Der Tag des heiligen Vitus, serbisch Vidovdan, galt und gilt den Serben als nationalheiliger Erinnerungstag an die Schlacht auf dem Amselfeld (Kosovo Polje), die als Aufopferung des Balkanvolkes für die christliche Sache im Abwehrkampf gegen die Osmanen gedeutet wird. An einem Vidovdan geschahen etliche der wichtigsten und verhängnisvollsten Ereignisse des serbischen 20. Jahrhunderts. Doch kein Vidovdan war so verhängnisvoll wie der des Jahres 1914.
Die Ereignisse des 28. Juni vor 100 Jahren sind allseits bekannt und werden heuer durch alle möglichen Feuilletons, Rundfunksendungen und Buchneuerscheinungen gejagt, nacherzählt und gedeutet. Den allermeisten Bürgern gelten sie als Randnotiz, als kleine Nachricht neben Ukraine, Diätenerhöhungen und Ballsport. Der Leserschaft der Sezession müssen sie nicht erläutert werden.
Es seien daher nur einige Anregungen gegeben, worüber sich angesichts des Atems der Geschichte, der einen am 28. Juni 2014 anweht, nachdenken ließe.
1. In Sarajewo starb heute vor 100 Jahren nicht irgendein gesichtsloser Prinz, sondern die Hoffnung seiner Völker. Franz Ferdinand von Habsburg-Este wäre wohl als einziger in der Lage gewesen (wenn überhaupt jemand), das riesige Habsburgerreich vor dem längst virulenten slawischen Nationalismus zu bewahren. Lange im Schatten des greisen Kaisers stehend und auf seine Regentschaft wartend, hatte er im Wiener Belvedere einen Kreis von gelehrten Beratern um sich geschart, um ein Modell für eine friedliche, die Völker verbindende Verfassung zu erarbeiten. Deutsche, Slawen und Ungarn sollten in jeweils eigenen Reichsteilen, aber durch die Kaiserkrone vereint leben.
Die Ablehnung des Nationalismus als neuartige, dem Wesen der österreichischen Monarchie widersprechende Erscheinung bei gleichzeitiger Bereitschaft zu grundlegenden Reformen sowie das unerschütterliche Selbstbewußtsein, nicht nur legitimer Herrscher sein zu sollen, sondern aus diesem Schicksal auch die Verantwortung für die Herstellung stabiler und zukunftsfähiger Verhältnisse zu tragen, macht aus Franz Ferdinand das „Leitbild einer konservativen Revolution“ (so der Untertitel einer Biographie aus dem Jahre 1964).
Mit seinem Tod von Mörderhand starb diese Option, Europa begann, dem Verfall entgegenzutaumeln. Der politischen Einigung dienten fortan nur noch Gewalt, Massenmanipulation und zunehmende Gleichgültigkeit bzw. Oberflächlichkeit. Die letzten 100 Jahre als weitgehend kontinuierlichen Abstieg in fast allen Bereichen zu bezeichnen dürfte nur für einen äußerst optimistischen Menschen als Übertreibung gelten.
2. Diesem Abstieg im Großen korrespondierte ein Niedergang im Kleinen. Betrachtet man die Geschichte vieler Balkanstaaten in den letzten 100 Jahren, so muß man feststellen, daß die nationale Unabhängigkeit ihnen keineswegs zum Vorteil gereichte. Gerade Serbien erlebte, nachdem das 19. Jahrhundert für das anfangs noch kleine Land im Schatten Habsburgs eine Zeit der Befreiung und der zunehmenden Unabhängigkeit vom Osmanischen Reich gewesen war (endgültige Anerkennung als selbständiger Staat erst 1878), nunmehr Wirren, Systemwechsel, Diktaturen und schließlich den Bürgerkrieg und Völkermord vor 20 Jahren. Der heutige Zustand des geteilten, geächteten und von Gebietssezessionen geschwächten Landes ist beklagenswert, nur mühsam arbeiten sich die, auch vielfach schuldig gewordenen, Serben nach oben. Ob man als Serbe, selbst als beinharter Nationalist, heute der Meinung sein kann, der Attentäter von Sarajewo sei zu loben?
3. Für die Geschichtswissenschaft sind die Ursachen und Hintergründe des Kriegsausbruchs wieder interessant geworden. Vor recht kurzer Zeit noch tabuisierte Fragen werden wieder gestellt. Vielleicht erleben wir 2039 eine ähnliche Entwicklung? So oder so ist es ratsam und fruchtbringend, diese Bewegungen im Überbau zu verfolgen. Zur Unterstützung und Illustration wird Sezession in den nächsten Wochen in einem neuen Format an die Julikrise 1914 erinnern.