Lessing-Preises 2014 der Freien und Hansestadt Hamburg die Tradition der fruchtbaren Auseinandersetzung linker Theoretiker mit dem Werk Carl Schmitts fortgesetzt.
Erinnert sei an Joachim Schickel, der Schmitts Theorie des Partisanen für die Revolutionsrechtfertigung der sich radikalisierenden Linken nach 1968 entdeckte (zusammengestellt in: Gespräche mit Carl Schmitt, Berlin 1993) oder an Jacob Taubes, der sich für Schmitts Politische Theologie interessierte: Wir verdanken ihm den Hinweis darauf, daß in die israelische Verfassung von 1949 Überlegungen aus Schmitts Verfassungslehre von 1928 eingeflossen seien (Beleg: Ad Carl Schmitt, Berlin 1987). Und dann ist da noch der „Dutschke von Wien“, Günter Maschke, der sich nicht zuletzt aufgrund einer intensiven Auseinandersetzung mit Schmitts Werk zu einem wirkmächtigen Reaktionär mauserte.
Schivelbusch nun bezog sich in seiner Rede vom 9. Februar dieses Jahres auf ein Kapitel aus Schmitts Der Nomos der Erde. Sie ist in verschriftlichter Form in der Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung, Mittelweg 36, erschienen (Heft April/Mai 2014) und spielt schon in ihrem Titel auf Schmitt an: „’Perfides Albion’ oder Eine Seenahme im Cyberspace“. Jeder, der den Nomos der Erde oder die schmalere und eingängigere Schrift Land und Meer je las und dabei den Unterschied zwischen den Landtretern kontinentalen und den Seeschäumern maritimen Geistes kennenlernte, wird den Begriff „Seenhame“ als Hinweis darauf lesen, daß hier wieder einmal an Carl Schmitt nicht vorbeigedacht werden könne.
Schivelbuschs weist in seinem Text auf die unterschiedlichen Reaktionen hin, die die Enthüllungen rund um den NSA-Abhör- und Ausspähskandal diesseits und jenseits des Atlantiks hervorgerufen hätten, wobei er mit „jenseits“ nicht nur die USA, sondern auch Großbritannien meint. Unaufgeregt hätten nicht nur die Regierungen dieser beiden Staaten reagiert, sondern auch die Medien, und die dahinterstehende Mentalität lasse sich „in etwa durch die beiden rhetorischen Fragen charakterisieren: Was regen sich die Europäer denn so auf? Und: Nehmen die am Ende die demokratischen Prinzipien wirklich ernst?“
Wie Hohn müsse das der bildungsbürgerliche Elite der Bundesrepublik in den Ohren klingen, die doch „nach 1945 die Botschaft der britisch-amerikanischen Umerziehung bereitwilligst aufnahm“, und so langsam dämmere es der gekränkten Partei: „Sie ist schlicht und einfach nicht mehr Herr im eigenen Haus.“ Schivelbusch – er verwendet (man muß es festhalten!) das rechte Schlüsselwort Umerziehung ohne Anführungszeichen – bezeichnet im weiteren Verlauf das Verhalten der USA als Schritt hin zu einer Rückkehr in die „anglo-amerikanische Spielart des Herrenrasse-Denkens“: Die Bruchlinie sei eben jene, „die seit der frühen Neuzeit das kontinentale vom insularen Europa trennt“.
In seiner Bestimmung dieser mentalen Bruchlinie folgt Schivelbusch nun den Ausführungen Carl Schmitts aus dessen Nomos der Erde: England habe als erste europäische Macht die Weltmeere nicht als zu überwindende Trennung zwischen Land und möglicher Kolonie, sondern als „Weltverbindungsmedium“ begriffen und genutzt. Hätte es nun den Versuch unternommen, sich den Ozean anzueignen, hätte es sich alle anderen Nationen zum Feind gemacht. Stattdessen erklärte England die Meere zu einer Sache aller und niemandes, res omnium et nullius. Indes: „Das formell herrenlose und allen gleichermaßen zustehende Meer wurde faktisch von der englischen Flotte kontrolliert.“ Es war – diplomatisch genial verschleiert durch eine juristische Allgemeinheitsformel – die Beute eines einzelnen.
Wie fruchtbar Schivelbusch Schmitt liest, zeigt er, indem er diese verschleierte Seenahme mit der heutigen Raumnahme im cyberspace vergleicht: „Die Rolle der englischen Flotte nehmen heute die privatwirtschaftlichen, also formell unabhängigen, real also mit den Geheimdiensten amalgamierten Unternehmen der Informations- und Kommunikationsindustrie ein.“ Jeder Aufstand dagegen habe es nicht zuletzt deshalb so schwer, weil bloßes Know-how nicht ausreiche. Entscheiden sei ein Convince-How, also die Kunst, alle anderen von der Lauterkeit der eigenen Absichten zu überzeugen.
Was meint Schivelbusch damit? In meinen Worten: Der cyberspace ist die Beute weniger Riesen (amazon, google, facebook, yahoo usf.), denen es gelingt, das geistige Besatzungsregime als allgemeine Freiheit zu verkaufen und die Masse dazu zu verführen, freiwillig zur Beute zu werden. Alle anderen dürfen mit ihren Schaluppen bei Ebbe auslaufen. Um derlei perfide Strategien in die Tat umzusetzen, bedarf es einer ortlosen Mentalität.
Schivelbusch hat Tiefenlinien seziert.
(Zeitschrift Mittelweg 36)
Rainer Gebhardt
Danke für den sehr interessanten Beitrag.