Mit Ausnahme einer journalistischen Stippvisite nach Dresden bin ich vollkommen demoabstinent. Ich bin nie im Leben für den Erhalt eines Bahnhofs, gegen Fluglärm, für oder gegen sonstwas auf die Straße gegangen. Liegt mir nicht. Ich hätte immer das ungute Gefühl, verwechselt zu werden.
So kam´s: Normalerweise reist meine Tochter allein mit der Bahn nach Merseburg zu ihren dortigen Terminen. Gestern sagte man ihr: Lieber nicht mit dem Zug kommen, der Bahnhof dürfte wegen einer Demonstration blockiert sein. Nach ihren Informationen hätten „Rechte“ eine Gegenveranstaltung zu einer linken Demo geplant. Witziger Gedanke, sie beharrte darauf. Ich vergaß zu recherchieren, wir haben keine lokale Zeitung.
Am Merseburger Schloß hatte ich zwei Stunden Wartezeit, ich blieb im Auto, um endlich das 700minütige In Stahlgewittern-Hörbuch zuende zu hören. Es war so plastisch, ich war so versunken, daß ich die Kriegsgeräusche zu hören glaubte, obwohl es kein Hörspiel, sondern nur eine Lesung ist. Erst mit Verzögerung merkte ich, daß der Lärm von draußen kam, Hubschrauber, krachende Mikrophonstimmen. (Der Schloßhügel liegt etwas vom Bahnhof entfernt.)
Das wollte dann doch angeschaut werden! Die Parole der Gegendemonstranten lautete „Merseburg stellt sich quer“, einem Infoblatt entnahm ich, daß sich ein „breites Bürgerbündnis“ einer Neonazi-Kundgebung widersetzen wollte. Die Neonazis, so erfuhr ich, hätten jahrelang in Halle den 17. Juni für „ihre Zwecke“ instrumentalisiert. Seit ein paar Jahren hätten sie dann von Halle nach Merseburg verlegt. Merseburg gälte als „braunes Nest“.
Keine Ahnung. Merseburg ist eine einzige Tragödie. Das Dom-und-Schloß-Areal ist für mich einer der schönsten Plätze weltweit, ich kenne hier jede Zinne, jeden Baum im Schloßpark, und die vielen Raben, die zur Dämmerung im Angedenken an ihre beiden in der Voliere befindlichen Freunde die Schloßtürme umkreisen. Den Rest der Stadt kenne ich mehr vom Weggucken. Das Bürgertum ist weitgehend geflohen, geblieben ist eine menschliche Restgesellschaft in Jogginganzügen, aufgestockt durch Zugezogene aus anderer Herren Länder. Ein Freund, der aus beruflichen Gründen in die Gegend ziehen mußte, sagte, von der Stadt als Wohnort sei er schnell abgekommen, weil ihn die Vorstellung grauste, seine Freundin tagtäglich diesen Bahnhof mit dem dort sich herumtreibenden Gesindel passieren lassen zu müssen. (Und er meinte keine „rechten“ Nichtsnutze.)
Gut. Ich stieß also zum sogenannten breiten Bürgerbündnis, das durch Polizeitruppen von den sogenannten Neonazis getrennt war: Mädchen mit bunten Haaren, große Jungs mit viel Metall und schwarzem Plastik in Nasen, Ohren und Augenbrauen, ein paar klassische Punks mit aufwendig gestylten Irokesen. Ein paar Männer sind fast vermummt: große Sonnebrille, Mütze und Kapuze, Rollkragen bis zur Lippe gezogen. Nackt nur die tätowierten Finger.
Bunt statt braun? Ich sehe nur schwarz. Es gibt die Visagen mit dynamischen Zügen und die mit den ganz weichen, hängenden.
Letztere, geschätzt ein Drittel der vielleicht zweihundertfünfzig Antifas, sind solche Typen, die schwer Freundschaften schließen dürften an der Schule und an den Unis. Sie zählen zu denen, die von der Grundschule an gehänselt wurden. Sie sind motorisch lahm, vom ganzen Habitus ungeschickt und nach zeitgemäßen Kriterien nicht eben cool, sie ahmen und äffen nach und scheinen nach Kreisen gesucht zu haben, wo sie wenigstens qua angelegter Ideologie Aufnahme finden.
Vier junge Menschen sind, anscheinend um die „Rechten“ besonders extrem zu provozieren, in Teletubby-Kostüme geschlüpft. Ihre allesamt dick bebrillten Gesichter haben Kirchentagsanmutung, weich, klassensprecherhaft. Die erste erwachsene „Bürgerin“ mache ich an einem Nebenschauplatz aus, eine kurzrothaarige Frau um die fünfundfünzig, Typ Stadträtin oder Kreistagsabgeordnete. Sie steht an der Stadtbücherei, hundertfünfzig Meter vom Bahnhof entfernt. Von dort aus werden ein Dutzend verspätet angereister „Rechter“ zum Versammlungsort eskortiert. Die Zahl der Polizisten dürfte die 500 überschreiten, man sieht schnell – und wird durch diverse Abzeichen bestätigt -, wer von den Uniformierten von „hier“ kommt (bäuchig, schweres Kinn) und wer von weiter entfernt eingesetzt (drahtig, wacher Blick) wurde.
Die rothaarige Dame jedenfalls kann es nicht fassen, daß die jungen Linken sich nicht der Eskorte in den Weg stellten: „Und ihr wollt Antifaschisten sein?! Und laßt sie einfach passieren?!“, gellt ihr Ruf über die Straße. Ihre Stimme überschlägt sich, sie fuchtelt engagiert mit den Armen, bis ihr ein männlicher Begleiter beruhigend die Hand auf die Schulter legt. Der zweite Bürgerliche vor Ort.
„Wissenetrille?“ Noch eine Bürgerliche, jedenfalls eine lachsfarben gewandete Frau im gesetzten Alter, eher auf die 70 zugehend. Sie meint: „Möchtest du eine Trillerpfeife?“, ich übersetze das rasch und wundere mich, woher wir uns kennen? Ich zögere mit der Antwort, weil ich mir die Aufschrift der Pappe durchlesen will, die sich die Frau neben einem Beutel mit Trillerpfeifen umgehängt hat. Auf der Pappe hat sie handschriftlich das bekannte Niemöller-Poem notiert:
Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist, [etc. pp,] Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.
Also: Sie meint es wirklich gut, sie befürchtet ihre Abholung, ich habe keinen Grund, diese subjektive Angst zu bezweifeln, und ich bin ein bißchen traurig, als ich mich dankend ablehnen höre.
Die Linken machen jetzt Musik. Schöne Musik, Tuba, Querflöte, Trompete und Trommel. Sie wollen damit zeigen, daß ihr Widerstand heiter ist und sich vom Grimm der versammelten und eingekesselten mutmaßlichen Neonazis unterscheidet. Die stehen nun schon eine Stunde am Bahnhof, rund 150 Mann und etwa zehn Frauen. Vor ihnen steht eine Reihe Polizisten. Ich gucke eine Weile nach links und rechts, wenig tut sich, dann frage ich freundlich eine gemütlich rauchende Polizistin, woran die Demo eigentlich scheitere: an der linken „Spontandemo“ oder an der Polizeifront. Und wie es wohl weitergehe?
Die Raucherin reagiert aggressiv. „Halten Sie Abstand!“ Ihre Kollegin sekundiert freundlicher: „Betriebsgeheimnis. Wir dürfen nichts sagen.“ Ich verstehe und bleibe dort stehen, wo ich eine Viertelstunde lang schon stand. Die Raucherin sagt: „Ich habe gesagt, halten Sie Abstand von uns. Und ich werde es kein zweites Mal sagen.“ – „Aber hier stehen doch ein Dutzend Leute, was habe ich denn mit meiner Frage bei Ihnen ausgelöst?“ – „Stellen Sie sich woandershin, ich werde es kein drittes Mal sagen.“
Da krieg ich Angst. Mir fällt ein, daß meine Tochter schon warten wird! Tut sie. Es drängt uns zurück an den Ort des Geschehens. Die Tochter ist verzückt. Sowas wird auf dem Lande nicht geboten! Sie liest mir Pulli-Aufschriften vor und sagt mir, daß eine ältere Pressedame „die Kositza“ geraunt hätte. Wir werden dutzendfach photographiert, wir stehen auf der richtigen Seite, die naturgemäß stets die Falsche ist. Ein quirliger Typ ruft per Megaphon den immer noch wartenden „Neonazis“ diverse schadenfrohe Botschaften zu. Er beschimpft sie als armselige Hampelmänner, und das ist noch das Geringste. Jubel kommt auf unter den Linken, Stammtischmotto „Endlich sagt’s mal einer!“
Mittlerweile sind es etwa fünfhundert „Bunte“ gegen 160 „Braune“, was eine sehr unkorrekte Angabe ist, weil anderthalb Dutzend Afrikaner sich unter das bunte Volk gemischt haben. Die Braunen werden einzeln und per ostentativ freudigem Handschlag begrüßt.
„Wenn du mal rechnest: etwa dreihundert herzhafte Handschläge pro Afrikaner: Daß muß doch wehtun“, leidet meine Tochter mit. Wir haben eine kurze Auseinandersetzung, wer uns von den Leuten auf „unserer Seite“ noch am sympathischten sei. Die Afrikaner, meint die Tochter. Ich versuche, einen Teil der Antifas in Schutz zu nehmen: „Die fühlen sich vielleicht wirklich als eine Art Geschwister Scholl, als Widerständler.“ Die Tochter schüttelt den Kopf: „Ja, aber nur die wirklich geistig Behinderten. Ich mein: das Verhältnis ist doch eins zu vier!“
Es wird langweilig. Wir schlendern zu einer offiziellen, angemeldeten Bühne. Es gibt Tanzeinlagen und schwache, wenngleich hochengagierte Chöre gegen rechts und für Toleranz. Mit uns sind es exakt siebzehn Zuschauer. Auf den Boden haben junge Menschen mit Pastellkreiden nachdenkliche Sprüche aufgeschrieben. Zum Beispiel das „Spinner“-Zitat von Joachim Gauck. Es findet auch eine mit rotweißen Farbbändern abgegrenzte Holi-Aktion statt. Wir sehen Nebel und hören Schreie. Ich reagiere erschrocken. Wie jetzt, „Holi“? Das ist doch wohl keine Verniedlichungsform für den –caust? Den Leuten ist alles zuzutrauen. Die Tochter beruhigt mich. Sie hat von dem aus Indien adaptierten Ritual schon gehört. Es geht um aufplatzende Farbbeutel. Wer teilnimmt, wird ganz bunt. Es geht um „Farbe bekennen“. Richtig: uns begegnen ein Dutzend pastellig überstäubte Jugendliche.
Wir kehren zurück zum Bahnhofsplatz. Just kommt jähe Bewegung auf. Die Rechten marschieren los! In ungeahnte Richtung! Fahnen wehen. „JN“, „Die Rechte“. Zwei‑, dreihundert Beinpaare setzen sich in Bewegung. Sie müssen die Neonazis ja stoppen! Wir rennen mit. Die „Rechten“ stecken in einer Sackgasse. Sie durften bis zum achtzig Meter entfernten Busbahnhof marschieren. Dort stehen sie jetzt. Ihre geplante und angemeldete Route können sie vergessen. Es gibt keinen Versuch seitens der Polizei, das Demonstrationsrecht durchzusetzen.
Wir stehen nun fast Aug in Aug mit den gebremsten Rechten. Hinter uns stehen die linken Scharfmacher. Vor uns ist eine Reihe städtisches Grün und eine Lage Polizei. Hinter uns werden Parolen skandiert: „Deutschland, du alte Scheiße“, ist die markanteste. “Arschgesichter” ist eine weitere, dann fordert der bereits bekannte quirlige Megaphonträger seine Meute zum Hüpfen aus, weil alles ja beschwingt und äußerst munter wirken soll. Alle hüpfen. Wir nicht. Wir stehen zwischen den Fronten. Meine Tochter sagt: „Das ist der, der die andern vorhin als Hampelmänner beschimpft hat! Er ist doch der Hampelmann! Wie peinlich! Guck mal, diese böse Schadenfreude! Wie die sich vorkommen!“
Meine Tochter redet immer lauter, ich muß sie heftig in die Seite stoßen. Es ist Feindesland! Ich verachte die selbstempfundenen Bunten. Ich verstehe den Impuls nicht, er ist mir jenseits jeder politischen Erwägung fremd. Wer auch nur den Hauch eines Gewissens hat, grölt nicht gegen eine überdeutliche, offenkundig in jeder Hinsicht niedergeschlagene Minderheit! Ja,wie kommen die sich vor? Wir können die sogenannten Neonazis jetzt genau betrachten. Es sind zu zwei Dritteln unschöne Menschen. Fertige Leute. Klar, das ist Lookism. Es sind letztlich Menschen, die ein Unbehagen spüren, und es nicht anders zu artikulieren wissen als im Ruf „nationaler Sozialismus jetzt!“ Bürgerliche Gestalten fehlen hier völlig. Es ist eine Art Rest.
Ich habe Mitleid. Wer dort fotografiert wird, hat jede Aussicht auf eine Anstellung in Ämtern oder auch nur normalen Verhältnissen verwirkt. Dort stehen die, die nichts mehr zu verlieren haben. Ich sehe unseren alten Schornsteinfeger, den berüchtigten Lutz Battke. Netter, ziemlich verrückter Typ. Er sieht mich winken. Ich fühle mich komisch dabei. Er nickt zurück, bißchen irritiert. Die tun mir wirklich leid. Es ist ein trauriger Mut, aber es ist doch Mut, wahnsinniger Mut. Acht, zehn Typen sehen aus, als könnten sie was in der Birne haben. Man weiß es nicht. Vor allem weiß man nicht, was genau.
Man steht zwischen den Gräben und freut sich, als kurz eine Art sportsmännischer Geist aufkommt: Die Linken grölen etwas, die Rechten grölen im Chor zurück. Und noch mal, es wirkt, als stünde irgendwo ein Dirigent, es ist wie ein Einvernehmen, ihr dort, wir hier, es klingt fast schön, es wirkt heiter, eingespielt.
Kurzer Trubel, als ein Antifaschist an meinem Ohr vorbeigrölt: „Xy, wo ist deine Fahne?“ Xy rührt sich aus dem „rechten“ Block, wie von der Tarantel gestochen. Ordner müssen ihn besänftigen. Hinter uns wird mit Erobererstolz erzählt, daß man die „Nazis“ in Halle aus dem Zug geprügelt und eine Fahne kassiert habe. „Das Land ist so krank, so krank“, sagt meine Tochter. Dabei ist es hier grad mal quicklebendig. Aber wir stehen falsch. Wir gehören weder hier- noch dorthin. Wir verdrücken uns.
Carsten
Beide Seiten sind Darsteller in einem völlig sinnentleerten Ritual. Karneval mit Gewalt. Die Antifanten sind die, die zu mickrig und zu feige waren, um Hells Angels oder Hools zu werden, um ihr männliches Kriegererbe auszuleben. Der Witz ist, dass die Nationalsozialisten bei diesem Ritual die einzigen sind, die angesichts der Gewaltverhältnisse echte "Zivilcourage" beweisen. Wie hohl dieser Zirkus ist, wird man sehen, wenn die Sozialkassen leer sind und die gesellschaftlichen Bruchlinien entlang der ethnischen Kanten verlaufen werden statt nach "bunt" oder "nazi".