(…) Eine gewissen antideutsche Stimmung kehre dort von Zeit zu Zeit regelmäßig wieder, das hänge mit dem slawischen Empfinden zusammen. Dieser Strömung gegenüber bestehe aber immer eine starke prodeutsche Partei. Weder der Kaiser noch irgendeine der maßgeblichen Persönlichkeiten sei antideutsch und seit der Beilegung der Limanfrage [russische Verstimmung um den Jahreswechsel 1913/1914 wegen der Einsetzung einer deutschen Militärmission in Konstantinopel unter Otto Liman; Anm. d. Red.] sei keine ernste Verstimmung wieder eingetreten. (…)
Ob angesichts dieser Stimmung es möglich sein würde, die russische Regierung beim österreichisch-serbischen Waffengange zur passiven Assistenz zu bewegen, vermag ich nicht zu beurteilen. Was ich aber glaube, mit Bestimmtheit sagen zu können, ist, daß es nicht gelingen wird, im Kriegsfalle die öffentliche hiesige Meinung zuungunsten Serbien zu beeinflussen, selbst durch Heraufbeschwörung der blutigen Schatten Dragas und ihres Buhlen, deren Beseitigung vom hiesigen Publikum schon längst vergessen ist und daher zu den historischen Ereignissen gehört, mit denen, soweit außerbritische Länder in Frage kommen, man hier im allgemeinen weniger Vertrautheit besitzt, als bei uns etwa der durchschnittliche Quartaner.
Ich bin nun weit entfernt, für eine Preisgabe unserer Bundesgenossenschaft oder unseres Bundesgenossen einzutreten. Ich halte das Bündnis, das sich in dem Empfindungsleben beider Reiche eingelebt hat, für notwendig und schon mit Rücksicht auf die vielen in Österreich lebenden Deutschen für die natürliche Form ihrer Zugehörigkeit zu uns. Es fragt sich für mich nur, ob es sich für uns empfiehlt, unseren Genossen in einer Politik zu unterstützen, bzw. eine Politik zu gewährleisten, die ich als eine abenteuerliche ansehe, da sie weder zu einer radikalen Lösung des Problems noch zu einer Vernichtung der großserbischen Bewegung führen wird. Wenn die k.u.k. Polizei und die bosnischen Landebehörden den Thronfolger durch eine „Allee von Bombenwerfern“ geführt haben, so kann ich darin keinen genügenden Grund erblicken, damit wir den berühmten pommerschen Grenadier für die österreichische Pandurenpolitik aufs Spiel setzen, nur damit das österreichische Selbstbewußtsein gekräftigt werde (…).
(Literatur zur Vorgeschichte des I. Weltkriegs und zur Kriegsschuldfrage finden Sie im Bücherschrank I. Weltkrieg.)
Berlin, den 15. Juli 1914 [am 16. Juli abgesandt, vermutlich am 17. Juli zugegangen] – Der Staatssekretär des Auswärtigen Jagow an den Generaldirektor der Hapag Ballin
(…) Es wird tatsächlich zwischen London und Petersburg über ein Marine-Abkommen verhandelt, bei dem – dies wieder im tiefsten Vertrauen – von russischer Seite eine weitgehende militärisch-maritime Kooperation erstrebt wird. Zum Abschluß sind diese Verhandlungen trotz russischen Drängens noch nicht gelangt (…)
St. Petersburg, den 13. Juli 1914 [Im Auswärtigen Amt am 16. Juli eingegangen] – Der Botschafter in Petersburg an den Reichkanzler
Das Attentat in Sarajevo hat zwar auch hier einen tiefen Eindruck gemacht, und die Verurteilung des schändlichen Verbrechens kam im ersten Augenblick in weiten Kreisen laut zum Ausdruck. Der hier gegen Österreich-Ungarn herrschende tiefe Haß machte sich jedoch sehr bald auch bei diesem traurigen Anlaß geltend, und die Entrüstung über die an den Serben in der österreichisch-ungarischen Monarchie geübte Rache übertönte schon nach wenigen Tagen alle Äußerungen der Teilnahme für den greisen Kaiser Franz Joseph und das Reich.
(…) Nicht nur in der Presse, sondern auch in der Gesellschaft begegnete man fast nur unfreundlichen Urteilen über den ermordeten Erzherzog unter Hinweis darauf, daß Rußland in ihm einen erbitterten Feind verloren habe.* (…) es sei im höchsten Maße ungerecht, die serbische Regierung, die sich vollkommen korrekt verhalte, für die Verbrechen verantwortlich zu machen, wie es in der österreichisch-ungarischen Presse geschehe. Mit demselben Recht hätte Rußland wiederholt die französische Regierung für Attentate, die auf französischem Boden vorbereitet und in Rußland verübt wurden, zur Rechenschaft ziehen können.**
(…) Diese Zurückhaltung ist nur durch den unversöhnlichen Haß des Ministers gegen Österreich-Ungarn zu erklären, einen Haß, der überhaupt hier mehr und mehr jedes klare und ruhige Urteil trübt.*** Wir werden, wie ich glaube, mit dieser Erscheinung, die auch notwendig auf unsere Beziehungen zu Rußland zurückwirken muß, noch auf Jahre hinaus zu rechnen haben. **** Sie ist um so bemerkenswerter, als mit der Erbitterung gegen Österreich eine immer wachsende Überhebung gegenüber der habsburgischen Monarchie Hand in Hand geht. Alle Äußerungen, die man hier auch in amtlichen Kreisen über Österreich-Ungarn hört, zeugen von einer grenzenlosen Verachtung für die dort herrschenden***** Verhältnisse.
[Randbemerkungen des Kaisers:]
* „Er wollte ja immer den alten 3‑Kaiserbund wiederherstellen! Er war der beste Freund Rußlands!“
** „warum geschah es nicht?“
*** „richtig“
**** „natürlich, habe ich schon“
***** „Hochmuth kommt vorm Fall!“
Ballholm, den 14. Juli 1914 – Der Kaiser an den Kaiser von Österreich
Mein teurer Freund!
(…) Ich betrachte die von Großvater und Vater auf mich überkommene enge Freundschaft zu Dir als ein kostbares Vermächtnis und erblicke in deren Erwiderung durch Dich das sicherste Pfand für den Schutz unserer Länder.
(…) Ich muß davon absehen, zu der zwischen Deiner Regierung und Serbien schwebenden Frage Stellung zu nehmen. Ich erachte es aber nicht nur für eine moralische Pflicht aller Kulturstaaten, sondern als ein Gebot für ihre Selbsterhaltung, die Propaganda der Tat, die sich vornehmlich das feste Gefüge der Monarchien als Angriffsobjekt ausersieht, mit allen Machtmitteln entgegenzutreten. Ich bin daher bereit, das Bestreben Deiner Regierung [zur Eingrenzung des russischen Einflusses auf dem Balkan] nach Tunlichkeit zu fördern. (…)
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London, den 14. Juli 1914 [im Auswärtigen Amt eingegangen am 15. Juli] – Der Botschafter in London Lichnowsky an das Auswärtige Amt
Es wird schwer halten, die gesamte serbische Nation als ein Volk von Bösewichten und Mördern zu brandmarken und ihm dadurch, wie der Lokalanzeiger bestrebt ist, die Sympathien des gesitteten Europas zu entziehen (…) Es ist vielmehr anzunehmen, daß die hiesigen Sympathien sich dem Serbentum sofort und in lebhafter Form zuwenden werden, sobald Österreich zur Gewalt greift, und daß die Ermordung des hier schon wegen seiner klerikalen Neigungen wenig beliebten Thronfolgers nur als ein Vorwand gelten wird, den man benutzt, um den unbequemen Nachbarn zu schädigen. Die britischen Sympathien, namentlich aber die der liberalen Partei, haben sich in Europa meist dem Nationalitätenprinzip zugewandt, bei den Kämpfen der Italiener gegen die österreichische, päpstliche oder bourbonische Herrschaft, und haben bei Balkankrisen gewöhnlich den dortigen Slawen gegolten. (…)
Berlin, den 14. Juli 1914 [Telegramm, vermutlich am nächsten Tag eingetroffen] – Der Staatssekretär des Auswärtigen Jagow an den Botschafter in Rom und den Geschäftsträger in Bukarest
Sollten die Resultate der Untersuchung über den Mord in Sarajevo Österreich-Ungarn zu ernsteren Maßnahmen gegen Serbien veranlassen, so hätten wir ebenso wie das übrige Europa das größte Interesse daran, einen hieraus sich eventuell ergebenden Konflikt zu lokalisieren [d.h. örtlich zu begrenzen; Anm. d. Red.]. Dies hängt davon ab, daß die öffentliche Meinung in ganz Europa es ihren Regierungen ermöglicht, der Austragung der Differenz zwischen Österreich und Serbien untätig zuzusehen. Herzu ist es notwendig, daß auch in der dortigen Presse die Auffassung Raum gewinnt, bei diesem Konflikt handle es sich um eine Angelegenheit, die nur die beiden Beteiligten betrifft. Man könne es Österreich nicht verdenken, wenn es sich gegen die stete Bedrohung seines Bestandes durch Treibereien im Nachbarlande mit allen Mitteln zur Wehr setzt. Die Sympathien der gesamten Kulturwelt müßten in diesem Kampfe auf seiner Seite sein, da es sich darum handele, eine Propaganda endgültig zu ersticken, die selbst vor Meuchelmord als Kampfmittel nicht zurückschreckt und durch die skrupellose und frivole Art ihrer Ausübung einen Schandfleck für die europäische Kultur und eine dauernde Gefahr für den europäischen Frieden bilde.
Bitte in diesem Sinne tunlichst auf die dortige Presse einzuwirken, dabei aber sorgfältig alles zu vermeiden, was den Anschein erwecken könnte, als hetzten wir die Österreicher zum Kriege.
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Wien, den 14. Juli 1914 [im Auswärtigen Amt eingegangen am 15. Juli] – Der Botschafter in Wien von Tschirschky an den Reichskanzler
[Wiedergabe eines Gesprächs zwischen dem ungarischen Ministerpräsidenten Graf Tisza und dem deutschen Botschafter] (…) Die Sprache der serbischen Presse und der serbischen Diplomaten sei in ihrer Anmaßung geradezu unerträglich. „Ich habe mich schwer entschlossen,“ meinte der Minister, „zum Kriege zu raten, bin aber jetzt fest von dessen Notwendigkeit überzeugt, und ich werde mit aller Kraft für die Größe der Monarchie einstehen.“
Glücklicherweise herrsche jetzt unter den hier maßgebenden Persönlichkeiten volles Einvernehmen und Entschlossenheit. (…) die bedingungslose Stellungnahme Deutschlands an der Seite der Monarchie sei entschieden für die feste Haltung des Kaisers von großem Einfluß gewesen.
Wien, den 13. Juli 1914 [am 14. Juli im Auswärtigen Amt eingegangen] – Der Botschafter in Wien von Tschirschky an das Auswärtige Amt
Die Haltung der hiesigen Presse verfolgt sichtlich die vom Ballhausplatz [damals Sitz des k.u.k. Außenministeriums; Anm. d. Red.] inspirierte Tendenz, die öffentliche Meinung nicht vorzeitig zu beunruhigen. Zugleich wird aber durch ausführliche Reproduktion der serbischen Preßartikel für deren weiteste Verbreitung gesorgt und darauf hingewiesen, daß Serbien durch seine Wühlereien, die in dem Attentat auf den Thronfolger gipfelten, allen Kredit in Europa verloren haben müsse. (…)
[Wiedergabe einer als halbamtlich hervorgehobenen Zeitungsmeldung:] Mit Rücksicht darauf, daß die Untersuchung über das Sarajevoer Mordattentat noch nicht zum Abschlusse gelangt ist, sind auch alle Kombinationen über Form und Inhalt einer allfälligen diplomatischen Aktion Österreich-Ungarns be der Belgrader Regierung verfrüht und müßig. (…) Die serbischen Blätter strengen sich seit Tagen an, Beweise dafür zu erbringen, daß die Monarchie keinen Rechtstitel zu irgendwelchen Forderungen besitzt, und wehren sich heute schon gegen Zumutungen, die bisher niemand gestellt hat. [Ende der Meldung]
Berlin, den 12. Juli 1914 [Telegramm, dem Empfänger vermutlich am Folgetag bekannt geworden] – Der Staatssekretär des Auswärtigen Jagow an den Botschafter in London Lichnowsky
Die Untersuchung des Mordes von Sarajevo läßt immer deutlicher erkennen, daß die geistigen Urheber in politischen und militärischen Kreisen Belgrads sitzen. Es besteht die Möglichkeit, daß Österreich sich infolgedessen zu ernsteren Maßnahmen gegen Serbien entschließen und diese zu allgemeinen Komplikationen führen könnten. Wir wünschen unter allen Umständen Lokalisierung des Konflikts.* Hierzu ist es nötig, daß die öffentliche Meinung in Europa es ihren Regierungen ermöglicht, die Austragung der Differenz** zwischen Österreich und Serbien ohne Parteinahme zuzusehen. Es ist daher erforderlich, daß auch in der dortigen Presse schon jetzt eine Stimmung geschaffen wird, die in den Attentat ebenso wie seiner Zeit in der Ermordung des serbischen Königspaares den Ausfluß einer mit dem Kulturgewissen Europas unvereinbaren politischen Verbrechermoral sieht und die es begreiflich erscheinen läßt, daß die Nachbarmonarchie sich gegen diese dauernde Bedrohung von serbischer Seite zur Wehr setzt. Bitte in diesem Sinne tunlichst auf die dortige Presse einzuwirken, dabei aber sorgfältig alles vermeiden, was den Anschein erwecken könnte, als hetzten wir die Österreicher zum Kriege.
[* in der ursprünglichen Fassung, von dem Vortragenden Rat im Auswärtigen Amt von Radowitz bereits am 7. Juli verfaßt, stand statt der vorstehenden zwei Sätze „Österreich scheint entschlossen, sich diese Gelegenheit zur Abrechnung mit Serbien nicht entgehen zu lassen. Wir stehen dieser Auffassung sympathisch gegenüber, wünschen aber einen etwaigen Krieg lokalisiert zu sehen.“
** ursprünglich: „des Kampfes“]
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Berlin, den 12. Juli 1914 [vermutlich am Folgetag in Wien eingegangen] – Der Staatssekretär des Auswärtigen Jagow an den Botschafter in Wien von Tschirschky
Zur streng vertraulichen Orientierung des Grafen Berchtold [k.u.k. Außenminister; Erinnerung d. Red.]
Nach geheimen Nachrichten liegt Rußland und Serbien die vertrauliche Information vor, daß Österreich-Ungarn seine Garnisonen an serbischer und russischer Grenze unauffällig verstärkt.