So haben Irland und Portugal den Euro-Rettungsschirm verlassen, und als naiver Nachrichtenkonsument hätte man nun vermuten können, diese Länder hätten ihre Schulden an die übrigen Euro-Länder zurückgezahlt. Doch weit gefehlt. Gemeint ist nämlich, daß die weitere Verschuldung wieder ganz normal am internationalen Kapitalmarkt erfolgen soll.
Dort ist aber schon lange nichts mehr normal, denn praktisch alle große Notenbanken haben massiv am Kapitalmarkt eingegriffen, um die Zinsen zu senken.
Bevor sie ihre monatlichen Käufe zu reduzieren begann, kaufte die US-amerikanische Notenbank „Fed“ für monatlich 85 Mrd. US-Dollar vornehmlich amerikanische Staatsanleihen, also über 1000 Mrd. Dollar p.a. im Rahmen des sogenannten quantitative easing-Programms. Die europäische Zentralbank EZB ging subtiler vor und versuchte mittels Kreditvergabe an Geschäftsbanken zu Minizinsen einen vergleichbaren Effekt zu erzielen, ohne aber offen gegen das Verbot der Staatsfinanzierung zu verstoßen. „Super Mario“ Draghi prägte dafür den Begriff der „dicken Bertha“, um Willen und Fähigkeit der EZB zu illustrieren, mit der amerikanischen „Bazooka“ gleichzuziehen.
Der Schlüssel zum Verständnis dieser Operation ist das Nullgewichtungsprivileg für Staatsanleihen der Euro-Länder. Das bedeutet, daß Geschäftsbanken für Euro-Staatsanleihen keinerlei Risikopuffer in Form von Eigenkapital vorhalten müssen. Ja, Sie haben richtig gelesen: Griechische Staatsanleihen gelten bankenregulierungstechnisch als risikofrei!?
Im Ergebnis führen beide Vorgehensweisen zum gleichen Ergebnis, denn diese zusätzliche Nachfrage treibt die Anleihekurse und senkt dadurch die Zinsen, sodaß sich die Staaten immer günstiger verschulden können.
Die Motive sind vielfältig, aber wesentlich sind die erhofften Auswirkungen auf Staatshaushalte und Bankbilanzen. Da die europäische Finanzkrise mittlerweile als eine Staatsschuldenkrise wahrgenommen wird, mildern die sinkenden Zinsen den Druck auf die Staatshaushalte. Das hatten wir vor fünfzehn Jahren aber schon einmal, als vor der Euro-Einführung die Zinsen der „Südkurve“ massiv sanken. Daß das gesparte Geld diesmal sinnvoller eingesetzt wird, darf man bezweifeln.
Quelle: Cesifo-Gruppe
Im übrigen zeigt die Grafik auch, daß die Finanzmärkte die No-Bail-Out-Klausel damals nicht ernstnahmen, denn daß von Griechenland bis Deutschland alle Euro-Länder gleich hohe Zinsen bezahlen, ist natürlich nur erklärlich, wenn in allen Fällen letztlich der gleiche Schuldner dahintersteht. Erst im Zuge der Krise brach zeitweise Realismus aus.
Der zweite wesentliche Aspekt der EZB-Politik ist, daß die Banken durch diese Konstellation die Zinsdifferenz zwischen Staatsanleihen und EZB-Refinanzierung einstreichen. Selbst wenige Prozent, multipliziert mit den Hunderten von Milliarden Euro Staatsanleihen in Bankenhand ergeben einen hübschen Ertrag, der das Eigenkapital der Banken stärken soll.
Es zeigt sich also die alte Symbiose von Politik und Finanzkapital und die Geiselnahme europäischer Staatshaushalte durch Großbanken hat sich dadurch sogar verschlimmert. Wenn es nämlich zu einem nennenswerten Schuldenschnitt bei Staatsanleihen käme oder durch Wegfall der Bürgschaften und Kreditgarantien die Anleihekurse sänken, wäre das Eigenkapital der Banken schlagartig aufgezehrt und sie somit pleite.
Wie die Kapitalerhöhungen, beispielsweise der Deutschen Bank, jedoch zeigen, sind selbst diese hochprofitablen Geschäfte keinesfalls hinreichend, um die kommenden Eigenkapitalanforderungen zu erfüllen. Banken sind also vor Wahl zwischen (weiteren) vor allem bei ihren Aktionären sehr unpopulären Kapitalerhöhungen und reduzierter Kreditvergabe gestellt, denn Kredite an Personen und Unternehmen sind sehr wohl mit risikoangemessenen Eigenkapitalpuffern zu versehen.
Da es Politiker und Bankenregulierer sind, die von Banken eine verantwortungsvolle Kreditvergabe verlangen, um weitere Finanzkrisen zu verhindern, darf man sich schon wundern, wenn die gleichen Politiker nun die fehlende Kreditvergabe an den Privatsektor bemängeln. Aber so sind sie halt, unsere Politiker. Hauptsache sie selbst tragen keine Verantwortung und haben einen passenden Sündenbock zur Hand. Die Mär von der Zähmung der Finanzmärkte durch die Politik ist kaum mehr als Theaterdonner.
Aber erst beim dritten Aspekt dieses geldpolitischen Experiments der Notenbanken kommt das ins Spiel, was die meisten von uns vorrangig interessieren dürfte, die reale Wirtschaft nämlich. Die Zinsen langfristiger Staatsanleihen haben als Gradmesser für private Investitionsentscheidungen erhebliche Bedeutung, da sie den risikofreien Ertrag abbilden, sogenannte Opportunitätskosten. Jede andere Investition ist demgegenüber risikobehaftet, sodaß sie höher rentieren muß, um wirtschaftlich sinnvoll zu sein.
Sinken also Zinsen, und damit die Opportunitätskosten, werden Investitionen interessant, die zuvor aus ökonomischer Ratio nicht getätigt wurden. Die sinkende Rentabilitätsschwelle sollte daher zu höherem Investitionsvolumen, Wirtschaftswachstum und steigender Beschäftigung führen.
Transmissionsriemen defekt: fehlende private Kreditaufnahme
Wie das sehr überschaubare Wachstum in den Krisenländern zeigt, funktioniert das aber nicht. Die Zinsen alleine sind es offenbar nicht, es fehlt ein Glied in der Kette und das ist die Kreditvergabe an Haushalte und Unternehmen.
Folgende Grafik zeigt die jährliche Veränderung in Prozent der Kreditmenge im Euro-Raum, aufgeschlüsselt nach Haushalten (rot), Unternehmen (grün) und gesamtem Privatsektor (blau).
Quelle: Federal Reserve Bank of St. Louis, FRED-Datenbank
Wir sehen zwei ausgesprochene zyklische Höhepunkte, nämlich unmittelbar nach Einführung des Euros als Buchgeld 1999 und in den Boom-Jahren unmittelbar vor Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise stark mit teils über 10% p.a. Danach brach das Wachstum jedoch ein und ist seit Ende 2012 negativ.
Und genau hier sollen die negativen Einlagezinsen für Bankguthaben bei der EZB ansetzen, indem sie für Banken einen Anreiz setzen, „ihr Geld“ lieber zu verleihen als es bei der EZB zu parken. An andere Banken wollen sie ohnehin nicht verleihen, da das Mißtrauen weiterhin hoch ist.
Dabei gibt es jedoch zwei entscheidende Probleme. Erstens ist der Zins der Bankenrefinanzierung, der soeben von 0,25% auf 0,15% gesenkt wurde, wenig relevant für Kreditentscheidung an Unternehmen und Privatpersonen, deren Verzinsung in jedem Fall mehrere Prozent beträgt. Es zählt vielmehr die Bonität des Kreditnehmers. Zweitens setzt jede erfolgreiche Stimulierung der Kreditvergabe eine entsprechende Nachfrage solventer Kreditnehmer voraus.
Salopp formuliert: Diejenigen, die Kredit wollen, bekommen keinen und diejenigen, die Kredit bekommen würden, wollen keinen.
Wo bleibt die große Inflation?
Die oben beschriebene implizite (EZB) oder explizite (FED) Finanzierung der Staatsschulden durch Notenbanken hat in der Vergangenheit stets zu Inflation geführt. Daher warnen viele bereits seit Jahren vor der unweigerlich aufziehenden Inflation, aber bisher hat sie sich nicht gezeigt. Warum nicht?
Inflation und Deflation sind eng verknüpft mit dem Mengenverhältnis von Geld zu Gütern. Steigt die Geldmenge stärker als die Gütermenge, bewirkt das langfristig tendenziell steigende Preise. Umgekehrt führt eine relativ sinkende Geldmenge auch zu sinkenden Preis, weil Geld im Vergleich zu Gütern knapper, also wertvoller wird. Um ein allgemein steigendes Preisniveau zu erreichen, bedarf es also zwingend des Geldmengenwachstums.
In unserer Finanzordnung erfolgt Geldschöpfung durch Kreditvergabe der Banken. Diese Kredite werden den Konten der Kreditnehmer gutgeschrieben und werden als Sichteinlage (=kurzfristig verfügbar) definitionsgemäß Geld, während die Banken langfristige Forderungen dagegen buchen.
Grundsätzlich können auch Notenbanken Geld schöpfen und das tut die FED massiv, indem sie direkt Staatsanleihen kauft. Die EZB hat in der Vergangenheit jedoch stets auf die „Sterilisierung“ ihrer Kredite an Banken geachtet, sodaß diese nicht unmittelbar die Geldmenge erhöhten.
Das zeigt sich in der zuletzt gegensätzlichen Entwicklung der Bilanzsummen der Notenbanken.
Quelle: Federal Reserve Bank of St. Louis, FRED-Datenbank
Daher finden sich die geringen bzw. negativen Wachstumsraten der Kreditvergabe im Euro-Raum auch in der Geldmengenentwicklung wieder. Untenstehende Grafik zeigt die absolute Geldmenge M3 des Euro-Raums (blaue Linie) und die jährlichen Wachstumsraten (graue Säulen).
Alleine dieses überschaubare Wachstum der Geldmenge begrenzt das Inflationspotential.
Niemand nimmt einen Kredit auf, um das Geld nicht auszugeben. Soll heißen, daß private Kreditaufnahme praktisch immer als Nachfrage in realen Gütermärkten wirksam wird, sei es investiv oder konsumtiv. Verbleibt die Geldschöpfung der Zentralbanken aber im Bankensystem oder den Finanzmärkten, bleibt diese reale Nachfrage aus. Und aus diesem Grund erleben wir derzeit noch keine Inflation an den Gütermärkten. Auf den Finanzmärkten der (Sach-)Vermögenswerte haben sich fast alle Anlageklassen in den letzten Jahren sehr gut entwickelt, wir haben es also mit einer Vermögenswertinflation zu tun.
Solange die reale Nachfrage niedrig bleibt, wird der geringe Preisdruck anhalten, denn für nachhaltige Inflation ist die Preis-Lohn-Spirale wesentlich, das heißt, eine Aufwärtsspirale steigender Preise, die steigende Löhne nach sich zieht usw.
Wer hat Angst vor Deflation?
Derzeit grassiert die Angst vor Deflation und die unkonventionellen Maßnahmen der EZB wurden wesentlich dahingehend interpretiert, denn offiziell sieht die EZB Deflation als unwahrscheinlich an. Woher stammt die Angst vor Deflation?
Im Grunde müßte eine milde Deflation der Normalzustand einer Wirtschaft sein, weil die Produktivität durch ständige Verbesserungen steigen sollte und bei Abwesenheit externer Preiseffekte diese Effizienzsteigerung zu sinkenden Preisen führen sollte. Zwar ist grundsätzlich richtig, daß sinkende Preise einen Anreiz zu temporärem Konsumverzicht schaffen, aber wenn dieser Anreiz alleine stünde, würde kein Notebook oder Mobiltelephon je verkauft werden.
In einer Deflation gibt es jedoch zwei ganz große Verlierer, nämlich den Staat und die Banken als die größten Schuldner und Profiteure der Inflation. Auf Euro-Wahrheit.de sind die Zusammenhänge vertiefend dargestellt.
In einer Deflation, also bei sinkenden Preisen, werden Schulden real immer höher, da sie aus nominal sinkenden Einkommen bedient werden müssen. Für alle Personen und Institutionen, die sich durch den inflationären Normalzustand in übermäßige Verschuldung locken ließen, kann das verheerend sein.
Aber diejenigen, die nicht oder maßvoll verschuldet sind, können durchaus profitieren, schließlich steigt die Kaufkraft ihrer Einkommen und Geldvermögen. Und gerade die kleinen Sparer haben ihr Erspartes oftmals in Geldvermögen oder vergleichbaren Anlagen, wie etwa Lebensversicherungen angelegt. In der aktuellen „finanziellen Repression“ werden diese real entwertet, in einer Deflation würden die Sparsamen automatisch belohnt. Auch die Umverteilungseffekte von unten nach oben, die durch den Cantillon-Effekt beschrieben werden, enden in einer Deflation, sodaß die „kleinen Leute“ relativ gesehen profitieren können. In einem inflationären Umfeld sind nämlich Staat und Banken deutlich privilegiert, da sie mit neuem Geld (Steuern auf nominal steigende Preise und Einkommen aus Geldschöpfung) zu alten Preisen einkaufen können, während die meisten von uns mit altem Geld (Einkommen, die der Preisentwicklung nur verzögert folgen) schon die neuen, inflationierten Preise bezahlen müssen.
Dennoch gibt es einen ultimativen Grund zur Abwehr einer Deflation, denn in unserem heutigen Geldsystem sind wir alle de facto verschuldet. Unser Geld an sich sind Schulden und ist daher zu verzinsen – siehe oben. Wenn Geldmenge X im Jahre 0 zinstragend ist, muß im Jahre 1 X+Zins bezahlt werden. Würde die Geldmenge nicht wachsen, würde daher ein gnadenloser Verteilungskampf beginnen, bei dem zwingend etliche auf der Strecke blieben. Eine über Wachstum und Zins hinaus steigende Geldmenge, also eine tendenziell stets inflationäre Entwicklung, mildert den Leidensdruck, ohne jedoch die zugrundeliegenden Probleme zu adressieren.
Es haben sich daher ganze Gesellschaften mit permanent erhöhter Inflation arrangiert und entsprechend dramatisch sind die Auswirkungen, wenn das auf einmal nicht mehr funktioniert. Und wie brutal eine Deflation mit innerer Abwertung, also nominal sinkenden Löhnen und Preisen dann zuschlagen kann, ist den Ländern der Südkurve und insbesondere Griechenland zu besichtigen.
Wie weiter?
Auch wenn es sich in Deutschland aufgrund einer gewissen Sonderkonjunktur und vor allem der für unsere Verhältnisse zu niedrigen Zinsen anders anfühlen mag, haben wir es in Europa und tendenziell der gesamten entwickelten Welt mit einer realen Wachstumskrise zu tun. Vor allem die exorbitante Arbeitslosigkeit in den europäischen Südländern zeigt das.
Solange die reale Nachfrage niedrig bleibt, wird sich das durch Finanzalchemie alleine nicht kurieren lassen. Gleichzeitig sind den Staatshaushalten enge Grenzen gesetzt, sodaß für die meisten Länder Konjunkturprogramme unbezahlbar sind, weil sie die Verschuldung weiter erhöhen würden.
Wahrscheinlich bedarf es eines externen oder orchestrierten Schocks, um diese Zurückhaltung zu beenden. Gerade Ukraine-Krise und Aufziehen eines neuen, hoffentlich nur kalten Krieges bieten dazu eine hervorragende Gelegenheit. Rüstungsprogramme und andere Staatsausgaben in diesem Bereich haben nämlich den großen Charme, daß sie die private Nachfrage nicht verzerren (z.B. Vorzieheffekte beim Autokauf durch die Abwrackprämie) und auch nicht als Überkapazitäten auf die Märkte zurückkommen können.
Seien wir also gespannt, welche Ausreden die Politik erfindet, um das vermeintliche Austeritätsdiktat abzulegen oder weiter an der Steuerschraube drehen zu können. Im Zeitalter rekordhoher und weiter steigender Steuereinnahmen ist ein „Schlagloch-Soli“ eine Zumutung. Es wird nicht die letzte sein.
Oppermann, Ralf
Im Ganzen erscheint mir der Artikel gut verständlich und einleuchtend. Allein einen Satz [auf der dritten Seite] begreife ich nicht : „Die EZB hat in der Vergangenheit jedoch stets auf die ,Sterilisierung‘ ihrer Kredite an Banken geachtet, sodaß diese nicht unmittelbar die Geldmenge erhöhten.“ Will die EZB denn nicht gerade mit Hilfe der Ausgabe von – in den Geld – Ware – Geld – Kreislauf hineingeleiteten - Krediten die Geldmenge vergrößern, um die Inflationsrate zu erhöhen bzw. der Deflation entgegenzuwirken? So heißt es im Artikel [auf der vierten Seite]: „Derzeit grassiert die Angst vor Deflation und die unkonventionellen Maßnahmen der EZB wurden wesentlich dahingehend interpretiert...“ Sie erreichten ihr Ziel jedoch nicht, denn [s. die dritte Seite]: „Es zählt...die Bonität des Kreditnehmers. ...jede erfolgreiche Stimulierung der Kreditvergabe [setzt] eine entsprechende Nachfrage solventer Kreditnehmer voraus. Salopp formuliert: Diejenigen, die Kredit wollen, bekommen keinen und diejenigen, die Kredit bekommen würden, wollen keinen.“ – Den Text dieser Zitate verstehe ich so, daß entgegen der Absicht der EZB die Geldmengenvergrößerung mit darauf erfolgender Erhöhung der Inflationsrate (auf 2%) nicht gelungen ist. Inwiefern handelt es sich dann aber um eine gewollte „Sterilisierung“, „sodaß diese (sc. die EZB-Kredite) nicht unmittelbar die Geldmenge erhöhten“?