.

5.

Reak­ti­on bedeu­tet Kri­tik an indi­vi­dua­lis­ti­schen Ten­den­zen. Die Auf­klä­rung ist öfters auch als das huma­nis­ti­sche Zeit­al­ter bezeich­net wor­den. Die Glo­ri­fi­zie­rung des Indi­vi­du­ums zeigt sich nicht zuletzt in der Ein­for­de­rung spe­zi­el­ler vor­staat­li­cher Per­so­nen­rech­te wie des Rechts auf Eigen­tum (Locke). Im wei­te­ren Fort­gang die­ser Epo­che wird sogar die Aner­ken­nung der Men­schen­rech­te als Basis und Legi­ti­ma­ti­on jed­we­der staat­li­chen Herr­schaft (Kant, Rous­se­au) pos­tu­liert. Die Gemein­schaft hat die­se Rech­te zu gewäh­ren, wird also zum blo­ßen Hand­lan­ger des Sub­jekts, dem es nach gegen­re­vo­lu­tio­nä­rer Ansicht gelun­gen ist, »sich eine neue Gesell­schaft zu machen, deren Gesetz­ge­ber und Macht­ha­ber man selbst ist« (de Bonald). Die­sen Cha­rak­ter der Gesell­schaft als Spiel­ball der ein­zel­nen kann ins­be­son­de­re de Bonald nicht akzep­tie­ren, hat doch das Indi­vi­du­um alles, was es besitzt, vom Kol­lek­tiv, in dem es auf­ge­wach­sen ist, erhal­ten – allein schon durch die Ver­mitt­lung, die die Spra­che besorgt. Bonald betrach­tet die Her­aus­lö­sung des ein­zel­nen aus dem Kos­mos der Funk­tio­nen der Gemein­schaft als Gefahr. Daher ist er bestrebt, den ein­zel­nen vom pri­va­ten in den all­ge­mei­nen Bereich zu ver­set­zen und ihn in poli­ti­sche Stän­de einzuordnen.

6.

Zeit­ge­nös­si­sches reak­tio­nä­res Den­ken und Han­deln gegen »1789« ver­mei­det vie­le nega­ti­ve Impli­ka­tio­nen der Gegen­re­vo­lu­tio­nä­re des 20. Jahrhunderts.

Reak­tio­nä­res Den­ken muß in einer Wei­se und bis zu einem gewis­sen Grad so poli­ti­siert sein, daß es sich mit dem revo­lu­tio­nä­ren Impe­tus mes­sen kann. Den­noch ist die zeit­ge­nös­si­sche Reak­ti­on auf »1789« in vie­ler­lei Hin­sicht deut­lich geis­ti­ger, sprich: theo­lo­gi­scher, aus­ge­rich­tet als die anti­re­vo­lu­tio­nä­ren Aktio­nen etwa nach 1918 in eini­gen euro­päi­schen Län­dern wie in Ungarn. Hier ging die Gegen­re­vo­lu­ti­on in eine rei­ne Mili­tär­dik­ta­tur über. Letz­te­re hat mit tra­di­tio­nel­len poli­ti­schen Regimes oft wenig zu tun, son­dern ist ihrer­seits eher modern aus­ge­rich­tet, jeden­falls in der Anwen­dung der Herr­schafts­mit­tel. Anders wie­der­um die Grund­ab­sicht der Gegen­re­vo­lu­tio­nä­re de Bonald und de Maist­re: Sie woll­ten nicht nur den Bruch mit der Über­lie­fe­rung über­win­den, son­dern die Rück­kehr zu einer alten Ord­nung, einer frei­lich unver­schüt­te­ten, ermög­li­chen, dem­ge­mäß zu einer »Ord­nung über­haupt« (Aurel Kol­nai). Sie gilt als der rei­ne Ursprung.

Das frei­lich setzt die Negie­rung revo­lu­tio­nä­rer Prin­zi­pi­en vor­aus. So beschreibt de Maist­re die Gegen­re­vo­lu­ti­on anhand eines Bei­spiels dadurch, daß sie kei­ne Königs­wahl durch das Volk gut­hei­ßen kön­ne, selbst wenn es in der Lage wäre, die »rich­ti­ge«, das heißt: legi­ti­me, Wahl zu tref­fen. Denn: Gott benutzt bei sei­ner Ent­schei­dung die Unter­ta­nen als Werk­zeug. Selbst für jene Ver­bre­cher, die für die Mor­de in der unmit­tel­ba­ren Fol­ge­zeit von 1789 ver­ant­wort­lich sind, gilt die­ser Befund. Bestehen die wesent­li­chen Grund­sät­ze der Revo­lu­tio­nä­re dar­in, Chris­ten­tum und Mon­ar­chie aus­zu­lö­schen, ver­su­chen die Geg­ner der Neue­rer hin­ge­gen, bei­des hoch­zu­hal­ten und deren gesell­schaft­li­che Rele­vanz wiederherzustellen.

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