Charles Péguy: Alle unsere Häuser sind Festungen im Meer

Charles Péguy (1873-1914) war Sozialist, "Dreyfusard", Humanist, Publizist, Polemiker, Dichter, Patriot, Katholik.

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

Er fiel als Frei­wil­li­ger am 5. Sep­tem­ber 1914, zu Beginn des 1. Welt­krie­ges, am Vor­abend der Mar­ne-Schlacht.  Sein Werk hat heu­te in Frank­reich den Sta­tus eines “klei­ne­ren”, inzwi­schen etwas ver­blass­ten Klassikers.

In Deutsch­land ist Péguy so gut wie völ­lig ver­ges­sen (allen­falls Robert Spae­mann erin­nert gele­gent­lich an ihn), zumal sein Pro­sa­werk im Gegen­satz zu sei­nen recht volu­mi­nö­sen Vers­dich­tun­gen nur bruch­stück­haft über­setzt wur­de. Das hat ver­schie­de­ne Gründe.

Hans Urs von Bal­tha­sar schrieb, das “unge­heu­re” Pro­sa­werk Péguys sei “selbst für Fran­zo­sen ein Urwald”: “Vie­les dar­aus, und eini­ges vom Schöns­ten, wird immer unüber­setz­bar blei­ben. Man­ches ist Gestrüpp und wür­de eine Über­tra­gung nicht recht­fer­ti­gen. Sehr vie­les ist lei­den­schaft­li­che, zeit­ge­bun­de­ne poli­ti­sche Dis­kus­si­on und Pole­mik und setzt, um ver­stan­den zu wer­den, bereits ein his­to­ri­sches Stu­di­um vor­aus.” Hin­zu kommt noch der eigen­tüm­li­che, in end­lo­se Ara­bes­ken und “Lita­nei­en” aus­ufern­de Stil des Autors, der dem Leser oft viel abver­langt. Wenn sie aber ihre Wir­kung ent­fal­tet, hat Péguys Pro­sa eine bewe­gen­de sug­ges­ti­ve Kraft.

Bal­tha­sar gab 1953 eine von ihm selbst über­setz­te Aus­wahl unter dem Titel “Wir ste­hen alle an der Front” her­aus. Um über all dem tages­po­li­ti­schen Thea­ter die über­ge­ord­ne­te Per­spek­ti­ve nicht zu ver­ges­sen, möch­te ich als Oster­ga­be ein herr­li­ches Stück aus Péguys Schrift ” Un nou­veau théo­lo­gien”, aus dem Jahr 1911  brin­gen. Auch unse­re un- und nicht­christ­li­chen Leser wer­den es ohne Zwei­fel mit Gewinn lesen, sofern ihr Herz in einem ähn­li­chen Rhyth­mus schlägt.

Charles Péguy: Alle unse­re Häu­ser sind Fes­tun­gen im Meer

Man redet von einem Zeit­al­ter des Glau­bens. Will man damit sagen, daß jahr­hun­dert­lang, Jahr­hun­der­te der Chris­ten­heit, des Lie­bes­ge­set­zes, der Gna­den­herr­schaft, anno Domi­ni, anno gra­tiae Domi­ni, der Glau­be, die ange­nom­me­ne Wahr­heit etwas Gemein­sa­mes war, sozu­sa­gen und buch­stäb­lich etwas Öffent­li­ches, das im Blut und in den gemein­sa­men Adern floß, im Vol­ke leb­te, sich von sel­ber ver­stand, einen Teil des aner­kann­ten Rech­tes bil­de­te, etwas, das nicht nur Zustim­mung fand, son­dern eine öffent­li­che, fei­er­li­che, amt­li­che Bege­hung, und daß es sich heu­te nicht mehr glei­cher­wei­se ver­hält: so hat man recht. Man hat his­to­risch recht. Man hat bloß ein geschicht­li­ches Fak­tum fest­ge­stellt und zur Kennt­nis genommen.

Aber die­se Kennt­nis­nah­me muß mit der äußers­ten Vor­sicht gesche­hen. Denn es ist die gro­ße Fra­ge, ob unse­re heu­ti­ge Treue, unser heu­ti­ger Chris­ten­glau­be, wie er so badet in der moder­nen Welt und unan­ge­tas­tet hin­durch­geht durch die moder­ne Welt, das moder­ne Zeit­al­ter, die moder­nen Jahr­hun­der­te, die zwei oder meh­re­ren intel­lek­tu­el­len Jahr­hun­der­te, dadurch nicht eine selt­sa­me Schön­heit erhal­ten hat, eine bis­her uner­reich­te Schön­heit, eine ein­zig­ar­ti­ge Grö­ße in den Augen Got­tes. Es ist eine ewi­ge Fra­ge, ob unse­re moder­ne Hei­lig­keit, das heißt unse­re christ­li­che Hei­lig­keit, ein­ge­taucht in die moder­ne Welt, in die­se vas­ta­tio, die­sen Abgrund von Unglau­ben und Untreue in der heu­ti­gen Welt, ver­einsamt wie ein Leucht­turm, der seit bald drei Jahr­hun­der­ten ver­geb­lich von einem gan­zen Meer berannt wird, nicht doch – viel­leicht – ange­neh­mer ist in den Augen Gottes.

Noli­te judi­ca­re. Wir wer­den dar­über nicht rich­ten. Nicht wir (man ver­gißt es zu oft) sind mit dem Gericht beauf­tragt. Aber ohne bis zu den Hei­li­gen zu gehen, zu unse­ren moder­nen Hei­li­gen (der Zeit nach modern): auch wir Sün­der soll­ten uns hüten, in Hoch­mut zu ver­fal­len. Zu sehen, was ist, ist aber viel­leicht kein Hoch­mut. Fest­zu­stel­len, daß unse­re moder­ne Bestän­dig­keit, unser moder­ner Glau­be, von allen Sei­ten ange­grif­fen, bedrängt, aber in kei­ner Wei­se erschüt­tert, ver­einsamt in die­ser moder­nen Welt, im Wel­len­schlag einer gan­zen Welt, uner­schöpf­lich von Wogen und Sturm gepeitscht, immer auf­recht, allein in einer gan­zen Welt, auf­recht in einem uner­schöpf­lich ent­fes­sel­ten Meer, ein­sam im Oze­an, unan­ge­tas­tet, voll­stän­dig, nie und in kei­ner Wei­se erschüt­tert, nie und in kei­ner Wei­se schar­tig und ange­nagt, zuletzt doch ein schö­nes Denk­mal errich­tet vor dem Ange­sicht Got­tes. Zur Ver­herr­li­chung Gottes.

Vor allem ein bis­her nie gese­he­nes Denk­mal. Daß unse­re Lage neu ist, daß unser Kampf neu ist, das zu beto­nen, ist viel­leicht nicht unse­re Sache, aber schließ­lich: wer sieht nicht, daß unse­re Lage neu, daß unser Kampf neu ist? Daß die­se moder­ne Kir­che und Chris­ten­heit, christ­lich tau­chend in der moder­nen Welt, christ­lich schrei­tend durch die moder­ne Zeit, die moder­ne Peri­ode, eine Art von gro­ßer eigen­tüm­li­cher tra­gi­scher Schön­heit besitzt, bei­na­he die gro­ße Schön­heit nicht zwar einer Wit­we, aber einer Frau, die allein eine Fes­tung bewacht. Eine die­ser tra­gi­schen Schloß­her­rin­nen, die Jah­re und Jah­re das Schloß unver­sehrt bewahr­ten für den Herrn und Meis­ter, für den Gemahl.

Wer sieht nicht, daß unse­re Glau­bens­treue mehr denn je eine Lehen­streue ist. Daß unse­re Stand­haf­tig­keit, unser Glau­be, unse­re Treue, ein eige­nes, bis­her unbe­kann­tes Gewicht besit­zen, weil sie durch bis­her unbe­kann­te Prü­fun­gen hin­durch­ge­gan­gen sind. Es ist eine ewi­ge Fra­ge, ob die Unwis­sen­heit näher bei Gott ist oder die Erfah­rung, ob die Unwis­sen­heit schö­ner ist in den Augen Got­tes oder die Erfah­rung, ob die Unwis­sen­heit Gott ange­neh­mer ist oder die Erfah­rung. Aber eines kön­nen wir sagen, weil wir es sehen: unse­re Glau­bens­treue hat eine gewis­se beson­de­re Schön­heit, die wir gleich­sam erfun­den haben. Die wie geschaf­fen wur­de für die heu­ti­ge Welt. Unse­re Treue ist  gleich­sam treu­er als die eins­ti­ge Treue. Wie gestei­gert. Wie ins Licht geho­ben. Mehr als je ein Glau­be, der durchhält.

Miles Chris­ti. Jeder Christ ist heu­te Sol­dat. Kämp­fer Chris­ti. Es gibt kei­ne ruhi­gen Chris­ten mehr. Die­se Kreuz­zü­ge, die unse­re Väter in den Län­dern der Ungläu­bi­gen such­ten, sie kom­men heu­te von selbst auf uns zu, wir haben sie bei uns zu Hau­se. Unse­re Glau­bens­treue ist ein Kas­tell. Jene Kreuz­zü­ge, die gan­ze Völ­ker ver­setz­ten, die einen Erd­teil auf den ande­ren war­fen, sind zurück­ge­flu­tet auf uns, bis in unse­re Häu­ser. Die Ungläu­bi­gen, ein­zeln oder gebün­delt, umriß­los oder bestimmt, unför­mig oder geformt, allent­hal­ben ver­brei­tet, ver­an­kert im öffent­li­chen Recht – und mehr noch die Ungläu­big­kei­ten, die Treu­lo­sig­kei­ten haben den Kampf bis zu uns zurückgeschlagen.

Der Gerings­te von uns ist ein Sol­dat. Der Gerings­te von uns ist buch­stäb­lich ein Kreuz­fah­rer. Alle unse­re Häu­ser befin­den sich heu­te in peri­cu­lo maris, sind vom Meer bedroht. Der Hei­li­ge Krieg ist über­all. Er währt unun­ter­bro­chen. Das ist längst kein hun­dert­jäh­ri­ger Krieg mehr. In die­sem Moment (1911) befin­det er sich in sei­nem zwei­hun­derts­ten oder hun­dert­fünf­zigs­ten Jahr. Er ist über­all, dar­um braucht er auch nir­gends mehr gepre­digt zu wer­den. An kei­nem bestimm­ten Ort.

Die­ser Krieg, der sich einst wie ein gro­ßer Fluß beweg­te, des­sen Namen man kann­te, die­ser Krieg umspannt nun den Kon­ti­nent, geht über den Kon­ti­nent hin­aus, bewegt sich wie gan­ze Völ­ker, wie gan­ze kon­ti­nen­ta­le Armeen von einem Kon­ti­nent zum ande­ren, ist heu­te in tau­send Flüs­se auf­ge­spal­ten, er steht heu­te vor unse­rer Schwel­le, er schlägt an unse­re Tore. Wir alle sind Inseln, gepeitscht von einem unauf­hör­li­chen Sturm, und alle unse­re Häu­ser sind Fes­tun­gen im Meer.

Und das heißt, daß die Tugen­den, die einst von einer bestimm­ten Frak­ti­on der Chris­ten ver­langt waren, heu­te von der gesam­ten Chris­ten­heit ein­ge­for­dert wer­den. Ein Kampf, eine Tugend, die einst frei­wil­lig waren, da sie den Gegen­stand eines Gelüb­des bil­de­ten, sind heu­te benö­tigt, gefor­dert, gebie­te­risch auf­er­legt, ohne daß und bevor wir noch dazu Stel­lung neh­men könn­ten. Ohne daß wir befragt wür­den. Ohne daß wir unse­re Ansicht dazu äußern müß­ten. Hier gilt die Redens­art: Jeder ist Sol­dat trotz sei­ner Ein­wil­li­gung. Wel­cher Ver­trau­ens­be­weis an die Trup­pe! Es gilt buch­stäb­lich der obli­ga­to­ri­sche Mili­tär­dienst; und es ist äußerst beacht­lich, daß die welt­li­chen Staa­ten genau das glei­che Gesetz erlas­sen haben, das für die Chris­ten­heit gilt. Es ist Mas­sen­aus­he­bung (levée en mas­se).

Was Sache des Gelüb­des war und infol­ge­des­sen der Frei­heit des Ein­zel­nen über­las­sen blieb, ist Gesetz für alle gewor­den. Man hat so sehr auf uns gezählt, daß, wo die andern frei waren, wir gezwun­gen sind. Was den andern ange­bo­ten war, ist uns auf­er­legt. Was für die ande­ren außer­ge­wöhn­lich war, ist für uns gewöhn­lich, macht uns selbst aus. Aus die­sem Stoff ist unser gan­zes Leben gemacht, aus die­sem Stoff ist unser Mut gemacht.

Unse­re Väter muß­ten sel­ber “das Kreuz neh­men” und mit ihm fort­zie­hen, in den Kreuz­zug. Uns gibt Gott das Kreuz (wel­cher Ver­trau­ens­be­weis!) für einen unauf­hör­li­chen Kreuz­zug am Ort. Die schwächs­ten Frau­en, die Kin­der in der Wie­ge sind schon bela­gert. Der Krieg steht auf der Schwel­le und klopft an unse­re Pfor­ten. Wir müs­sen ihn nicht suchen, wir müs­sen ihn nicht hin­aus­tra­gen. Er ist es, der uns sucht. Er ist es, der uns fin­det. Die Tugen­den, die einst den Sol­da­ten, den bewaff­ne­ten Män­nern, den Edel­leu­ten in ihren Rüs­tun­gen vor­be­hal­ten waren, sie wer­den heu­te von die­ser Frau und von die­sem Kind abverlangt.

Von dort erwach­sen uns unse­re Stand­haf­tig­keit, unse­re Treue, unse­re Pflicht, von dort emp­fan­gen wir die­se ein­zig­ar­ti­ge Grö­ße, die­se tra­gi­sche, auf der Welt ein­zig­ar­ti­ge Schön­heit der Bela­ger­ten, die­se Schön­heit der Treue in der Ein­kes­se­lung, der die Grö­ße ent­springt, die tra­gi­sche Schön­heit der gro­ßen mili­tä­ri­schen Bela­ge­run­gen, der Bela­ge­rung von Orlé­ans, der Bela­ge­rung von Paris. Wir wer­fen uns heu­te alle in die Bre­sche. Wir ste­hen heu­te alle an der Front. Ihre Gren­ze ist über­all. Der Krieg ist über­all, in tau­send Stü­cke auf­ge­spal­ten, zer­teilt, zer­brö­selt. Wir sind heu­te alle an die Mar­ken des König­rei­ches gestellt.

 

Aus: Charles Péguy, Wir ste­hen alle an der Front. Eine Pro­sa-Aus­wahl von Hans Urs von Bal­tha­sar (1953). Bear­bei­tung und zusätz­li­che Über­tra­gun­gen von Mar­tin Lichtmesz.

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

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