Sie meinen, daß der Hinweis auf das, was ist, genügt. Sie sind »Realisten«, keine »Utopisten«, bereit, »der strengen Wirklichkeit ins Gesicht zu sehen« (Oswald Spengler), sie treiben »Realpolitik«, keine »Gefühlspolitik«. Ihre skeptische Anthropologie, ihr Geschichts- und ihr Ordnungsbewußtsein erfüllen sie mit der Überzeugung, daß »die Wirklichkeit … rechts« (Joachim C. Fest) ist. Linke und Liberale dürfen sich deshalb, ganz gleich welchen Einfluß sie ausüben und welche Machtposition sie haben, schon als widerlegt betrachten: Die Realität wird den Konservativen rächen, auch wenn dessen eigene Kräfte nicht genügen.
Angesichts dieser Eingenommenheit für den Realismus überrascht, daß sich die Konservativen nicht für den Philosophen Markus Gabriel interessieren, der einen ambitionierten – und verlegerisch sehr erfolgreichen – Versuch unternommen hat, den Realismus auf eine moderne philosophische Grundlage zu stellen. Wahrscheinlich hat die Skepsis gegenüber Gabriels Buch mit dem theoretischen Desinteresse des konservativen Lagers zu tun, vielleicht auch damit, daß wenige diesen weiland jüngsten Philosophieprofessor Deutschlands kennen, in erster Linie aber mit dem unernsten Titel – Warum es die Welt nicht gibt (Berlin: Ullstein 2013, 272 S., 18 €) – und weiter mit dem unernsten Ton, den der Autor immer anschlägt, wenn er seine Leser mit irgendwelchen Mätzchen dafür zu gewinnen sucht, seinem Denkweg zu folgen. Der hat es allerdings verdient, beschritten zu werden, denn was Gabriel anbietet, ist eine Art Generalabrechnung mit zahlreichen intellektuellen Moden der Gegenwart, an erster Stelle dem Konstruktivismus und Varianten des postmodernen Denkens. Aber es geht ihm auch um die Problematik der »weltanschaulichen Großwetterlage«: das Ausgreifen der Naturwissenschaften auf alle Bereiche menschlicher Erkenntnis – Gabriel spricht von einem Prozeß der »Fetischisierung« –, den Materialismus und den neuen Atheismus. Den »metaphysischen Trieb«, schreibt Gabriel an einer Stelle, »darf man nicht unterschätzen, denn er macht den Menschen aus«.
Gabriels »Neuer Realismus« will in erster Linie die Erkenntnisfähigkeit des Menschen rehabilitieren, schon unter Hinweis darauf, daß unsere Daseinsbewältigung im Alltag ganz selbstverständlich mit Hilfe des »Realismus der Vernunft« erfolgt, jedenfalls nicht nach konstruktivistischen Prinzipien. Der Erfolg der Spezies insgesamt spreche bereits dafür, daß wir mit der Einschätzung der Tatsachen nicht ganz falsch liegen können. Dieses Nicht-ganz-falsch-Liegen hat mit der verbreiteten Neigung zu tun, das Ganze auf sich beruhen zu lassen – ein Instinkt, der nach Gabriel in die richtige Richtung weist, weil das Ganze eben nicht erkennbar ist; der Mensch ist Teil des »Systems« Welt, er kann sich auf keine distanzierte Beobachterposition ihm gegenüber stellen und es von außen beobachtend analysieren und klassifizieren. Insofern gibt es die Welt, »den Bereich aller Bereiche«, nicht. Aber es gibt alles andere. »Der Neue Realismus nimmt also an«, heißt es, »daß Gedanken über Tatsachen mit demselben Recht existieren wie die Tatsachen, über die wir nachdenken.«
Gabriel bestreitet deshalb ausdrücklich eine Reduzierbarkeit der Wirklichkeit auf das »Universum«, also den empirisch erfaßbaren Bereich. Vielmehr ist die ganze Menge der Phänomene, denen wir uns auf verschiedene Weisen nähern, wirklich vorhanden. Allerdings erfassen wir sie auf verschiedene Weisen. Sie erscheinen innerhalb von »Sinnfeldern«, die es uns – auch vor jeder Reflexion und im Grunde von Kindesbeinen an – erlauben, Dinge und Sachverhalte aus den je geeigneten Perspektiven zu begreifen: So ist selbstverständlich klar, daß das Hausschwein nicht nur unter dem Gesichtspunkt der biologischen Klassifizierbarkeit von Interesse ist, sondern auch unter dem Aspekt seines Nährwertes, aber es kann außerdem Sympathieträger in einem Hollywoodfilm sein oder Bedeutung als religiöses beziehungsweise politisches Symbol gewinnen.
Über den »Gegenstand« Schwein lassen sich verschiedene »Tatsachen« aussagen, insofern es je besonderen »Gegenstandsbereichen« angehört, was wir in der Zuordnung zu verschiedenen »Redebereichen« zum Ausdruck bringen (können), deren Zahl wie die der Sinnfelder unendlich groß sein darf. Jede der getroffenen Aussagen ist nach bestimmten Kriterien als »wahr« oder »unwahr« zu erfassen, sie alle haben unter bestimmten Voraussetzungen ihr Recht oder Unrecht; auf diese Voraussetzungen und ihre angemessene Bestimmung kommt es an. Nur die Vermischung der Gegenstandsbereiche kann die Vorstellung von Sinnlosigkeit oder Beliebigkeit erzeugen oder die Vorstellung, daß wir »kollektiv halluzinieren«, wenn wir meinen, etwas zu begreifen, und unser Dasein letztlich nichts anderes sei als »die Tristesse eines denkenden und arbeitenden Tiers auf einem aberwitzig unbedeutenden Planeten«.
Gabriels Feststellung, »daß es kein Problem ist, Tatsachen an sich zu erkennen« und Sinnfelder zu bestimmen, mag den Konservativen sympathisch sein. Das heißt aber nicht, daß der Philosoph die Absicht hat, den Konservativen Argumentationshilfe zu bieten. Sobald das Buch den politischen Sektor berührt, wird es harmlos oder korrekt, die eigentlichen ideologischen Implikationen des Ansatzes scheinen dem Verfasser kaum klar zu sein. Er hat jedenfalls keine Vorstellung davon, wie nah er dem erkenntnistheoretischen Optimismus der Rechten steht und daß seine Ontologie und seine Rehabilitierung der Metaphysik auf diese Seite des weltanschaulichen Spektrums verweisen. Was damit gemeint ist, kann man unschwer am konservativen Mißtrauen gegenüber jedem Systemdenken ablesen und der Sympathie für den »gesunden Menschenverstand« oder den Konsens. Auf höherer Ebene hat man es mit einer Art gemäßigtem Platonismus zu tun: Wer will und wer intelligent genug ist, wer Erfahrung zu sammeln und zu nutzen vermag, kann sich dem Licht und dem wahren Charakter der Dinge annähern; wer schwach und dumm und erfahrungsresistent ist, kann es nicht. In jedem Fall gilt für Gabriel, daß die Realität unabhängig von unserer Wahrnehmung existiert und die Begriffe, auch Allgemeinbegriffe, etwas bezeichnen, was vorhanden ist.
Es liegt auf der Hand, daß man eine solche Auffassung wohlbegründet als »Realismus« bezeichnen kann, und es muß irritieren, daß es daran bis heute eine wirkmächtige Kritik gibt. Die geht auf den »Nominalismusstreit« zurück, der 1978 durch einen Aufsatz Armin Mohlers in der Zeitschrift Criticón ausgelöst wurde. Sie ist aber vor allem zu erklären aus der Nachwirkung von Nietzsches Perspektivismus und dessen Aufnahme beim frühen Ernst Jünger. Sie alle – Mohler, den frühen Jünger und Nietzsche – einte die Auffassung, daß es nichts »an sich« gibt, nur Namen, die für irgend etwas von irgendwem festgelegt wurden (daher »Nominalismus«). In einem der programmatischen Texte Jüngers aus den 1920er Jahren hieß es schon: »Wir … glauben an keine allgemeinen Wahrheiten. Wir glauben an keine allgemeine Moral. Wir glauben an keine Menschheit als an ein Kollektivwesen mit zentralem Gewissen und einheitlichem Recht. Wir glauben vielmehr an ein schärfstes Bedingtsein von Wahrheit, Recht und Moral durch Zeit, Raum und Blut. Wir glauben an den Wert des Besonderen.«
Dieser »Wert des Besonderen« kann nur durch Interpretation zur Geltung gebracht werden, und die ist abhängig von Interpreten und deren Fähigkeit, ihre Interpretationen durchzusetzen. Ob sie das erfolgreich tun, ist eine Machtfrage, nichts sonst; es gibt keine Möglichkeit, eine andere Legitimation aufzurufen, da die Wirklichkeit als solche nicht existiert. Ihre stärksten Impulse hat diese Auffassung sicher aus dem Nihilismus bezogen, der Annahme einer Welt ohne Gott, wie sie Nietzsche mit letzter Konsequenz zu denken suchte, und aus einem Voluntarismus, der alles auf den Willen des Menschen abstellte. Gleichzeitig handelte es sich um das Bemühen, den Kurzschlüssen zu entgehen, denen die rechte Intelligenz sonst zuneigte, wenn sie seit dem 19. Jahrhundert versuchte, das ältere religiöse Weltbild zu ersetzen: dem Naturalismus, den Verfallstheorien, den technokratischen Rettungskonzepten.
Das erklärt weiter, warum der Nominalismus auf den ersten Blick bestechend wirkt: Er eröffnet denen, die sich gerade noch in der Defensive sahen, abrupt einen fast unbeschränkten Handlungsspielraum. Trotzdem wird man feststellen müssen, daß die Forderung Mohlers nach einer »nominalistischen Wende« scheiterte; seine Fraktion innerhalb des konservativen Lagers blieb schwach. Sogar der wichtigste Gefolgsmann Mohlers in dieser Frage – Alain de Benoist – wandte sich nach kurzem wieder ab. Das hatte nicht nur damit zu tun, daß Mohlers Kontrahenten von Anfang an auf die Affinität des Nominalismus zu linken Weltanschauungen hinwiesen, die ihrerseits und mit mehr Überzeugungskraft die Machbarkeit der Verhältnisse postulierten. Es ging auch darum, daß Mohler die Unterstützung, die seiner Vorstellung aus dem Pragmatismus in der Linie von Sorel zu Gehlen hätte zuwachsen können, ignorierte und sich statt dessen darauf verlegte, hohe Erwartungen in den Konstruktivismus und die Postmoderne zu setzen.
Unbestreitbar war beider Nähe zu einem nominalistischen Ansatz, und Mohler glaubte, daß sie sich bei konsequenter Anwendung als rechte Konzepte entpuppen würden, jedenfalls die großen Universalismen so nachhaltig in Frage stellen könnten, daß deren Anziehungskraft ein für allemal erledigt sei. Es war insofern kein Zufall, daß er im Herbst 1984 als Leiter der Siemens-Stiftung eine Veranstaltung mit Heinz von Foerster, Ernst von Glasersfeld und Paul Watzlawick als den Repräsentanten des Konstruktivismus durchführte, die für ihn »das wichtigste« seiner Unternehmen in der Stiftung überhaupt war. Vergleichbare Energie hat er sonst nur noch in die Beschäftigung mit postmoderner Philosophie und postmoderner Architektur gesteckt, in denen er Vorläufer einer neuen Freiheit, jenseits der Verheißungen der Französischen Revolution, und einer neuen Monumentalität zu sehen glaubte.
Auffallend blieb allerdings, wie schwer es Mohler fiel, diese eher theoretischen und ästhetischen Überlegungen um eine politische Dimension zu ergänzen. Denn im Hinblick auf die von Carl Schmitt übernommene Dreiteilung der rechtswissenschaftlichen – und nicht nur der rechtswissenschaftlichen – Ansätze in Normativismus, Dezisionismus und Konkretes Ordnungsdenken optierte er für letzteres und nicht für die große Entscheidung, die dem Nominalismus entsprochen hätte. Ein ähnliches Zögern wird man auch in bezug auf den Faschismus feststellen können, dessen ideale Gestalt Mohler mit soviel Sympathie bedachte. Mussolinis Satz »Die Tat geht immer dem Gesetz voraus« war jedenfalls Dezisionismus reinen Wassers, und über den Faschismus hat man mit Recht behauptet, daß seine »politische Theologie … im Grunde Nominalismus« (Walter Keim) gewesen sei; wahrscheinlich handelt es sich überhaupt um den einzigen praktischen Versuch, mit Nietzsches »Großer Politik« in der Welt des 20. Jahrhunderts Ernst zu machen. Wenn Mohler diese Denkfigur kannte, hat er jedenfalls nicht darauf hingewiesen, was vielleicht taktisch klug war, aber eben auch das Scheitern seines Vorstoßes erklärt.
Das Kernproblem des Nominalismus liegt darin, daß er den einzelnen radikal auf sich selbst zurückwirft und ihm den Eindruck vermittelt, als komme es nur auf seine Entschlossenheit und die Gunst der Verhältnisse an, um die Dinge nach Belieben zu gestalten. Das erste widerspricht dem konservativen Menschenbild, das einem solchen Individualismus ablehnend gegenüberstehen muß, weil es den Menschen immer als Glied von Gemeinschaften – der Lebenden wie der Toten – betrachtet; das zweite widerspricht der konservativen Auffassung von Geschichte, die zwar nicht dem Gesetz des Fortschritts folgt, aber auch keine Abfolge isolierter Akte ist, sondern ein Kontinuum, dessen Struktur kaum vollständig erfaßt werden kann, aber Einsicht in Zusammenhänge von Ursache und Wirkung erlaubt, was unabdingbar ist, um Erfahrung in einem höheren Sinn zu sammeln. Die wiederum hat nur einen Wert, wenn die Welt etwas anderes ist als ein ungeordnetes Chaos, dem bestenfalls geordnete Provinzen abzutrotzen sind. Wenn nur »das Besondere das Wirkliche« ist, wie Mohler meinte, dann wird Sinn immer »gemacht«, während der Konservative davon ausgeht, daß etwas Sinn »hat«, das heißt, daß der Sinn einer Sache innewohnt und entdeckt sein will. Damit ist selbstverständlich auch die religiöse Dimension berührt, das heißt die Vorstellung, daß es ein »Jenseits« gibt, einen metaphysischen Bereich, von der der Konservative nicht abgehen kann, weil da der eigentliche Sinngarant vermutet werden muß.
Letztlich hat der Rekurs auf den Nominalismus für die Konservativen nur polemischen Wert, in jenem Sinn, den Heinrich Leo meinte, wenn er in seinem Buch Nominalistische Gedankenspäne gegen diejenigen stritt, die »sich in die Wolkenregion gemachten Denkens und des Denkmachens begeben«, oder Leopold von Ranke, wenn er »das Formelle« und »das Reale« unterschied und dann zu dem Schluß kam, daß das »Formelle … das Allgemeine, das Reale … das Besondere« sei. Es gibt ohne Zweifel unter Konservativen einen wohlbegründeten Affekt gegenüber Universalismen und ihren Erlösungsversprechen sowie gegenüber jeder Art überzogener Theorie. Dem entspricht die Achtung vor der Überlieferung, der Verbindlichkeit des Hergebrachten, des Üblichen und sogar der Gewohnheit, die intuitive Abwehr rationalistischer Eingriffe, die Liebe zu den Beständen und zur »Wärme des Unaufgeräumten« (Michael Oakeshott).
Das alles geht aber doch nicht so weit, daß der Konservative das Vorhandensein eines Ganzen, wenngleich eines nicht erkennbaren Ganzen, bestreitet. Er wird im Zweifel dem »Neuen Realismus« beipflichten, der kurz und knapp zu der Feststellung kommt, »daß wir die Dinge an sich erkennen, wenn wir überhaupt etwas erkennen«. Er nimmt an (und muß annehmen), daß die Begriffe, auch und gerade die abstrakten, etwas wirklich Vorhandenes bezeichnen, daß es Strukturen gibt, die wir zu erfassen und zu verstehen vermögen, deren Vorhandensein wir uns nicht nur einbilden, und daß der Hinweis auf eine »Konstruktion« ungenügend ist, zumal der Konstruktivismus nie voraussetzungslos arbeitet, sondern immer Fakten annehmen muß, die ihrerseits nicht konstruiert sein können. Nur unter diesen Voraussetzungen kann der Konservative das Pathos der Wirklichkeit mit Aussicht auf Erfolg in Anspruch nehmen. Er sieht sich sonst einem Wettlauf von Weltentwürfen ausgeliefert, den er nicht gewinnen kann, denn bei der Ausmalung von Zukunftsbildern, die keinen Bezug zur Realität haben müssen, sind ihm seine Konkurrenten stets überlegen.
Ernst Wald
Friedrich Nietzsche:
Markus Gabriels „Neuer Realismus“ - mit dem Karlheinz Weißmann sympathisiert - kann nicht als „eine Art Generalabrechnung mit zahlreichen intellektuellen Moden der Gegenwart“ verstanden werden. Denn eigentlich wiederholt sich in Gabriels Argumentation gegenüber den sogenannten „postmodernen“ Denkern und „Konstruktivisten“ nur der Initialstreit der Philosophiegeschichte: der Streit zwischen Sokrates und den Sophisten. Mit anderen Worten: die seit der Antike bestehende Auseinandersetzung zwischen metaphysischen (idealistischen) und materialistischen Ansätzen.
Dieser Streit zieht sich durch die Geschichte des Abendlandes und konnte letztlich nie geschlichtet werden. Denn es handelt sich bei Idealismus und Materialismus um Gegenstellungen, die sich wie zusammengekettete Feinde verhalten, welche sich den Platz streitig machen, den jeder zu Unrecht allein einnehmen will.
Übrigens flammte dieser Zwist zum letzten Mal in der Habermas-Foucault-Debatte so richtig auf. Dazu ausführlicher: