60 Jahre nach Bern: Deutschland ist wieder Weltmeister!

Da unsere Fußballnationalmannschaft gestern so bravourös gekämpft und uns mit dem vierten Stern beschenkt hat,...

Erik Lehnert

Erik Lehnert ist promovierter Philosoph.

wol­len wir heu­te die “Juli-Kri­se” mal etwas in den Hin­ter­grund tre­ten las­sen. Für alle, die hier mit­le­sen, wird ver­mut­lich der Titel von 1990 der wich­tigs­te blei­ben. Ob der gest­ri­ge Titel das Zeug zur Mythen­bil­dung hat, wird sich zei­gen. Er gibt uns aber Anlaß, mit dem ent­spre­chen­den Bei­trag aus dem 4. Band des Staats­po­li­ti­schen Hand­buchs, Deut­sche Orte (die über­mor­gen aus der Dru­cke­rei kommt!), an das “Wun­der von Bern” zu erinnern:

Deut­sche Orte – Bern – ver­faßt von Mar­tin Grundweg

Ausch­witz mag der nega­ti­ve „Grün­dungs­my­thos“ (Josch­ka Fischer) der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land sein; es gibt aber auch einen posi­ti­ven, näm­lich das „Wun­der von Bern“: Aus den Trüm­mern des Zusam­men­bruchs von 1945 erstan­den neun Jah­re spä­ter stell­ver­tre­tend für die deut­sche Nati­on elf Mann unter der Füh­rung von Trai­ner Sepp Her­ber­ger, um in der Schweiz der Welt vom Fuß­ball­platz aus zu bewei­sen, daß Deutsch­land sei­nen Lebens­wil­len nicht auf­ge­ge­ben hat­te. Als kras­ser Außen­sei­ter im End­spiel gegen Ungarn gelang der deut­schen Mann­schaft ein Sieg, der in der gan­zen Nati­on Begeis­te­rung aus­lös­te und neue Zukunfts­hoff­nung ver­brei­te­te – man „war wie­der wer“. Mit der Mann­schaft von Bern hat­te die jun­ge Bun­des­re­pu­blik ihre ers­ten Helden.

Der Ort des Tri­um­phes, das Sta­di­on Wank­dorf, exis­tiert heu­te aller­dings nicht mehr. 2001 wur­de es abge­ris­sen und vier Jah­re spä­ter durch das Sta­de de Suis­se ersetzt, das den Anfor­de­run­gen der UEFA an ein „Eli­te­sta­di­on“ als Aus­tra­gungs­ort der Fuß­ball-Euro­pa­meis­ter­schaft 2008 genü­gen muß­te. Der Abriß erfolg­te damit zwei Jah­re vor dem Kino­start von Sön­ke Wort­manns „Das Wun­der von Bern“, der die Ereig­nis­se um die Welt­meis­ter­mann­schaft mit dem Schick­sal einer Esse­ner Berg­ar­bei­ter­fa­mi­lie geschickt mit­ein­an­der ver­knüpft und so dem Grün­dungs­my­thos einen fil­mi­schen Aus­druck ver­leiht. Kriegs­heim­keh­rer­schaft, schwie­ri­ge Wirt­schafts­la­ge, Gene­ra­tio­nen­kon­flikt, sogar die Tei­lung der Nati­on wer­den the­ma­ti­siert; mit dem deut­schen Sieg in Bern tre­ten die Pro­ble­me aber in den Hin­ter­grund und die kol­lek­ti­ve Begeis­te­rung über den Erfolg der Nati­on tritt her­vor. Das alles ist mög­lich, weil sich der Fuß­ball als klas­sen­über­grei­fen­der Volks­sport durch­ge­setzt hat.

Dabei ist Fuß­ball erst rela­tiv spät in Deutsch­land popu­lär gewor­den. Wenn es im 19. Jahr­hun­dert einen deut­schen Volks­sport gab, dann war dies das Tur­nen, des­sen auch poli­tisch-mili­tä­ri­scher Nut­zen seit den Befrei­ungs­krie­gen außer Fra­ge stand. Im her­auf­zie­hen­den Mas­sen­zeit­al­ter aller­dings lagen die Vor­tei­le des Fuß­balls auf der Hand, der nicht nur dem mensch­li­chen Bedürf­nis nach Wett­streit bes­ser ent­sprach als das Tur­nen, son­dern der auch als Mann­schafts­sport einen bes­se­ren Aus­gleich zwi­schen indi­vi­du­el­ler Leis­tung und Ein­fü­gung in die Gemein­schaft gewähr­leis­te­te. Die rela­ti­ve Ein­fach­heit der Regeln und die Erlaub­nis auch här­te­ren Kör­per­ein­sat­zes brach­ten dem Fuß­ball­sport in der ers­ten Hälf­te des 20. Jahr­hun­derts in Deutsch­land aller­dings zunächst den Ruf einer eher „pro­le­ta­ri­schen“ Ange­le­gen­heit ein. Das war ande­rer­seits aber auch wie­der von Vor­teil, weil es sich beim Fuß­ball ein­deu­tig um einen männ­li­chen Sport han­del­te, im Gegen­satz zu Ten­nis oder Golf, deren Beliebt­heit in der Zwi­schen­kriegs­zeit viel­fach als Sym­ptom für die Femi­ni­sie­rung der Gesell­schaft ange­se­hen wur­de. Bezeich­nen­der­wei­se gewann Fuß­ball bereits vor 1914 unter jun­gen Offi­zie­ren eini­ge Beliebtheit.

Ein Ein­fluß auf die Mas­sen mach­te sich seit den 1920er Jah­ren bemerk­bar, sodaß 1954 tat­säch­lich der Boden für die kol­lek­ti­ve Emp­fin­dung berei­tet war, bei einer Fuß­ball-Welt­meis­ter­schaft han­de­le es sich um ein Ereig­nis von natio­na­ler Bedeu­tung. Die beson­de­re Eig­nung des Fuß­ball­sports für die Stif­tung kol­lek­ti­ver Iden­ti­tät unter den Bedin­gun­gen des Mas­sen­zeit­al­ters dürf­te außer Fra­ge ste­hen: Fuß­ball ist unmit­tel­bar gemein­schafts- und iden­ti­täts­bil­dend – und zwar im genau­en Sinn, indem es näm­lich in aller Deut­lich­keit das „Wir“ vom „Nicht-Wir“ unter­schei­det. Dar­über hin­aus eig­net er sich beson­ders gut als sozia­ler Mythos, weil er in der Lage ist, jene Ansamm­lun­gen von „Schlacht­bil­dern“ (Geor­ge Sor­el) zu lie­fern, die mobi­li­sie­rend wir­ken und die immer wie­der erzählt wer­den kön­nen. Ob das nun die Auf­nah­men des Ber­ner Sieg­to­res von Hel­mut Rahn bzw. der Radio­kom­men­tar von Her­bert Zim­mer­mann sind oder das berühm­te Wem­bley-Tor von 1966, das zum WM-Aus Deutsch­lands gegen Eng­land führ­te: Auch heu­te noch ver­mö­gen die ent­spre­chen­den Bil­der die gewünsch­ten Emo­tio­nen her­vor­zu­ru­fen. Fuß­ball hat dadurch wie wenig ande­res den „Sta­tus eines Sym­bol­spen­ders“ (Wolf­ram Pyta) erreicht. Und selbst­ver­ständ­lich wer­den heu­te nir­gend­wo mehr alte natio­na­le Erb­feind­schaf­ten so hem­mungs­los aus­ge­lebt wie im Fußballstadion.

Der Sie­ges­zug des Fuß­balls in Deutsch­land war nach 1954 unauf­halt­sam, auch wenn die bei­den wei­te­ren deut­schen Welt­meis­ter­schafts­ti­tel 1974 und 1990 bei wei­tem nicht die mythi­sche Qua­li­tät des ers­ten erreich­ten. Den­noch hat sich die gemein­schafts­stif­ten­de Funk­ti­on eher noch ver­stärkt, zumal es kaum noch Vor­be­hal­te aus den Rei­hen des Bil­dungs­bür­ger­tums gibt und bür­ger­li­che Zei­tun­gen sogar im Feuil­le­ton über Fuß­ball berich­ten. Auch die immer stär­ke­re Inter­na­tio­na­li­sie­rung des Pro­fi­fuß­balls und das damit ver­bun­de­ne gigan­ti­sche finan­zi­el­le Volu­men haben bis­lang nichts dar­an ändern kön­nen, daß sich mas­sen­haf­tes Natio­nal­be­wußt­sein in Deutsch­land wenn über­haupt, dann im Fuß­ball­sta­di­on äußert; das umso mehr, seit 2006 „die Welt zu Gast bei Freun­den“ gewe­sen ist und Deutsch­land sich als freund­li­cher und vor allem harm­lo­ser Gast­ge­ber eines Welt­meis­ter­schafts­tur­niers prä­sen­tie­ren durfte.

Das Wun­der von Bern 1954 erweist sich bei genaue­rem Hin­se­hen daher auch weni­ger als gesamt­na­tio­na­ler Mythos, son­dern als Grün­dungs­my­thos der Bun­des­re­pu­blik im genau­en Sinn. Es ist ein Sym­bol des Zusam­men­halts und der Zukunfts­hoff­nung in einem vom Krieg gezeich­ne­ten, am Boden lie­gen­den, von der Geschich­te wider­leg­ten Land. Aber die hier beschwo­re­ne Zukunfts­hoff­nung war eigent­lich kei­ne deut­sche mehr, die Hal­tung des „Wir sind wie­der wer“ galt im Grun­de nur dem wirt­schaft­li­chen Poten­ti­al der BRD, und obwohl noch jahr­zehn­te­lang die „deut­sche Spiel­wei­se“ in der Welt eher gefürch­tet als geach­tet war, so äußer­te sich 1954 in Bern doch weni­ger der Selbst­be­haup­tungs­wil­le der Deut­schen als Nati­on als viel­mehr der Wunsch nach Anpas­sung an den Wes­ten: danach, genau so zu sein wie die Ver­tre­ter der „Zivi­li­sa­ti­on“ (Tho­mas Mann), gegen die man 1914 noch im Namen der deut­schen Kul­tur ange­tre­ten war.

 

Erik Lehnert

Erik Lehnert ist promovierter Philosoph.

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