wollen wir heute die “Juli-Krise” mal etwas in den Hintergrund treten lassen. Für alle, die hier mitlesen, wird vermutlich der Titel von 1990 der wichtigste bleiben. Ob der gestrige Titel das Zeug zur Mythenbildung hat, wird sich zeigen. Er gibt uns aber Anlaß, mit dem entsprechenden Beitrag aus dem 4. Band des Staatspolitischen Handbuchs, Deutsche Orte (die übermorgen aus der Druckerei kommt!), an das “Wunder von Bern” zu erinnern:
Deutsche Orte – Bern – verfaßt von Martin Grundweg
Auschwitz mag der negative „Gründungsmythos“ (Joschka Fischer) der Bundesrepublik Deutschland sein; es gibt aber auch einen positiven, nämlich das „Wunder von Bern“: Aus den Trümmern des Zusammenbruchs von 1945 erstanden neun Jahre später stellvertretend für die deutsche Nation elf Mann unter der Führung von Trainer Sepp Herberger, um in der Schweiz der Welt vom Fußballplatz aus zu beweisen, daß Deutschland seinen Lebenswillen nicht aufgegeben hatte. Als krasser Außenseiter im Endspiel gegen Ungarn gelang der deutschen Mannschaft ein Sieg, der in der ganzen Nation Begeisterung auslöste und neue Zukunftshoffnung verbreitete – man „war wieder wer“. Mit der Mannschaft von Bern hatte die junge Bundesrepublik ihre ersten Helden.
Der Ort des Triumphes, das Stadion Wankdorf, existiert heute allerdings nicht mehr. 2001 wurde es abgerissen und vier Jahre später durch das Stade de Suisse ersetzt, das den Anforderungen der UEFA an ein „Elitestadion“ als Austragungsort der Fußball-Europameisterschaft 2008 genügen mußte. Der Abriß erfolgte damit zwei Jahre vor dem Kinostart von Sönke Wortmanns „Das Wunder von Bern“, der die Ereignisse um die Weltmeistermannschaft mit dem Schicksal einer Essener Bergarbeiterfamilie geschickt miteinander verknüpft und so dem Gründungsmythos einen filmischen Ausdruck verleiht. Kriegsheimkehrerschaft, schwierige Wirtschaftslage, Generationenkonflikt, sogar die Teilung der Nation werden thematisiert; mit dem deutschen Sieg in Bern treten die Probleme aber in den Hintergrund und die kollektive Begeisterung über den Erfolg der Nation tritt hervor. Das alles ist möglich, weil sich der Fußball als klassenübergreifender Volkssport durchgesetzt hat.
Dabei ist Fußball erst relativ spät in Deutschland populär geworden. Wenn es im 19. Jahrhundert einen deutschen Volkssport gab, dann war dies das Turnen, dessen auch politisch-militärischer Nutzen seit den Befreiungskriegen außer Frage stand. Im heraufziehenden Massenzeitalter allerdings lagen die Vorteile des Fußballs auf der Hand, der nicht nur dem menschlichen Bedürfnis nach Wettstreit besser entsprach als das Turnen, sondern der auch als Mannschaftssport einen besseren Ausgleich zwischen individueller Leistung und Einfügung in die Gemeinschaft gewährleistete. Die relative Einfachheit der Regeln und die Erlaubnis auch härteren Körpereinsatzes brachten dem Fußballsport in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Deutschland allerdings zunächst den Ruf einer eher „proletarischen“ Angelegenheit ein. Das war andererseits aber auch wieder von Vorteil, weil es sich beim Fußball eindeutig um einen männlichen Sport handelte, im Gegensatz zu Tennis oder Golf, deren Beliebtheit in der Zwischenkriegszeit vielfach als Symptom für die Feminisierung der Gesellschaft angesehen wurde. Bezeichnenderweise gewann Fußball bereits vor 1914 unter jungen Offizieren einige Beliebtheit.
Ein Einfluß auf die Massen machte sich seit den 1920er Jahren bemerkbar, sodaß 1954 tatsächlich der Boden für die kollektive Empfindung bereitet war, bei einer Fußball-Weltmeisterschaft handele es sich um ein Ereignis von nationaler Bedeutung. Die besondere Eignung des Fußballsports für die Stiftung kollektiver Identität unter den Bedingungen des Massenzeitalters dürfte außer Frage stehen: Fußball ist unmittelbar gemeinschafts- und identitätsbildend – und zwar im genauen Sinn, indem es nämlich in aller Deutlichkeit das „Wir“ vom „Nicht-Wir“ unterscheidet. Darüber hinaus eignet er sich besonders gut als sozialer Mythos, weil er in der Lage ist, jene Ansammlungen von „Schlachtbildern“ (George Sorel) zu liefern, die mobilisierend wirken und die immer wieder erzählt werden können. Ob das nun die Aufnahmen des Berner Siegtores von Helmut Rahn bzw. der Radiokommentar von Herbert Zimmermann sind oder das berühmte Wembley-Tor von 1966, das zum WM-Aus Deutschlands gegen England führte: Auch heute noch vermögen die entsprechenden Bilder die gewünschten Emotionen hervorzurufen. Fußball hat dadurch wie wenig anderes den „Status eines Symbolspenders“ (Wolfram Pyta) erreicht. Und selbstverständlich werden heute nirgendwo mehr alte nationale Erbfeindschaften so hemmungslos ausgelebt wie im Fußballstadion.
Der Siegeszug des Fußballs in Deutschland war nach 1954 unaufhaltsam, auch wenn die beiden weiteren deutschen Weltmeisterschaftstitel 1974 und 1990 bei weitem nicht die mythische Qualität des ersten erreichten. Dennoch hat sich die gemeinschaftsstiftende Funktion eher noch verstärkt, zumal es kaum noch Vorbehalte aus den Reihen des Bildungsbürgertums gibt und bürgerliche Zeitungen sogar im Feuilleton über Fußball berichten. Auch die immer stärkere Internationalisierung des Profifußballs und das damit verbundene gigantische finanzielle Volumen haben bislang nichts daran ändern können, daß sich massenhaftes Nationalbewußtsein in Deutschland wenn überhaupt, dann im Fußballstadion äußert; das umso mehr, seit 2006 „die Welt zu Gast bei Freunden“ gewesen ist und Deutschland sich als freundlicher und vor allem harmloser Gastgeber eines Weltmeisterschaftsturniers präsentieren durfte.
Das Wunder von Bern 1954 erweist sich bei genauerem Hinsehen daher auch weniger als gesamtnationaler Mythos, sondern als Gründungsmythos der Bundesrepublik im genauen Sinn. Es ist ein Symbol des Zusammenhalts und der Zukunftshoffnung in einem vom Krieg gezeichneten, am Boden liegenden, von der Geschichte widerlegten Land. Aber die hier beschworene Zukunftshoffnung war eigentlich keine deutsche mehr, die Haltung des „Wir sind wieder wer“ galt im Grunde nur dem wirtschaftlichen Potential der BRD, und obwohl noch jahrzehntelang die „deutsche Spielweise“ in der Welt eher gefürchtet als geachtet war, so äußerte sich 1954 in Bern doch weniger der Selbstbehauptungswille der Deutschen als Nation als vielmehr der Wunsch nach Anpassung an den Westen: danach, genau so zu sein wie die Vertreter der „Zivilisation“ (Thomas Mann), gegen die man 1914 noch im Namen der deutschen Kultur angetreten war.