Im Ernst habe ich mich ziemlich genau an die konservativsten Maßgaben gehalten, was die Definition „Jugend“ betrifft: Der hedonistische Spaß begann bei mir so pünktlich mit den sogenannten Teen-Jahren, wie er mit ihnen endete.
Zur Wave-Gotik-Szene hatte ich in meiner Jugend lose Bindungen, ich mochte die Sparte EBM, besuchte drüber hinaus Death-in-June-Konzerte und Verwandtes, trug schwarze Kajalaugen und war drei- oder viermal auf dem Leipziger Wave-Gotik-Treffen (WGT). Das fand dieses Jahr zum 23. Mal über das lange Pfingstwochenende statt, mit 21.000 Besuchern. Die aktuelle Junge Freiheit hatte mich nun erneut neugierig gemacht. Sie titelte mit „Schwarze Romantik“ und fragte ob „die Szene“ nicht ein „zutiefst deutsches Phänomen“ sei.
Moritz Schwarz führte ein ziemlich widerborstiges Interview mit einem Kulturwissenschaftler, der „selbst dem soziokulturellen Gothik-Milieu“ entstammt. Knapp zusammengefaßt bemüht sich Schwarz, die Äußerungen dieser Subkultur als Ausdruck einer „Schwarzen Romantik“ zu sehen, als überlebendes deutsches, wenigstens ureuropäisches Phänomen: Er zitiert Liedzeilen einschlägiger Musikgruppen und findet, daß zahlreiche Texte einem „traditionellen Rollenbild“ huldigen. Die Szene verkörpert für ihn, einen wohl Außenstehenden, eine Art „Gegenkultur“ zur „neuen halbstaatlichen Genderkultur“.
Sein Interviewpartner widerspricht vehement und teils wie eingeschnappt. Er weist auch Schwarzens Vermutung zurück, daß das WGT eine „nationale Subkultur des heutigen Deutschland“ sein könnte. Im Gegenteil, sagt er: Das Treffen führe Menschen zusammen, „die national geprägte Identitätsvorstellungen zugunsten selbstgewählter ästhetischer und kultureller Präferenzen hinter sich gelassen haben.“
(Dazu sollte man wissen, daß das WGT jahrelang im Verdacht stand, „rechte“ Tendenzen zu befördern.)
Jedenfalls war meine Neugierde geweckt. Der Pressemensch reagierte am Telephon etwas unwirsch. Erstens aufgrund des späten Akkreditierungswunsches, zweitens: „Der letzte WGT-Artikel von Frau Kositza war ja eher unerfreulich.“ War er? Wann? Vor drei Jahren? Vor vier? Ach wo! Das Schrumpfen der Zeit ist ein Indiz des Älterwerdens. Ich hab den Bericht gefunden und halte ihn für fast zeitlos. Unerfreulich, wieso?
Vor Ort weist mich der Presseherr abermals streng darauf hin, daß der „letzte Artikel“ ja „nich so doll“ war. Drum vorweg ein großes und ehrlich erstauntes Lob: Wer schon mal eine Veranstaltung mit mehreren hundert Leuten geplant hat, kennt den Streß. Hier: 21.000 Leute (zu beträchtlichen Teilen fremder Zunge), über sechzig Veranstaltungsorte, tausend Einzelveranstaltungen. Und alles klappt wie am Schnürchen. Müllentsorgung, Verpflegung, Kinderbetreuung, Transport. Für jemanden, der an ähnlichen Großveranstaltungen schon in anderer Herren Länder partizipiert hat, erscheint dies extrem deutsch: Wenn in Leipzig 15:30 Uhr auf dem Plan steht, beginnt die angekündigte Veranstaltung um 15:30 und keine Minute später. Das ist weltweit einzigartig!
Es fahren eigens eingerichtete Straßenbahnen zum vom Stadtkern entfernten Zentralgelände. Die ganze Stadt hat sich auf schwarzgewandete Besucher eingestellt, die Museen bieten Sonderveranstaltungen an, die Leipziger Außenstelle des Bundesbeauftragten für Stasi-Unterlagen referiert über die „Schwarze Szene in der DDR“, im Grassi-Museum führt man durch „Totenfeste auf Neuirland“, der Hilfsverein für Nächstenliebe e.V. bietet Stricknachmittage für Schwarzromantiker an und so weiter.
Als mittelalterliche Frau falle ich nicht auf, keineswegs. Ich wäre gespannt auf den Altersduchschnitt der Festivalbesucher, würde aber wetten, daß er deutlich jenseits der dreißig liegt – nach oben hin. Es ist ein bißchen ein Veteranentreffen.
Ich selbst hätte mir vor zwanzig Jahren nicht im entferntesten ausdenken könne, mit meiner Mutter ein solches Treffen zu besuchen. Nun treffe ich meine Tochter hier und finde ihre Fragen sehr unbefangen: Die Leute, die hier auf satanistisch machen, tun die nur so? Oder sind das echte Satanisten? (Mein Auto parkt neben einem, das die Ziffern 666 im Nummernschild trägt und einen waschechten Satanisten-Aufkleber auf der sauberen Heckscheibe führt. Innen auf der Konsole sind zwei Aufkleber aufgebracht: Anschnallgebot und Rauchverbot. Die Tochter wundert sich über die Gesamtmoral des Eigentümers.)
Die mit den vielen Ringen und den absurden Frisuren, haben die wohl einen Beruf? Oder sind das Arbeitslose? Gibt’s es eigentlich einen Sozialtarif für´s WGT? (Gibt es nicht.) Die Typen, die eine Frau am Halsband führen, soll das eine Provokation sein (wenn ja, an wen gerichtet?), oder laufen die öfters so rum? Ist es ein Statement oder eine Phrase? Wozu dienen speziell die Zangen am SM-Stand? Und diese Zahnpflegeprodukte in schwarz, die an einem Stand für Dentalhygiene feilgeboten werden – ist es vielen Leuten hier wichtig, daß sie ihr Gebiß mit schwarzen Bürsten und Zahnseiden pflegen, oder ist das ein Randphänomen? Ist Conchita Wurst persönlich hier, wenn ja, wie oft, oder sehen manche Leute nur zufällig so aus? (Auch unter den vielen Damen mit ausladenden Röcken und überlangen Schleppen entdecken wir einige mit Bartstoppeln.)
Witzig finde ich, daß sich eine Beobachtung meiner Tochter mit meiner von früher deckt: Jene Leute, die sich an den Ständen der Plattenlabels und –Vertreiber durch CDs und Vinyl wühlen, sind zu neunzig Prozent männlich. Und sie wirken sehr ernsthaft, äußerst konzentriert und unansprechbar, wie Philatelisten. Es sind Leute, die einer anstrengenden, komplizierten und äußerst ernstzunehmenden Sammlertätigkeit nachgehen. Fachmenschen eben, die offenkundig keinesfalls zum Spaß hier sind, der seriöseste WGT-Publikum.
Das schönste am WGT ist das Kontrastprogramm, in jeder Hinsicht. Wenig ist hier lau. Obwohl: der Normcore-Trend zeigt sich auch hier. Ich sehe im ganzen deutlich mehr untätowierte Körper als im Querfurter Freibad. Viele gehen in schlichten Sandalen. Von den zahlreichen mitgebrachten WGT-Kleinkindern tragen die wenigsten Totenköpfe und fiese Sprüche auf T‑Shirts und Stramplern. Helle Farben dominieren hier.
Unter den zahlreichen Besuchern, die trotz sengender Hitze Gasmaske tragen, fallen mir zwei auf, die das Extrem vollenden. Kampfstiefel, Kampfhose, Kampfjacke. Ob ich ein Photo schießen darf? Geantwortet wird in allerfreundlichsten breitestem sächsisch.
Ich treffe meine Tochter wieder beim Auftritt von Ost + Front, wobei man sich das Mittelteil des Bandnamen als eisernes Kreuz vorstellen muß. Die recht junge (nicht gemäß ihres Personals, sondern ihrer Geschichte), ziemlich erfolgreiche Kapelle wird der „Neuen Deutschen Härte“ zugerechnet. Es ist ein bißchen wie Rammstein für gröbere Kaliber. Alle Kapellenmitglieder tragen Uniformteile, alle sind “blutüberströmt”, tragen teils Gasmasken, teils Beißschutz a´la Hannibal Lecter, teils schwarzweißrot geschminkte Gesichter. Überall wird Blut angedeutet, selbst das Keyboard steht auf einem Tisch, der mit einem eigens eingefärbtem Besudelungstuch bedeckt ist. Zum Antivegetarierer-Lied (falls diese harmlose Interpretation statthaft ist) „Fleisch isst Fleisch“ werden Fleischstücke ins Publikum geschleudert. Rund zweihundert Leute stehen verzückt, mit ruckenden Köpfen und geöffneten Mündern am Bühnenrand (es sind 55 Grad in der Sonne), der (deutlich größere) Rest hält sich mit weitem Abstand im Schatten.
Alle scheinen elektrisiert, die Tochter fragt, wie weit verbreitet eigentlich Drogen in der Szene seien. Die kräftige Stimme des blutüberströmten Frontmanns ist nicht immer gut verstehbar, zufällig habe ich Textkenntnis: „ Ich seh sie weinen / sie weint für mich / ich steck mich tiefer/in ihr F***gesicht“ rufen die Männer von der Ostfront. Die Tochter sagt: „Ich versteh kein Wort, was singen die?“- „Keine Ahnung, ich glaub, es ging um Blumen.“ – „Glaub ich auch. Böse Blumen aber.“
Wir drängen zum Ausgang und nehme zweierlei wahr: Einen hübschen Mann, Typ Joop in jung, der seine sehr kleine, ohrenschutzbewehrte Tochter auf dem Arm trägt und eine kurzhaarige Frau, älter als ich, die den Text exstatisch mitschreit. Sie weint tatsächlich. Ihr scheint´s zu gefallen. „War bißchen kraß, oder?“, frage ich meine Tochter. „War bißchen albern“, meint sie.
Kontrastprogramm im schnellen Wechsel: Oper, Richard Strauss, Rosenkavalier. Hundert Plätze sind für WGT-Besucher freigehalten. Im ansonsten ausverkauften Zuschauerraum bleiben etwa vierzig Plätze frei. Hinter uns fragt eine schwarzgewandte Frau auf schwäbisch eine andre: „Sag mal, ich konnte mich vorher net informieren. Is des eine gute Inszenierung? Ich liebe den Rosenkavalier. Zuletzt hab ich‘s in Stuttgart gesehen. Da waren nur Phallusse in Bühnenbild. Is hier net so, oder?“ Nein, ist hier nicht so, sagt die sorgsam geschminkte Lady im Reifrock und mit Hut daneben. Sie ist Holländerin und bestens informiert: „Völlig traditionell, keine Sorge.“ So ist es, perfekt inszeniert, gespielt, gesungen, musiziert. „Bißchen albern aber auch das“, meine ich und denke an Strauß als Komponist der Elektra. „Nö“, sagt die Tochter, „höchst subtil.“
In unserer Nähe sitzt ein Leder-Nieten-Mann, der auf die siebzig zugehen dürfte, Typ Udo Lindenberg in noch älter. Wenn er sich bewegt, rasseln die Ketten. Er bewegt sich erst in den Pausen. Das gleichaltrige Leipziger Stammpublikum schüttelt den Kopf. Insgesamt ist es ein geradezu eklatant junges Opernpublikum heute, im Schnitt. Da könnte man sich mal freuen!
Am späteren Abend gelten die Auftritte von Anne Clark (mittlerweile 54 Jahre!) und von der Black Metal-Band Satyricon als Glanzlichter.
Mich zieht´s zum Völkerschlachtdenkmal, wo die STÜBA-Philharmonie und das Ensemble Wilde Jagd ein nächtliches Stelldichein geben mit Faurés Requiem und, allerschönst, der Brahmschen Alt-Rhapsodie. Leider überschreitet die Zahl der Zuschauer nur knapp die der Sänger und Musiker. Inmitten einer Gruppe stehe ich an einer Ampel, sie zeigt rot für uns, die Straße ist fast leer. Ich will das Illegale wagen, da hält mich ein kleiner Mann zurück. Er trägt eine weiße, teils rote Maske aus Pappmache, die sein Gesicht samt Ohren überdeckt. Ich erschrecke kurz. Er sagt: „Lieber nicht. Könnte gefährlich werden.“ Ich gehorche. Doch! Hier herrscht deutscher Geist!
Am Pfingstmontag gibt es einen wahren run auf das Mozart-Requiem in der Oper. Die Vorstellung ist ausverkauft, im Publikum sitzen auf zweihundert reservierten Plätzen WGT-Besucher mit teils schrillsten Verkleidungen. Musik, Ballett, dazu Pasolini-Filmsequenzen und Gedichtlesungen aus Pasolinis „Die Nachtigall der katholischen Kirche“: Das war beinahe ein Gottesdienst. Dann gehen alle nach Hause. Und schlafen aus, weil sie tags drauf ins Büro müssen, an den Schalter oder auf´s Gerüst. Oder zum Jobcenter, wer weiß es. Toll war´s.
Albert
Interessant...
Ich war einmal zufällig da ... und fand es etwas fremd-beschämend ... dieser Metallschrott im Gesicht, diese kaugummi-kauenden Kindergesichter in Kleidern aus dem 18. Jahrhundert, und viel zu viel Schminke. Und dann noch diese schreckliche Musik, diesen Krach, dieses spätpubertäre Blut-Gesabber - grauselig .... (Na gut, die Band "Triarii" ist wirklich mal gut... )
Ich halte das WGT für das "Pathos"-Äquivalent zu dem, was die Fußball-WM für den "Patriotismus" ist - leer, unauthentisch, ein kurzes Ausleben unterdrückter Sehnsüchte, alles eben BRD-deutsch.
Ich will aber echtes Pathos und echten Patriotismus ...
Meiner 4-jährigen Tochter hat es sehr gefallen: "Die Kleider!" "Die Masken!" "Die Haare!" "Die Schuhe!" Ich mußte sie irgendwann tragen, da sie aller paar Meter mit offenem Mund stehen geblieben ist...