Der romantische Dünger

pdf der Druckfassung aus Sezession 59 / April 2014

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

»Das Genaue ist das Fal­sche. Es läßt den Hof, den Nim­bus nicht zu. Unse­re Lebens­sphä­re ist das Vage, das Unge­fäh­re« (Botho Strauß). — Es gibt in der Sphä­re der Poli­tik – also dort, wo es um den Bau und den Erhalt der poli­ti­schen Ord­nung geht – drei unver­zicht­ba­re Kate­go­rien für jeden Rechten:

das Volk (die eth­nisch-kul­tu­rel­le, nicht star­re, aber erkenn­bar abge­grenz­te Schick­sals­ge­mein­schaft), die Nati­on (die­se Wil­lens­be­kun­dung des Vol­kes zur Sou­ve­rä­ni­tät) und die Gro­ße Erzäh­lung (den Bericht über die Tage und Taten des »Wir«, das aus die­ser Erzäh­lung Kraft schöpft).

Lei­der steht es – um es mit einem Rest an Hoff­nung aus­zu­drü­cken – in Deutsch­land mit die­sen drei Grö­ßen nicht zum Bes­ten. Das Volk schrumpft, die Ver­lus­te wer­den durch Zuwan­de­rer aus­ge­gli­chen, ein quan­ti­ta­ti­ver Aus­tausch, bei dem die Qua­li­tät (das heißt: die Unver­wech­sel­bar­keit, die aus der Ver­wur­ze­lung rührt) kei­ne Rol­le mehr spielt. Man muß ja auch zuge­ben: Ob der welt­läu­fi­ge Kon­su­ment als Spa­ni­er in Mün­chen, als Tür­ke in New York oder als Deut­scher in Lon­don job­ben und shop­pen geht, ist letzt­lich egal. Dem Volk wird dadurch dop­pelt zuge­setzt, bei­des raubt ihm sei­ne Eigen­tüm­lich­keit – unum­kehr­bar wahrscheinlich.

Zur Nati­on ist zu sagen, daß sie ihre Sou­ve­rä­ni­tät nach 1945 nie mehr zurück­er­hal­ten und allein in den ver­gan­ge­nen zwan­zig Jah­ren so vie­le Kern­kom­pe­ten­zen an supra­na­tio­na­le Insti­tu­tio­nen abge­ge­ben hat, daß alles poli­ti­sche Han­deln wirkt, als kle­be man Tape­ten über schimm­li­ge Wände.

Von der Gro­ßen Erzäh­lung schließ­lich ist die Aus­leuch­tung der gro­ßen Saue­rei­en geblie­ben. Natür­lich kann man Chris­to­pher Clarks Bericht über den som­nam­bu­len Tau­mel in den Ers­ten Welt­krieg für einen ers­ten Schritt auf dem Weg der Rück­erobe­rung ver­lo­re­ner Deu­tungs­macht hal­ten, indes: Wäh­rend wir auf die­sen klit­ze­klei­nen His­to­ri­ker­streit hof­fen, speist die Deut­sche Film­för­de­rung acht­ein­halb Mil­lio­nen Euro in die Hol­ly­wood-Schmon­zet­te Monu­ments Man ein, weil Geor­ge Cloo­ney in Mer­se­burg und Babels­berg dreht. Er behaup­tet in sei­nem Film, daß es die Ame­ri­ka­ner gewe­sen sei­en, die inmit­ten der klei­nen Unord­nung des alli­ier­ten Vor­mar­sches das kul­tu­rel­le Erbe der Mensch­heit vor der Zer­stö­rung bewahr­ten. Gedreht hat die­ser grin­sen­de Blen­der bei­spiels­wei­se auch in Hal­ber­stadt, die­sem kriegs­un­wich­ti­gen Städt­chen, das am 8. April 1945 inner­halb von zwan­zig Minu­ten durch Bom­ben voll­kom­men zer­stört wur­de. Drei Tage spä­ter mar­schier­ten die Ame­ri­ka­ner in das ein, was ihre Luft­waf­fe übrig­ge­las­sen hat­te, und ver­mut­lich zog irgend­ein Cloo­ney schon damals aus den Trüm­mern ein Gemäl­de mit ange­kohl­tem Rah­men, um es für die Mensch­heit aufzubewahren.

»Für uns also heißt es: über­aus auf­merk­sam unter­ge­hen«, schreibt Botho Strauß. Mit »uns« kann er nur uns meinen.

Die Neue Rech­te wird seit Alain de Benoists Pro­gramm einer Kul­tur­re­vo­lu­ti­on von rechts mit Anto­nio Gramscis Stra­te­gie der Erobe­rung der kul­tu­rel­len Hege­mo­nie in Ver­bin­dung gebracht: Wer Begrif­fe defi­nie­re, Debat­ten füh­re und gewin­ne, Slo­gans durch­set­ze und die Kul­tur welt­an­schau­lich kano­ni­sie­re, wer­de zu einem Macht­fak­tor, den die Poli­tik auf Dau­er nicht igno­rie­ren kön­ne. Wir haben die­sen Ansatz in der Sezes­si­on nicht nur etli­che Male durch­de­kli­niert – die Sezes­si­on selbst ist eine Stre­cke auf die­sem Weg. Dabei gab und gibt es stets drei Sphä­ren: den Ein­zel­nen, die Poli­tik und das Ganze.

Der Ein­zel­ne zielt auf die Ver­wirk­li­chung des ihm Ange­mes­se­nen und hin­ter­läßt dabei eine Spur. Die­ser Anspruch der ers­ten Sphä­re ist in sei­nem Wech­sel­spiel aus Frei­heit und Bin­dung eines der gro­ßen, kon­ser­va­ti­ven The­men – er wirft die Fra­ge nach innen- und außen­ge­lei­te­tem Han­deln, nach Dienst und Ein­pas­sung, Wider­stand und Ego non auf; Es geht also um ein grund­sätz­li­ches Zurecht­kom­men, um das eige­ne Schick­sal, um das »Eigen­tum« in einem weit über den Besitz hin­aus­wei­sen­den Sinn. Die­se ers­te Sphä­re ist total, sie ist exis­ten­ti­ell und spielt für die Fra­ge nach der Stra­te­gie Gramscis inso­fern eine Rol­le, als aus ihr her­aus ein Gut­teil jener Per­sön­lich­keit geformt, gestärkt und ent­las­sen wird, die aus­grei­fen und Wir­kung ent­fal­ten möchte.

Ort die­ses Wir­kens ist zum einen der poli­ti­sche Raum. Die­se zwei­te Sphä­re ist von der Arbeit am Mach­ba­ren geprägt, und es gibt auf Dau­er nur eine Mög­lich­keit, in die­ser Sphä­re zu ver­wei­len: indem man sich von den Gege­ben­hei­ten, den Wir­kungs­ge­set­zen und den Mach­bar­keits­hin­wei­sen der Poli­tik zum Poli­ti­ker erzie­hen läßt, von der Anma­ßung also zum Ange­mes­se­nen fin­det und weder das Ich, noch das Gan­ze gegen Aus­gleich und Kom­pro­miß setzt. Bleibt es beim Ich, wird man zum Nar­ren, soll es das Gan­ze sein, endet es im Cha­os oder in der Katastrophe.

Die­ses »Gan­ze« näm­lich – getra­gen nicht vom kom­pro­miß­be­rei­ten, son­dern vom anma­ßen­den »Ich« – ist die drit­te Sphä­re: der Ort des gro­ßen Ent­wurfs, der Kunst, des Traums, der Rück­sichts­lo­sig­keit, der Lebens­stei­ge­rung, des Rau­sches, der Kom­pro­miß­lo­sig­keit, des gro­ßen Moments, der irra­tio­na­len Vita­li­tät, und nicht nur jene, die bruch­los von Luther über Nietz­sche zu Hit­ler durch­er­zäh­len, sehen in der Über­tra­gung der Inner­lich­keit, der Grals­sehn­sucht und der Tie­fe auf die Poli­tik den Sün­den­fall des deut­schen Geis­tes an sich.

Carl Schmitts Arbeit über die Poli­ti­sche Roman­tik ist das Doku­ment einer theo­re­tisch geglück­ten Selbst­hei­lung. Schmitt selbst schwank­te als jun­ger Mann zwi­schen sei­ner Nei­gung zur Ger­ma­nis­tik und sei­ner Ein­sicht in die Not­wen­dig­keit einer Kar­rie­re als Staats­recht­ler. Mit der 1919 erschie­ne­nen Poli­ti­schen Roman­tik war die Ent­schei­dung gefal­len: Schmitt beschrieb den Typus des Roman­ti­kers der­ge­stalt, daß er ihn selbst nicht mehr ver­kör­pern woll­te und konn­te. Er nahm ihm zunächst die deut­sche Exklu­si­vi­tät: Zwar habe sich das Roman­ti­sche (also eine bestimm­te, an der his­to­ri­schen Roman­tik aus­ge­rich­te­te Art des geis­ti­gen Zugriffs) in Deutsch­land auf beson­de­re Wei­se mani­fes­tiert und behaup­tet, sei aber ins­ge­samt das Ergeb­nis einer bei­na­he not­wen­di­gen Ent­wick­lung der moder­nen Psy­che: Der Roman­ti­ker glau­be im Gefol­ge Rous­se­aus und Her­ders dar­an, daß die aus Ver­nunft und Auf­klä­rung rüh­ren­de Ent­fer­nung des Men­schen von sei­ner »Natur« ein Vor­gang der Ver­ar­mung sei und daß der unge­ord­ne­ten, un-ver­nünf­ti­gen, natür­li­chen Bega­bung des Men­schen Vital­kräf­te inne­wohn­ten, die es zu befrei­en und zu fei­ern gelte.

Der Mensch rückt damit ins Zen­trum der Schöp­fung, aber nicht mehr in christ­li­cher Demut: Er wird selbst zum Schöp­fer. So ver­stan­den, ist Roman­tik nach Schmitt »sub­jek­ti­ver Occa­sio­na­lis­mus, d.h. im Roman­ti­schen behan­delt das roman­ti­sche Sub­jekt die Welt als Anlaß und Gele­gen­heit sei­ner roman­ti­schen Pro­duk­ti­vi­tät.« Von die­ser Posi­ti­on aus ver­setz­te der Staats­recht­ler Schmitt dem Roman­ti­ker mit poli­ti­schen Ambi­tio­nen den Todes­stoß: Aus sei­ner expres­si­ven Schöp­fer­ges­te her­aus bleibt der Roman­ti­ker blind für die Rea­li­tät und das Unab­wend­ba­re, dem er einen anma­ßen­den, eben »occa­sio­nel­len«, selbst­ge­fäl­li­gen Ent­wurf ent­ge­gen­stellt – eine Uto­pie, die er meist als ein­zi­ger Bewoh­ner besie­delt, und dar­über hin­aus nur im Geis­te! Denn im kon­kre­ten Leben greift selbst der roman­tischs­te Roman­ti­ker auf jene Ord­nungs­leis­tun­gen zurück, die von den weni­ger inspi­rier­ten, weni­ger trun­ke­nen Bür­gern auf­ge­rich­tet wor­den sind. »Kei­ne Gesell­schaft kann eine Ord­nung fin­den ohne einen Begriff von dem, was nor­mal und dem, was Recht ist. Das Nor­ma­le ist sei­nem Begriff nach unro­man­tisch, weil jede Norm die occa­sio­nel­le Unge­bun­den­heit des Roman­ti­schen zer­stört« (Schmitt). Anders aus­ge­drückt: Auch Ein-Mann-Kaser­nen hän­gen an der öffent­li­chen Stromversorgung.

Capis­co et obmu­tes­co, dach­te Schmitt ver­mut­lich, als er sein Manu­skript abge­schlos­sen hat­te, »ich begrei­fe und ver­stum­me«. 1933 blitz­te sei­ne unter­drück­te Sehn­sucht nach dem Gro­ßen, Gan­zen, Vita­len noch ein­mal auf, obwohl er die Kata­stro­phe ahn­te. Die Fra­ge nach der Wirk­mäch­tig­keit Poli­ti­scher Roman­tik erhält aus den zwölf Jah­ren fol­gen­de Ant­wort: Nie wie­der hat eine poli­ti­sche Okka­si­on auch nur annä­hernd so elek­tri­sie­rend und erschüt­ternd, ent­fes­selnd und pro­duk­tiv, kata­stro­phal und ver­hee­rend gewirkt wie die­se kur­ze Zeit­span­ne. Das Dröh­nen die­ser deut­schen Göt­ter­däm­me­rung hallt bis heu­te nach, neben den Nibe­lun­gen­zug ist der Vor­marsch der Wehr­macht, neben Etzels Saal ist Sta­lin­grad getre­ten. Von sol­chen Orten fin­det seit jeher nie­mand zurück, und mit dem Hin­weis auf sie läßt sich unter­mau­ern, daß sich die Poli­tik auf das Prin­zip der Ver­hin­de­rung von Schmer­zen, Leid und Grau­sam­keit grün­den müsse.

»Die Span­nung zwi­schen dem Roman­ti­schen und dem Poli­ti­schen ist die Span­nung zwi­schen dem Vor­stell­ba­ren und Leb­ba­ren. Der Ver­such, die­se Span­nung in eine wider­spruchs­freie Ein­heit zu über­füh­ren, kann zur Ver­ar­mung oder zur Ver­wüs­tung des Lebens füh­ren. Das Leben ver­armt, wenn man sich nichts mehr vor­zu­stel­len wagt über das hin­aus, was man auch leben zu kön­nen glaubt. Und das Leben wird ver­wüs­tet, wenn man um jeden Preis, auch den der Zer­stö­rung und Selbst­zer­stö­rung, etwas leben will, bloß weil man es sich vor­ge­stellt hat. Wenn wir die Ver­nunft der Poli­tik und die Lei­den­schaft der Roman­tik nicht als zwei Sphä­ren begrei­fen und als sol­che zu tren­nen wis­sen, wenn wir statt des­sen die bruch­lo­se Ein­heit wün­schen und uns nicht dar­auf ver­ste­hen, in min­des­tens zwei Wel­ten zu leben, dann besteht die Gefahr, daß wir in der Poli­tik ein Aben­teu­er suchen.« (Rüdi­ger Safranski)

Hier ist das alles also wie­der klar von­ein­an­der geschie­den und doch väter­lich ver­mit­telt: die Poli­tik von der Kunst, das Mög­li­che vom Gan­zen, die sozia­le Fra­ge von der Schön­heit, und nicht schwer ist es, zu erken­nen, wor­auf das hin­aus­läuft: Der pani­sche Schre­cken, den die Kunst ver­brei­ten kann, wird ersetzt durch eine Art roman­ti­schen Dün­ger. Das Leben soll schon sei­ne paar Erre­gungs- und Ver­zü­ckungs­spit­zen haben, am bes­ten aber nur Sams­tags zwi­schen neun­zehn und ein­und­zwan­zig Uhr drei­ßig. Der­lei Sphä­ren­tren­nung ist ver­gleich­bar mit dem Eifer, Muse­en zu bau­en und um jeden etwas älte­ren Stein einen Zaun zu ziehen.

Alles ist behan­delt, beschrie­ben und abge­legt, man weiß viel, eigent­lich alles, aber nichts zün­det mehr. Der blo­ßen Ver­wal­tung des Lebens wird durch einen vom Ernst abge­trenn­ten, inne­ren Erleb­nis­park vor­ge­beugt. An die Stel­le der Tem­pe­ra­tur­er­hö­hung tritt das fol­gen­lo­se »Inter­es­se«, tritt das, was Nietz­sche das »Schweiß­tuch des Bür­gers« genannt hat: geord­ne­te Erre­gung, weit ent­fernt von dem, was der Tor­so Apolls zu bewir­ken ver­moch­te und ver­mag – »Du mußt dein Leben ändern!«

Anschei­nend ver­wei­gern sich nur Unbe­lehr­ba­re einem neu­en Trend: Neu­er Rea­lis­mus ist sein Name, die AfD ver­kör­pert ihn, die Jun­ge Frei­heit ver­brei­tet ihn, Vor­den­ker beschrei­ben sei­nen sprö­den Charme und die ihm inne­woh­nen­de Hin­wen­dung zu Lage­fest­stel­lun­gen, Mach­bar­keits­über­le­gun­gen und poli­ti­scher Beschei­den­heit. Die Fra­gen lau­ten: Wo kön­nen wir anknüp­fen, wel­che Krö­ten müs­sen wir schlu­cken? Impli­zit bedeu­tet das: Wer jetzt noch mehr als das will, was mög­lich gewor­den ist, kann nicht mehr für poli­tik­fä­hig gel­ten. Denn die Sphä­re der Poli­tik, aus der bis­her jeder Ansatz von rechts hin­aus­ge­prü­gelt wur­de, scheint offen zu sein für die­se Mix­tur aus libe­ra­lem Kon­ser­va­tis­mus, Über­deh­nungs­war­nung und kom­mu­ni­ta­ris­ti­scher Dis­zi­plin. Nicht weni­ge Kon­ser­va­ti­ve und Rech­te sehen die Chan­ce, poli­tisch zu Wir­kung, Ein­fluß, sogar zu Macht zu gelan­gen, und es ist der Vor­gang an sich, der sie dazu bringt, plötz­lich auf die­sen Mini­mal­kon­sens zu pochen. End­lich dabei!

Vor die­sem Hin­ter­grund und die­ser Dyna­mik gilt es, eine grund­sätz­li­che Ent­schei­dung zu tref­fen: Sind die direk­te und die meta­po­li­ti­sche Ein­fluß­nah­me auf die zwei­te Sphä­re von sol­cher Bedeu­tung, daß sie ab sofort die Richt­schnur rech­ten Den­kens, Publi­zie­rens und Han­delns sein soll­ten und alles, was auf die Poli­tik aus­ge­rich­tet ist, einer Art Par­tei­dis­zi­plin unter­wer­fen dür­fen? Ist die Anma­ßung – die­se Maxi­mal­for­de­rung des Ichs oder des Gan­zen – tat­säch­lich das Schlimms­te, was man jetzt, gera­de jetzt hin­ein­tra­gen könn­te in den ein ganz klein wenig auf­bre­chen­den, durch und durch libe­ra­len, abge­si­cher­ten, auf die Mit­te hin ori­en­tier­ten Konservatismus?

Wer zu vie­le Krö­ten schluckt, kann nichts Gro­ßes mehr erzäh­len, und vor allem opfert er der Struk­tur das Not­wen­di­ge. Anzu­knüp­fen heißt näm­lich, auch in Zukunft auf die­ses Geflecht Rück­sicht neh­men zu müs­sen. Dies ist also eine grund­sätz­li­che Ent­schei­dung: für oder gegen die Sezes­si­on. Denn nur los­ge­löst von engen Bin­dun­gen in die zwei­te Sphä­re gelingt es, der Gro­ßen Erzäh­lung den tak­tie­ren­den Ton zu neh­men und das Mobi­li­sie­ren­de, Magne­ti­sche, Elek­tri­sie­ren­de gegen den Rea­lis­mus (sei er alt, sei er neu, sei er ver­nünf­tig) zu stel­len, nach einem uralten poe­ti­schen Gesetz: Zwar war es nie so, wie es erzählt wird, aber es wirkt immer! »Der Reak­tio­när«, schreibt Botho Strauß, »ist Phan­tast, Erfin­der (der Kon­ser­va­ti­ve dage­gen eher Krä­mer des angeb­lich Bewähr­ten). Gera­de weil nichts so ist, wie er’s sieht, noch gar nach sei­nem Sinn sich ent­wi­ckelt, stei­gert er die fik­ti­ve Kraft sei­ner Anschau­ung und ver­teilt die nach­hal­tigs­ten Güter. Oder die lan­ge anhal­ten­den. Oder die im Erhal­ten sich erneuernden.«

Es ist ein müßig, immer wie­der auf die Bilanz der Poli­tik der letz­ten Jahr­zehn­te hin­zu­wei­sen. Die­ser schlei­chen­den Kata­stro­phe, die­ser Auf­lö­sung aller Din­ge fehlt das Alar­mie­ren­de. Man kann ganz gut leben, wenn man über gar kei­nen oder einen sehr geord­ne­ten Kopf ver­fügt, wenn einem also die Ver­ödung des Lebens gar nicht oder nur aus der Distanz zusetzt. Zivi­li­sa­ti­on? Für Arnold Geh­len ist das nichts ande­res als die »Kata­stro­phe im Zustand ihrer Leb­bar­keit«. Das von Max Weber beschrie­be­ne »stäh­ler­ne Gehäu­se« aus Insti­tu­tio­nen, Bedürf­nis­be­frie­di­gung und Ver­wal­tungs­not­wen­dig­keit, in das sich der ein­zel­ne Mensch inner­halb der Mas­sen­ge­sell­schaft gezwängt sieht, garan­tiert die­se Leb­bar­keit und schnürt natür­lich auch den Poli­ti­ker in ein Kor­sett: Er wird zum anti-erha­be­nen Typ – wenn er es nicht schon immer war – und kann kei­ne Alter­na­ti­ve mehr formulieren.

Dies könn­te nur dem gelin­gen, der Maß­stä­be aus einer Sphä­re mit­bräch­te, in der die Poli­tik kei­ne Rol­le spielt: Glau­be, Dich­tung, Ander­land. Er hät­te ein ganz ande­res Bild dabei, eine Gro­ße Erzäh­lung, und vor allem wäre er von furcht­erre­gen­der, ange­mes­sen rück­sichts­lo­ser Ent­schlos­sen­heit. Der Ein­zel­ne und sein inne­res, sein poe­ti­sches Reich – wer wirk­lich schöp­fe­risch und restau­ra­tiv zugleich wir­ken will, muß dort gewohnt haben. Hat der ein oder ande­re Rea­list viel­leicht die Geburt des Täters Claus Graf Schenk von Stauf­fen­berg aus dem Geor­ge-Kreis (mit­hin im Gehei­men Deutsch­land) über­se­hen? Keim­te nicht gera­de in die­sem glän­zen­den Offi­zier etwas, das zur rech­ten Zeit rei­fen konn­te? Mehr von die­sem Dünger!

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

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Kommentare (15)

Rainer Gebhardt

16. April 2014 08:38

Das ganze Heft: exzellent! Auch Ihr Beitrag, Herr Kubitscheck - obwohl der etwas hermetisch ist. Doch werden die Adressaten die Botschaft verstanden haben. Schöne Restwoche und Frohe Ostern!

Albert

16. April 2014 11:16

Ein klasse Aufsatz - ein echter Kubitschek - einer der sieben Reiter ... - kalt, elektrisierend, nur an den gerichtet, der "es schon sein eigen nennt als innerstes Begehren".

Mehr davon, nachdem es in letzter Zeit so still um G.K. geworden ist ...

Nach der Lektüre solcher Texte erscheint mir mein Alltag noch schaler, als er ohnehin schon ist... es kitzelt meinen Hunger nach dem schon verschütteten, großen Erleben wach, nach dem bündischen Tritt...

Ein Fremder aus Elea

16. April 2014 12:06

Politik dürfte stets den materiellen Vorteil dessen verfolgen, wessen Statthalter sie ist.

Glaubensbekenntnisse von Politikern sind also nicht soooo interessant.

Und was die Menschen glauben, hängt stark davon ab, was man ihnen erzählt, und zwar in erster Linie nicht von der großen Erzählung, sondern von der großen Lüge.

Erst in zweiter Linie von der großen Erzählung.

Gut, dennoch gibt sie den Kurs vor, die Lüge dient immer nur der Überwindung einzelner Hindernisse, wie ja gerade wieder schön zu sehen. Aber gab sie jemals den Kurs aus rein individuell-ästhetischen Gründen vor? Oder dienen Erzählungen stets, eben wie die Politik, dem materiellen Vorteil ihres Autors?

Ganz gleich, welches Beispiel wir betrachten, also etwa auch im Falle des Kreisauer Kreises?

Woher kam dessen Verpflichtung auf eine neue Schlichtheit?

Aus individuell-ästhetischem Empfinden oder aus der Annahme Deutschlands zukünftiger Ohnmacht? In welcher die einstigen Eliten nur dann weiterhin den Ton angeben könnten, wenn alle Deutschen zu Einbußen bereit wären?

Andernfalls würde Deutschland fremdbestimmt, wie geschehen.

Nein, jede Geschichte spricht jemandem aus dem Herzen, dessen Wohl sie dienlich ist.

Ich zitiere das Gleichnis vom guten Hirten:

Wahrlich, wahrlich ich sage euch: Wer nicht zur Tür eingeht in den Schafstall, sondern steigt anderswo hinein, der ist ein Dieb und ein Mörder. Der aber zur Tür hineingeht, der ist ein Hirte der Schafe. Dem tut der Türhüter auf, und die Schafe hören seine Stimme; und er ruft seine Schafe mit Namen und führt sie aus. Und wenn er seine Schafe hat ausgelassen, geht er vor ihnen hin, und die Schafe folgen ihm nach; denn sie kennen seine Stimme. Einem Fremden aber folgen sie nicht nach, sondern fliehen von ihm; denn sie kennen der Fremden Stimme nicht.

Durch die Tür gehen: Eine Geschichte davon erzählen, wo man hin will.

Einem Fremden nicht folgen: Die eigenen Überzeugungen nicht in seinen Worten wiederfinden.

Durch das Fenster einsteigen: Durch Lug und Trug auf den eigenen Kurs drängen.

Damit ist im Grunde alles zu dem Thema gesagt.

Ich könnte noch auf dieses und jenes eingehen, was im Artikel aufgeworfen wurde, aber ich möchte das hier nicht tun. Vielleicht später.

Disobbedisco!

16. April 2014 17:32

»Du mußt dein Leben ändern!« - mehr gibt es dazu nicht zu sagen, großartiger, seltsam unter die Haut gehender Text.

Inselbauer

16. April 2014 18:19

Sehr guter Aufsatz, überhaupt eine hervorragende Nummer. In letzter Zeit nur noch sehr gut Nummern (...)
Man fragt sich, wovon Sie das bezahlen...

Stil-Blüte

16. April 2014 19:42

Erst im Heft, dann hier noch einmal gelesen, bin ich der Ernsthaftigkeit Ihres Beitrags zuteil geworden, passend zur Karwoche. Danach dann Ihnen und Ihren Leuten - einen frohen Osterspaziergang, sind doch...

Vom Eise befreit [...] Strom und Bäche
durch des Frühlings holden, belebenden Blick;
im Tale gründet Hoffnungsglück...

eulenfurz

16. April 2014 23:01

Gibt es für einen "Rechten" tatsächlich nur das Ordnungsgefüge "Volk"? Was ist mit Familie, Region, Sprache, Kultur, Religion, Sippe, Stadtteil, Rasse, Dorf, Landschaft, Besitz, Geschichte, Stand, Geschlecht, Ahnen, Erben? All dieses wird von den Tätern, Nutznießern und Mitmachern der herrschenden Zustände fallengelassen, angegriffen und aufgelöst.

Der in seiner Ordnung verwurzelte Mensch wird zum Produktionsnomaden und zur Konsummonade. Pervers ist dabei nicht, daß Massengesellschaften widernatürliche Entwurzelungstendenzen zwangsläufig befördern, sondern die Ergebenheit der Herde in ihr vermeintlich unabwendbares Schicksal, einer Herde, die zu immer größeren Teilen gar einen Kult um die Auflösung alles Auflösbaren treibt.

Future Man

17. April 2014 00:17

Volle Zustimmung - bis auf die letzten drei Sätze.

Ein Fremder aus Elea

17. April 2014 08:26

Man kann die Sache auch unter dem Aspekt des Antriebs des Regierungshandels fassen:

https://bereitschaftsfront.blogspot.com/2014/04/anbauten.html

Demnach wäre die politische Romantik eine lustangetriebene Bewegung, welche es allerdings ebenso in Frankreich und der Sowjetunion gegeben hätte.

Der einzige Unterschied zu Deutschland besteht darin, daß in den anderen beiden Fällen die Bewegung zu einer Technokratie verkrustete.

Es fällt nicht schwer, sich das auch für das Dritte Reich vorzustellen, für den Fall, daß es überlebt hätte.

Zur Spannung zwischen Ideal und Realität, der Wille mag sich im Einzelnen einst entsprechen, wenn er alt genug geworden ist, aber wer jünger ist, hat noch etwas vor sich, ganze Gemeinschaften immer:

https://bereitschaftsfront.blogspot.com/2014/04/entruckung.html

Windwärgut

17. April 2014 09:32

"Doch werden die Adressaten die Botschaft verstanden haben."
"bin ich der Ernsthaftigkeit Ihres Beitrags zuteil geworden"
"Ich könnte noch auf dieses und jenes eingehen, was im Artikel aufgeworfen wurde, aber ich möchte das hier nicht tun. Vielleicht später."

Bedauerliche Verfassung von Kräften die man doch noch brauchte und die über ein sich wohlweislich ausgebendes Erwägen und Raunen nicht mehr herauskommen.
Karfreitag als Kummertag passt schon, nur jede Hoffnung kann/hat man längst fahren lassen.
Beklagt nicht Euren schalen Alltag, sondern kriegt doch mal den Arsch hoch, auch geistig, denn das bloße stete Wiederkäuen von hundert Jahre Altem trägt keine Frucht.

kommentar kubitschek:
täte Ihnen gern ausführlich antworten, geht aber nicht, weil ich meinen arsch gerade vom bürostuhl hochgekriegt habe, um nach den wiederkäuern zu sehen. vielleicht später.

Revolte

17. April 2014 14:53

@Windwärgut

Ja, selbst einen Sturm entfachen oder im Windschatten reiten - das ist wohl immer schon die Gretchenfrage aller großen Umstürze gewesen.
Die Crux: es gibt in unseren Breitengraden keinen Wind, in dessen Schatten man reiten könnte - das sind alles nur laue Lüftchen.

Gegenwärtig ist es in unserer Enklave ein "Wandern im Nebel", wie sie Hermann Hesse beschreibt:

Seltsam, im Nebel zu wandern!
Leben ist Einsamsein.
Kein Mensch kennt den andern,
Jeder ist allein.

Die Ein-Mann-Kasernen sitzen verstreut im ganzen Land, jeder wartet darauf, dass der andere vorprescht.
Wir brauchen einen physischen Zusammenschluss. Nur daraus kann Dynamik entstehen.

Rainer Gebhardt

17. April 2014 16:00

@ Windwärgut

„Bedauerliche Verfassung von Kräften die man doch noch brauchte und die über ein sich wohlweislich ausgebendes Erwägen und Raunen nicht mehr herauskommen.“

Starker Tobak, den Sie da verabreichen. Warum auch nicht? Mit ihrem nickname können Sie entspannt hinter der Gardine stehen und das Treiben auf Sezession ganz gefahrlos betrachten.
Nicht das Sie mich falsch verstehen, ich fordere niemanden auf das Visier hochzuklappen, aber wer hier mit offenem Visier antritt, dem muß man nicht auf die Sprünge helfen wollen.

Und wie kommen Sie darauf, daß mein Alltag schal ist. Mitnichten ist er das. Allein das Erschein der Sezession sorgt schon für Aufregung. Und was das „Arsch hoch kriegen“ angeht, das beginnt ja auch im Kopf, oder?

Nun weiß ich nicht, wie Sie Kubitscheks fordenden Aufsatz verstehen, deshalb ein paar Sätze durch meine Brille.

Ich lese ihn vor allem als Plädoyer für den Mut in der Wahrheit zu leben. Und da liegt auch schon der Hase im Pfeffer. Denn in der Wahrheit zu leben, das heißt auch (nicht nur): bestimmte öffentlichen Räume nicht zu betreten, und die Politik ist einer dieser Räume. Es ist das Dilemma der Dissidenz (oder sollte ich sagen: der Sezessionisten (ich schließe mich mit ein)), daß sie ein Ziel hat, aber die Zweck-Mittel-Logik auf dem Weg zu diesem Ziel nicht in Anschlag bringt oder nicht bringen kann, ohne Gefahr zu laufen die Sphäre der Wahrheit zu verlassen.

Kröten schlucken und Politik machen - das sind zwei Seiten der Medaille „Realismus“. Und wer das eine nicht kann, soll das andere nicht tun wollen. Eine unnachgiebige Haltung, eine unverbogene Gesinnung verbieten es „mitmischen“ zu wollen.

Ich bin mir nur nicht so sicher, ob es in der Politik überhaupt um Wahrheit geht oder ob Politik praktizierte Moralität ist. Und wir sollten uns im Klaren darüber sein, daß wir in dem Moment, in dem wir sagen „Hier stehe ich und kann nicht anders“ unserer Gesinnung folgen und weniger einer Verantwortung – worin immer die jeder Einzelne für sich bestimmt. Das ist kein Werturteil, nur die Feststellung eines nicht leicht zu lösenden existentiellen Widerspruchs. Er läuft auf Kubitscheks Frage hinaus: „Sind die direkte und die metapolitische Einflußnahme auf die zweite Sphäre von solcher Bedeutung, daß sie ab sofort die Richtschnur rechten Denkens, Publizierens und Handelns sein sollten und alles, was auf die Politik ausgerichtet ist, einer Art Parteidisziplin unterwerfen dürfen?“

Die zweite Sphäre, die Sphäre des Machbaren, des Angemessenen, die Sphäre von Wirkungsgesetzen, die dem Ich nicht unterstehen, denen es aber, wenn es aufmerksam ist, Machbarkeitshinweise abmerken kann. Wer hier wirken will, muß auf Kompromiß, auf Konsens setzen. Und gar nicht so selten muß er sich dann eben auch von der Wahrheit verabschieden. Wer es kann, bitte. Wer es nicht kann, hat Gründe. Die von Götz Kubitschek sind nicht die schlechtesten. Und da steht das Strauß-Zitat dann genau an der richtigen Stelle: „Für uns also heißt es: überaus aufmerksam untergehen.“ Heroisch? Vielleicht. Aber: Je länger ich den Spruch bedenke, um so tragischer kommt er mir vor. Egal auf welches Schiff wir uns retten – sie sinken alle.

Als ich studierte, las ich mit Gelichgesinnten heimlich Solschenizyn. Es gab einen Ausspruch von ihm, der für einige von uns zu einer Art Imperativ wurde: „Lebe nicht in der Lüge!“ Das ist anspruchsvoll, das ist rigoros und kompromißlos. Und ein bisschen asketisch ist es auch. Damals wirkte es wie der Schlag des Zenmeisters auf den geistig abschlaffenden Schüler: Man ertappte sich dabei, wie man, um seine Ruhe zu haben, das Händchen hob oder Ja und Amen sagte – und dann peng, das Gewissen: „Lebe nicht in der Lüge!“

Irgendwann bin ich dann „rüber gemacht“. Ein Freund, den ich überreden wollte mitzukommen, lehnte das mit einer damals für mich seltsamen Begründung ab: Nein, ich bin hier zuhause, und irgendwie habe ich eine Verantwortung „für das um mich herum.“ Ich hielt ihn für einen Romantiker, aber ich glaube, der Romantiker war ich. Ich mit meiner Anti-Gesinnung - bin gegangen, er ist geblieben mit seiner Verantwortung. Keiner von uns beiden hat in der Lüge gelebt. Aber ich womöglich nicht ganz in der Wahrheit. War ich der Romantiker? Manchmal denke ich: ja.
Wäre es nicht meine Verantwortung gewesen, auf dem alten Seelenverkäufer DDR zu bleiben und mit ihm unterzugehen?

Hartwig

18. April 2014 11:16

@ R.Gebhardt
Gute und nachdenkliche Sätze.
So wenig man die DDR und die Opposition in der DDR mit den heutigen Verhältnissen vergleichen kann, so sehr kann man doch konstatieren, dass der DDR sowohl echte Dissidenten als auch Opponenten innerhalb der Nomenklatura zusetzten (... die entscheidenden äußeren Kräften sollen hier nicht erörtert werden).

Schnippedilderich

23. April 2014 03:04

gestern
lugte Voltaire
hinter dem kirchenpfeiler
hervor
augenzwinkernd goß er
spöttisches
ins seitenschiff
hörte ich recht
war seine rede
auch
politische romantik
führe letztlich nur
zur kasernierung der
völker

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