Frenzel zur Strecke gebracht: Seit über 50 Jahren wird deren Standardwerk Daten deutscher Dichtung aufgelegt, es ist mittlerweile in der 35. Auflage erschienen, und die greise Verfasserin ergänzt es noch immer eigenhändig.
Diesem Treiben hat der von der taz herkommende Weidermann nun am vergangenen Sonntag einen Riegel vorgeschoben: In einem Großartikel für die FAS nennt er Frenzels Zusammenstellung der wichtigsten deutschen Werke vom Minnesang bis heute einen “grotesken Kanon” mit erheblichen Lücken, und zwar genau dort, wo sich Weidermann selbst als unverzichtbare Stimme plazieren will: im Bereich der Bücherverbrennung, der Reinigung des Literaturkanons im nationalsozialistischen Geist. Darüber hat er nämlich letztes Jahr ein eigenes Buch vorgelegt, und das flutscht seit vorgestern vielleicht wieder ein bißchen besser.
Zur Methode: Weidermann weidet Frenzels Dissertation über Die Gestalt des Juden auf der neueren deutschen Bühne (1938, da war sie 24) aus und unterstellt Gesinnungstreue bis heute. Des weiteren hat er Frenzels doppelbändige Daten deutscher Dichtung durchgeblättert und festgestellt, daß Klaus Mann, Kurt Tucholsky, Siegfried Kracauer und Egon Erwin Kisch mit keinem ihrer Werke vertreten sind. Auch Armin Wegner und Irmgard Keun fehlen. Dafür sind Ina Seidel, Hans Rehberg, Erwin Gudo Kolbenheyer und Richard Billinger vertreten.
Ich wills jetzt mal übers Knie brechen: Tucholsky und Mann sind in aller Munde, obwohl sie bei Frenzel fehlen. Kracauer war Journalist und Kisch schrieb Kitsch. Den SA-Mann Rehberg kennt kein Mensch mehr (trotz Frenzel), den SS-Mann Grass aber jeder (und er kommt vor!); Billinger und Kolbenheyer sind verschwunden, und wer die Seidel eine Nazi-Schriftstellerin nennt, wird vom bolschewistischen Tucholsky nicht schweigen wollen, oder?
Zu anderen weggesäuberten: Heinrich Mann, Franz Werfel, Bertolt Brecht, Alfred Döblin, Arthur Schnitzler, Arnold und Stefan Zweig usf. kommen alle vor, teils episch, also fast mit allen Werken. Ihr Exil, die Methoden der Verdrängung, die offizielle Literaturpolitik: Alles wird in einem Kapitel thematisiert und durch den Begriff der “Inneren Emigration” ergänzt.
Vielleicht hätte Frenzel von Klaus Mann etwas aufnehmen können, und von Tucholsky ein paar Gedichte erwähnen, aber “Lücken”? “Grotesker Kanon”? Mir fehlen von Horst Lange Die schwarze Weide, von Franz Werfel Die 40 Tage des Musa Dhag, von Niebelschütz Die Kinder der Finsternis und von Beumelburg Gruppe Bosemüller. Frenzel führt dagegen für 1934 Willy Bredels Die Prüfung an (einen Roman aus dem KZ) und – bloß als Beispiel – die im Moskauer Exil erschienenen Gedichte Johannes R. Bechers.
Zur Frenzel: Sie und ihr Mann, der ebenfalls “verstrickt” war, machten nach 45 keine Karriere mehr, das vermerkt sogar Wikipedia. Aber sie haben germanistisch solide gearbeitet. Was will ich sagen? Ich will eigentlich bloß zwei Fragen stellen:
1. Wie oft wird Hitler noch besiegt? (Gestern, also einen Tag nach Weidermanns Artikel, hat dtv die Daten aus dem Programm genommen. dtv-Verleger Wolfgang Balk sagt, er habe den Ausführungen Weidermanns selbstverständlich “nichts entgegenzusetzen”.)
2. Wie ist das mit der Mündigkeit, wenn geschätzte anderthalb Millionen Leser aus dem akademischen Milieu das Groteske und die Brandlöcher der Frenzelschen Daten nicht erkannten?
Und noch was: Ich studierte in Heidelberg Germanistik bei Professor Borchmeyer. Er sagte immer: Schaut bei der Frenzel nach. Sie war zwar eine Nazi-Tante , aber das gab sich. Und sie ist unverzichtbar.
Mein Rat: Kauft die Daten, aber auch die Motive der Weltliteratur und die Stoffe der Weltliteratur, solange es der Weidermann noch erlaubt. Millionen Germanisten können nicht irren!