Wir vertrauen auf Friedensliebe Rußlands und unsere altbewährten guten Beziehungen, daß es keinen Schritt unternimmt, welcher den europäischen Frieden ernstlich gefährden würde.
[Ähnlich lautende Telegramme dahingehend, man hoffe auf mäßigende Einwirkung in Richtung Petersburg, wurden nach Paris und London zur Übermittlung an die dortigen Regierungen geschickt; Anm. d. Red.]
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[Entwurf eines nicht abgesandten Telegramms des Kaisers an den Zaren, Übersetzung aus dem Englischen]
Du wirst sicher mit mir darin übereinstimmen, daß der österreichisch-serbische Konflikt nur Österreich und Serbien angeht, und da0 man es beiden Ländern überlassen sollte, diese Angelegenheit unter sich zu regeln. Die in Serbien seit Jahren betriebene gewissenlose Agitation hat zu dem abscheulichen Verbrechen geführt, dem Franz Ferdinand zum Opfer gefallen ist. Es ist mein und Dein und überhaupt aller Monarchen gemeinsames Interesse, daß dieses Verbrechen und alle Personen, die moralisch dafür verantwortlich sind, die verdiente Strafe erhalten. Österreich muß freie Hand gewährt werden, das Übel bei der Wurzel zu fassen und die revolutionäre Bewegung in Serbien zu ersticken, die auf andere Länder übergreifen und eines Tages Deinen wie meinen Thron gefährden kann. Der Geist, der die Serben ihren eigenen König und seine Gemahlin morden ließ, herrscht immer noch im Lande. Es wäre unsererseits Torheit und Selbstmord, ihnen irgendwie die verwirkte Strafe zu ersparen.
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London, den 27. Juli 1914 [Telegramm, im Auswärtigen Amt selben Tag eingegangen] – Der Botschafter in London Lichnowsky an das Auswärtige Amt
Sir E. Grey ließ mich soeben kommen und bat mich, Ew. Exzellenz nachstehendes zu übermitteln.
Der serbische Geschäftsträger habe ihm soeben den Wortlaut der serbischen Antwort auf die österreichische Note übermittelt. Aus derselben gehe hervor, daß Serbien den österreichischen Forderungen in einem Umfange entgegengekommen sei, wie er es niemals für möglich gehalten habe; bis auf einen Punkt, der Teilnahme österreichischer Beamter an den gerichtlichen Untersuchungen, habe Serbien tatsächlich in alles eingewilligt, was von ihm verlangt worden sei. (…)
Begnüge sich Österreich nicht mit dieser Antwort, bzw. werde diese Antwort in Wien nicht als Grundlage für friedliche Unterhandlungen betrachtet, (…) so sei es vollkommen klar, daß Österreich nur nach einem Vorwand suche, um Serbien zu erdrücken. In Serbien solle aber alsdann Rußland getroffen werden und der russische Einfluß auf dem Balkan. Es sei klar, daß Rußland dem nicht gleichgültig zusehen könne und es als eine direkte Herausforderung auffassen müsse. Daraus würde der fürchterlichste Krieg entstehen, den Europa jemals gesehen habe, und niemand wisse, wohin ein solcher Krieg führen könnte.
(Literatur zur Vorgeschichte des I. Weltkriegs und zur Kriegsschuldfrage finden Sie im Bücherschrank I. Weltkrieg.)
Paris, den 24. Juli 1914 [Telegramm; im Auswärtigen Amt am 25. Juli eingegangen] – Der Botschafter in Paris, Schoen, an das Auswärtige Amt
(…) Französische Regierung teile aufrichtig Wunsch, daß Konflikt lokalisiert bleibe,* und werde sich in diesem Sinne im Interesse der Erhaltung des europäischen Friedens bemühen. Sie verhehle sich dabei freilich nicht, daß es einer Macht wie Rußland, die mit panslawistischen Strömungen zu rechnen habe, nicht leicht fallen könnte, sich vollständig zu desinteressieren, namentlich dann, wenn Österreich-Ungarn auf sofortiger Erfüllung aller Forderungen bestehen sollte, auch solchen, welche mit serbischer Souveränität schwer vereinbar oder materiell nicht sofort ausführbar. Französische Regierung finde es selbstverständlich, daß Serbien in überzeugender Weise Genugtuung geben und Bestragung von Verbrechern und Verhinderung von Verschwörungen gegen Österreich-Ungarn zusichern müsse. Man habe hier auch den Serben geraten, so weit wie irgend möglich nachzugeben. Man sei aber auch der Ansicht, daß Österreich-Ungarn gut tue, falls etwa Serbien nicht alle Forderungen sofort erfülle, sondern über einzelne Punkte zu diskutieren** wünsche, diese Wünsche nicht ohne weiteres abzuweisen, vorausgesetzt, daß im ganzen der gute Wille Serbiens nicht zweifelhaft.***
[Randbemerkungen des Kaisers:
* „Quatsch“
** „Ultimata erfüllt man oder nicht! aber man diskutiert nicht mehr! Daher der Name!“
*** „das ist er!“
[unter dem Text:] „Verklausuliertes Blech!“]
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Wien, den 24. Juli 1914 [Telegramm, im Auswärtigen Amt am 25. Juli eingegangen] – Der Botschafter in Wien Tschirschky an das Auswärtige Amt
Um Rußland gegenüber seine guten Dispositionen zu dokumentieren,* hat Graf Berchtold heute vormittag den russischen Geschäftsträger zu sich gebeten, um ihm eingehend den Standpunkt Österreich-Ungarns Serbien gegenüber auseinanderzusetzen. (…) Österreich werde keinerlei serbisches Territorium beanspruchen.** In gleicher Weise sei in der an Serbien gerichteten Note sorgsam jede Demütigung Serbiens vermieden worden. (…)
Es liege ihm weiter fern, eine Verschiebung der bestehenden Machtverhältnisse am Balkan und in Europa herbeiführen zu wollen.*** (…)
[Randbemerkungen des Kaisers:
* „gänzlich überflüssig! wird Eindruck der Schwäche erwecken und Eindruck der Entschuldigung hervorrufen, was Rußland gegenüber unbedingt falsch ist und vermieden werden muß. Österreich hat seine guten Gründe, hat darauf hin den Schritt gethan, nun kann er nicht hinterher quasi zur Diskussion gestellt werden!“
** „Esel! Den Sandschak muß es wiedernehmen, sonst kommen die Serben an die Adria.“
*** „Die kommt ganz von selbst und muß kommen[.] Österreich muß auf dem Balkan präponderant werden den Anderen kleineren gegenüber auf Kosten Rußlands; sonst giebts keine Ruhe.“]
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London, den 24. Juli 1914 [Telegramm, im Auswärtigen Amt am 25. Juli eingegangen] – Der Botschafter in London Lichnowsky an das Auswärtige Amt
Sir E. Grey ließ mich soeben zu sich bitten. Der Minister war sichtlich stark unter Eindruck der österreichischen Note, die seiner Ansicht nach alles überträfe, was er bisher in dieser Art jemals gesehen habe. Er sagte, er habe bisher keine Nachricht aus Petersburg und wisse daher nicht, wie man dort die Sache auffasse. (…) Ein Staat, der so etwas annehme, höre doch eigentlich auf, als selbständiger Staat zu zählen.* (…) Solange es sich im einen (…) lokalisierten Streit zwischen Österreich [und] Serbien handele, ginge ihn, Sir E. Grey, die Sache nichts an,** anders würde die Frage aber, wenn die öffentliche Meinung in Rußland die Regierung zwänge, gegen Österreich vorzugehen.
(…) Die Gefahr Gefahr eines europäischen Krieges sei, falls Österreich serbischen Boden betrete,*** in nächste Nähe gerückt. Die Folgen eines solchen Krieges zu vier,**** er betonte ausdrücklich die Zahl vier, und meinte damit Rußland, Österreich-Ungarn, Deutschland und Frankreich, seien vollkommen unabsehbar. Wie auch immer die Sache verlaufe, eines sei sicher, daß nämlich eine gänzliche Erschöpfung und Verarmung Platz greife, Industrie und Handel vernichtet und die Kapitalkraft zerstört würde. Revolutionäre Bewegungen wie im Jahre 1848 infolge der darniederliegenden Erwerbstätigkeit würden die Folge sein.
[Randbemerkungen des Kaisers:
* „Das wäre sehr erwünscht. Es ist kein Staat im Europ. Sinne, sondern eine Räuberbande!“
** „richtig“
*** „das wird sicher kommen“
**** „er vergißt Italien“
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Belgrad, den 24. Juli 1914 [Telegramm, im Auswärtigen Amt am 25. Juli eingegangen] – Der Gesandte in Belgrad Griesinger an das Auswärtige Amt
(…)
Die Militärs fordern kategorisch die Ablehnung der Note und Krieg.
Die Mobilisierung ist bereits in vollem Gange.
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London, den 25. Juli 1914 [Telegramm, im Auswärtigen Amt selben Tag eingegangen] – Der Botschafter in London Lichnowsky an das Auswärtige Amt [Privatbrief an Staatssekretär v. Jagow
Ich möchte Sie nochmals auf die Bedeutung des Grey’schen Vorschlags der Vermittelung zu vieren zwischen Österreich und Rußland hinweisen. [Der englische Außenminister hatte vorgeschlagen, das Deutsche Reich, das Britische Reich, Frankreich und Italien als „Unbeteiligte“ vermitteln zu lassen; Anm. d. Red.] Ich erblicke hierin die einzige Möglichkeit, einen Weltkrieg zu vermeiden., bei dem für uns alles auf dem Spiele steht und nichts zu gewinnen ist. (…)
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Wien, den 25. Juli 1914 [Telegramm, im Auswärtigen Amt am gleichen Tag eingegangen] – Der Botschafter in Wien Tschirschky an das Auswärtige Amt
(…) Da in der serbischen Antwort mehrere Punkte unbefriedigend, ist Baron Giesl abgereist. Seit 3 Uhr nachmittags soll bereits allgemeine Mobilisierung in Serbien stattfinden.
Berlin, den 23. Juli 1914 [Telegramm, vermutlich am Folgetag zugegangen] – Der Staatssekretär des Auswärtigen Jagow an den Kaiser
Ew. M. Botschafter in London telegraphiert:
„Sir Edward Grey wird, wie ich vertraulich erfahre, dem Grafen Mensdorff [öst.-ung. Botschafter in London; Anm. d. Red.] morgen erklären, die britische Regierung werde ihren Einfluß dahin zur Geltung bringen, daß die österreichisch-ungarischen Forderungen, falls sie gemäßigt seien und sich mit der Selbständigkeit des serbischen Staats vereinbaren ließen,* von der serbischen Regierung angenommen würden. In ähnlichem Sinne glaube er auch, daß Sasonow seinen Einfluß in Belgrad geltend machen werde. Voraussetzung für diese Haltung sei aber, (…) daß die österreichisch-ungarische Regierung in der Lage sei, den Zusammenhang zwischen dem Mord von Sarajevo mit den politischen Kreisen Belgrads unzweideutig festzustellen.** (…) Ich bemühe mich unterdessen, hier dahin zu wirken, daß man mit Rücksicht auf das berechtigte Verlangen Österreichs nach einer Genugtuung und endlichen Einstellung der dauernden Beunruhigungen für eine bedingungslose Annahme der österreichischen Forderungen eintritt, selbst wenn sie der nationalen Würde Serbiens*** nicht vollauf Rechnung tragen sollten. (…) Man rechnet mit Bestimmtheit damit, daß wir mit Forderungen, die offenkundig den Zweck haben, den Krieg herbeizuführen, uns nicht identifizieren würden, und daß wir keine Politik unterstützen, die den Sarajevoer Mord nur als Vorwand benutzt für österreichische Balkanwünsche und für die Vernichtung des Friedens von Bukarest.**** (…)“
Ew. M. Botschafter in London erhält Instruktion zur Regelung seiner Sprache, daß wir österreichische Forderungen nicht kannten, sie aber als interne Frage Österreich-Ungarns betrachteten, auf die uns Einwirkung nicht zustände.*****
[Randbemerkungen des Kaisers:]
* „darüber zu befinden steht ihm nicht zu, das ist Sache S. M. des Kaisers Franz Josef!“
** „ist ihre Sache!“
*** „gibt es nicht!“
**** „Das ist eine ungeheuerliche britische Unverschämtheit. Ich bin nicht berufen, a la Grey S. M. dem Kaiser Vorschriften über die Wahrung seiner Ehre zu machen!“
***** „richtig! Das soll Grey aber recht ernst und deutlich gesagt werden! Damit er sieht, daß ich keinen Spaß verstehe. Grey begeht den Fehler, daß er Serbien mit Österreich und anderen Großmächten auf eine Stufe stellt! Das ist unerhört! Serbien ist eine Räuberbande, die für Verbrechen gefaßt werden muß! Ich werde mich in nichts einmischen, was der Kaiser zu beurtheilen allein befugt ist! Ich habe diese Depesche erwartet und sie überrascht mich nicht! Echt Brit. Denkweise und herablassend befehlende Art, die ich abgewiesen haben will!“
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St. Petersburg, den 23. Juli 1914 [Telegramm, dem Kaiser mitgeteilt am Folgetag] – Der Botschafter in Petersburg Pourtalès an das Auswärtige Amt
[bereits in früheren, hier nicht abgedruckten Dokumenten kam die Reise des französischen Präsidenten Raymond Poincaré nach Skandinavien und Rußland zur Sprache. Befürchtet wurden Absprachen zwischen den beiden Nationen im Hinblick auf ein gemeinsames Vorgehen gegen Österreich-Ungarn und das Deutsche Reich; Anm. d. Red.]
Die kühle Aufnahme, die Präsident Poincaré bei seinem hiesigen Besuche gefunden hat, fällt allgemein auf. Die große Teilnahmslosigkeit des Publikums ist wohl teilweise auf die Arbeiterstreiks zurückzuführen, die in letzten Tagen große Ausdehnung genommen haben. Über die Hälfte hiesiger Arbeiter haben Arbeit niedergelegt. Eine Anzahl Zeitungen konnte wegen Buchdruckerstreik während Besuch Poincarés nicht erscheinen. Dabei ist es zu bedenklichen Ausschreitungen gekommen, bei denen Polizei und Kosaken einschreiten mußten. (…)
Außer in Petersburg finden gegenwärtig auch in anderen größeren Städten Rußlands Streiks statt. Sie verdienen als Symptom der in russischen Arbeiterkreisen herrschenden erbitterten Stimmung ernste Beobachtung, wenn ihnen auch vorläufig größere Tragweite nicht zuzusprechen ist. Im Falle äußerer Verwicklung könnten sie immerhin für Regierung schwierige Lage schaffen.
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Wien, den 23. Juli 1914 [am selben Tag eingegangen] – Der Botschafter in Wien Tschirschky an das Auswärtige Amt
Graf Szápáry meldet, Präsident Poincaré habe ihm gegenüber bei neulichem Diplomatenempfang nachdrücklich darauf hingewiesen, daß Serbien Freunde habe, die es nicht im Stiche lassen würden. Diese Sprache sei, wie man mir hier sagt, nicht im Einklang mit der Haltung Herrn Sasonows, der sich sehr ruhig und zurückhaltend über serbische Angelegenheit ausgesprochen habe. (…)
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Wien, den 22. Juli 1914 [im Auswärtigen Amt am 24. Juli eingegangen] – Der Botschafter in Wien v. Tschirschky an den Reichskanzler
Nach den Haager Beschlüssen würde die Monarchie gehalten sein, evtl. an Serbien eine förmliche Kriegserklärung zu richten. Diese Kriegserklärung würde nach vollendeter Mobilmachung, unmittelbar vor dem Beginn der militärischen Operationen, zu erfolgen haben. Nachdem der k.u.k. Vertreter in Serbien Befehl erhalten hat, bei ungenügender Beantwortung der Note mit dem gesamten Personal sofort Belgrad zu verlassen, würde die Monarchie später, zur Zeit der Kriegserklärung, kein offizielles Organ haben, um diese in einwandfreier und sicherer Weise zur Kenntnis der serbischen Regierung zu bringen. (…)
Die k.u.k. Regierung fragt deshalb bei Ew. Exz. an, ob die k. Regierung es eventuell übernehmen würde, die von Graf Berchtold unterfertigte Kriegserklärung von Berlin aus durch den deutschen Gesandten der serbischen Regierung zu übermitteln. Sollte die k. Regierung jedoch Bedenken tragen, diese Übermittelung zu übernehmen, so müßte irgendein anderer sicherer Weg ausfindig gemacht werden.
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Berlin, den 24. Juli 1914 [am selben Tag zugegangen] – Der Staatssekretär des Auswärtigen Jagow an den Botschafter in Wien
Es wäre uns erwünscht, wenn Kriegserklärung an Serbien auf direktem Wege und nicht durch unsere Gesandtschaft erfolgte. Unser Standpunkt muß sein, daß Auseinandersetzung mit Serbien interne österreichische Angelegenheit sei, in die uns ebensowenig wie anderen eine Einmischung zustände (…). Kriegserklärung durch unsere Gesandtschaft würde aber in der Öffentlichkeit, namentlich bei dem mit diplomatischen Gebräuchen nicht vertrauten Publikum, Anschein erwecken, als hätten wir Österreich Ungarn in den Krieg gehetzt.
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Belgrad, den 24. Juli 1914 [im Auswärtigen Amt am selben Tag eingegangen] – Der Gesandte in Belgrad an das Auswärtige Amt
Der österreichische Gesandte hat gestern abend 6 Uhr (…) die Note wegen des Attentats in Sarajevo übergeben. Sie ist mit 48 Stunden befristet. (…) Die heutige Morgenpresse bezeichnet die Note als sehr scharf und rät der Regierung zu ablehnender Haltung.
St. Petersburg, den 21. Juli 1914 [im Auswärtigen Amt eingegangen am 23. Juli] – Der Botschafter in Petersburg, Pourtalès, an den Reichskanzler
Herr Sasonow [Dimitri Sassonow, russ. Außenminister 1910–1916; Anm. d. Red.] (…) ist (…) recht nervös wegen der Beziehungen zwischen Österreich-Ungarn und Serbien.
Er erzählte mir, daß er sehr alarmierende Berichte aus London, Paris und Rom erhalten habe, wo überall die Haltung Österreich-Ungarns wachsende Besorgnis einflöße (…), daß die Stimmung in Wien gegen Serbien immer schlechter werde.
Der Minister ergriff die Gelegenheit, um seinem Groll gegen die österreichisch-ungarische Politik wieder in gewohnter Weise freien Lauf zu lassen. Daß Kaiser Franz Joseph und auch Graf Berchtold friedliebend wären, wollte Herr Sasonow zwar zugeben, es seien aber sehr mächtige und gefährliche Einflüsse an der Arbeit, die in beiden Reichshälften immer mehr an Boden gewännen und die vor dem Gedanken nicht zurückscheuten, Österreich in einen Krieg zu stürzen, selbst auf die Gefahr hin, einen allgemeinen Weltbrand zu entfesseln. (…)
Ich entgegnete Herrn Sasonow, seine maßlosen, gegen die österreichisch-ungarische Politik gerichteten Vorwürfe schienen mir durch seine allzu großen Sympathien für die Serben stark beeinflußt und in keiner Weise gerechtfertigt. Man könne billigerweise nicht umhin, die von dem Wiener Kabinett seit dem Attentat in Sarajevo beobachtete maßvolle Zurückhaltung anzuerkennen. (…) Nach allem aber, was schon jetzt bekannt sei, könne man kaum daran zweifeln, daß die großserbische Agitation von Serbien aus unter den Augen der serbischen Regierung geschürt werde, und daß auch das schändliche Attentat in Serbien vorbereitet worden* sei. Ein großer Staat könne aber auf Dauer unmöglich an seinen Grenzen eine Propaganda dulden,** durch die seine Sicherheit direkt bedroht werde. Sollten daher, wie es allerdings den Anschein habe, durch den Prozeß gegen die Urheber des Attentates wirklich Fäden aufgedeckt werden, welche von Serbien ausgingen, und sollte bewiesen werden, daß die serbische Regierung gegenüber den gegen Österreich gerichteten Machenschaften eine bedauerliche Konnivenz gezeigt habe, so sei die österreichisch-ungarische Regierung zweifellos berechtigt, in Belgrad eine ernste Sprache zu führen.*** Ich könnte mir nicht denken, daß in diesem Falle solche Vorstellungen des Wiener Kabinetts bei der serbischen Regierung dem Widerspruch irgendeiner Macht begegnen könnten.
Der Minister hielt diesen Ausführungen gegenüber aufrecht, daß eine Unterstützung der großserbischen Propaganda in Österreich-Ungarn von Serbien aus oder gar von der serbischen Regierung keineswegs erwiesen sei.**** Man könne für die Taten Einzelner kein ganzes Land verantwortlich machen. (…) Das Wiener Kabinett habe nicht den geringsten Grund, sich über die Haltung der serbischen Regierung zu beklagen, diese benehme sich vielmehr vollständig***** korrekt.
(…)
Herr Sasonow bemerkte darauf, daß diejenigen, welche in Österreich einem Vorgehen gegen Serbien das Wort redeten, sich anscheinend nicht mit Vorstellungen in Belgrad begnügen wollten, sondern daß ihr Ziel die Vernichtung Serbiens sei.****** Ich erwiderte, daß ich immer nur von einem Ziele hätte reden hören, nämlich: der „Klärung“ des Verhältnisses Österreich-Ungarns zu Serbien.
Der Minister fuhr erregt fort, auf jeden Fall dürfe Österreich-Ungarn, wenn es durchaus den Frieden stören wolle, nicht vergessen, daß es in diesem Falle mit Europa zu rechnen habe.******* Rußland würde einem Schritt in Belgrad, der auf eine Erniedrigung Serbiens absehe, nicht gleichgültig zusehen können. Ich bemerkte, ich vermöchte in ernsten Vorstellungen, in welchen Serbien an seine völkerrechtlichen Pflichten erinnert würde, noch keine Erniedrigung******** zu erblicken. (…)
[Randbemerkungen des Kaisers:]
* „ja“
** „richtig“
*** „ja – gut“
**** „echt Russisch“
***** „Donnerwetter!“
****** „wäre auch das Beste!“
******* „nein! Rußland ja! als den Thäter und Vertreter des Fürstenmordes!“
******** „richtig“
Berlin, den 22. Juli 1914 [im Auswärtigen Amt am selben Tag eingegangen] – Der stellvertretende Chef des Admiralstabs, Konteradmiral Behncke, an das Auswärtige Amt
Wenn mit der Möglichkeit einer unmittelbar bevorstehenden Kriegserklärung Englands gerechnet werden muß, so ist vom militärischen Standpunkt aus auch mit Sicherheit mit einem Überfall unserer Flotte durch die englische Flotte zu rechnen.
Unsere Flotte darf bei ihrer großen numerischen Unterlegenheit dieser Möglichkeit keinesfalls ausgesetzt werden.
(…)
Berlin, den 20. Juli 1914 [Telegramm, vermutlich am Folgetag eingegangen] – Der Staatssekretär des Auswärtigen v. Jagow an den Botschafter in Wien v. Tschirschky
Der serbische Geschäftsträger suchte mich heute auf, um mir zu sagen, die serbische Regierung werde alles tun, um die Beziehungen zu Österreich-Ungarn zu bessern und zu befestigen (…) und den Forderungen der k.u.k. Regierung betreffend Verfolgung der Mitschuldigen am Attentat von Sarajevo, wenn solche festgestellt werden sollten, entgegenkommen. Sie würde nur solche Forderungen, die gegen die Würde und Unabhängigkeit des serbischen Staates gingen, nicht erfüllen können. Die serbische Regierung bäte uns, in Wien im Sinne der Versöhnlichkeit zu wirken.
Ich habe mich darauf beschränkt zu erwidern, daß ich die Demarche des Geschäftsträgers in Wien zur Kenntnis bringen würde. Im übrigen habe ich den Geschäftsträger darauf aufmerksam gemacht, daß die serbische Regierung bisher, trotz der Langmut und der versöhnlichen und friedlichen Haltung Österreich-Ungarns während der Balkankrise und trotz unserer fortgesetzten dahingehenden Ratschläge, nichts getan habe, um ihr Verhältnis zur benachbarten Monarchie zu besser, und daß ich es wohl begreifen könne, wenn man jetzt dort energischere Saiten aufzöge. (…)
Berlin, den 19. Juli 1914 [Privatbrief, Zugangsdatum unbekannt] – Der Staatssekretär des Auswärtigen v. Jagow an den Botschafter in London Fürst Lichnowsky
[Vertrauliche Antwort auf dessen Kritik an der österreichischen Politik:] (…) ob wir bei dem Bündnis mit dem sich immer mehr zersetzenden Staatengebilde an der Donau ganz auf unsere Rechnung kommen, läßt sich diskutieren, aber ich sage da mit dem Dichter – ich glaube, es war Busch –: „Wenn Dir eine Gesellschaft nicht mehr paßt, such’ Dir eine andere, wenn Du eine hast“. Und zu einem vollen Erfolg bietenden Verhältnis zu England sind wir leider noch immer nicht gekommen, konnten nach allem, was vorausgegangen, auch gar nicht dazu kommen – wenn wir überhaupt je dazu kommen können.
Österreich, welches durch seine mangelnde Aktionskraft mehr und mehr Einbuße an seinem Ansehen erlitten hat, zählt schon jetzt kaum mehr als vollwertige Großmacht. (…)
Österreich will sich die serbische Minierarbeit nicht mehr gefallen lassen, ebensowenig die fortgesetzt provokatorische Haltung des kleinen Nachbarn in Belgrad. (…) Während der ganzen Balkankrise [1. und 2. Balkankrieg 1912/13; Anm. d. Red.] haben wir mit Erfolg im Sinne des Friedens vermittelt, ohne Österreich dabei in kritischen Momenten zur Passivität gezwungen zu haben. (…) Wir haben auch jetzt Österreich nicht zu seinem Entschluß getrieben. Wir können und dürfen ihm aber nicht in den Arm fallen. Wenn wir das täten, könnte Österreich (und wir selbst) uns mit Recht vorwerfen, daß wir ihm seine letzte Möglichkeit politischer Rehabilitierung verkehrt haben. (…) Österreichs Erhaltung, und zwar eines möglichst starken Österreichs, ist für uns aus inneren und äußeren Gründen eine Notwendigkeit. Daß es sich nicht ewig wird erhalten lassen, will ich gern zugeben. Aber inzwischen lassen sich vielleicht Kombinationen finden.
(…) Einiges Gepolter in Petersburg wird zwar nicht ausbleiben, aber im Grunde ist Rußland jetzt nicht schlagfertig. (…) In einigen Jahren wird Rußland nach aller kompetenten Annahme schlagfertig sein. Dann erdrückt es uns durch die Zahl seiner Soldaten, dann hat es seine Ostseeflotte und seine strategischen Bahnen gebaut. (…) die Regierung in Rußland, die heute noch friedliebend und halbwegs deutschfreundlich ist, wird immer schwächer, die Stimmung des Slawentums immer deutschfeindlicher. (…) Ich will keinen Präventivkrieg, aber wenn der Kampf sich bietet, dürfen wir nicht kneifen.
Ich hoffe und glaube auch heute noch, daß der Konflikt sich lokalisieren läßt. Englands Haltung wird dabei von großer Bedeutung sein. Ich bin vollständig überzeugt, daß die öffentliche Meinung dort sich nicht für Österreichs Vorgehen begeistern wird, (…) [aber] von Sympathie und Antipathie bis zur Entfachung eines Weltbrandes ist doch noch ein weiter Weg. (…)
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Therapia, den 19. Juli 1914 [im Auswärtigen Amt am 20. Juli eingegangen] – Der Botschafter in Konstantinopel, Wangenheim, an das Auswärtige Amt
[Aus einer Erörterung der Bündniskonstellationen auf dem Balkan:] Falls die Türkei mit Griechenland sich verbündet und Bulgarien sich inzwischen Österreich bzw. dem Dreibund angeschlossen hat, so könnte der Fall eintreten, daß Bulgarien gleichzeitig mit Österreich Serbien angreift, wobei Griechenland Serbien Hilfe bringen müßte, dann wäre der casus foederis für die Türkei gegeben, die ihrerseits gegen den Bundesgenossen Bulgariens Österreich, also auch gegen uns, marschieren müßte. Dazu würde sie sich aber nur entschließen, wenn das griechisch-türkische Bündnis vorher unter den Schutz Rußlands bzw. der Triple-Entente gestellt wäre. (…)