Meinen Kindern bring ich bei, daß sie es – falls überhaupt Anlässe/Bedürfnisse zum Treten/Buckeln vorliegen – es umgekehrt halten sollen. Getreten wird überhaupt nie „nach unten“, außer auf dem Fahrrad. Und nie nach „oben buckeln“! Das tun nur Kriecher & Opportunisten!
In der alltäglichen Sphäre, also jenseits des politischen Raums, begegnen mir die „Treter“ meist als Sachwalter ihres bescheidenen Gebiets, über das sie verfügen: die Frau auf dem Amt, die sich als Herrin ihrer Akten fühlt und deshalb meint, einen herablassenden Ton anschlagen zu dürfen – aber untertänigst kuscht, sobald der Chef sich einschaltet. Die Krankenschwester, die nur barsch kann – vor dem Oberarzt aber mäuschenklein wird. Der Lehrer, der seinen Schüler mit Machtgebaren triezt – jedoch anfängt zu buckeln, wenn der Schülervater, zufällig Amtsrichter oder Professor, auftritt.
Ich bemühe mich in solchen Fällen – also: wenn kleine Machthaber ihren Spielraum herrschaftlich ausnutzen- immer zu denken: Naja, diese Leute wollen ihren Job wirklich gut und besonders gründlich machen. Vielleicht zählt auch deren bissige Gnadenlosigkeit zu den Nebenformen deutscher Sekundärtugenden!
Aber in Wahrheit glaub ich das nicht. Für mich sind die subalternen Kommandanten & Anherrscher im Kern potentielle Denunzianten.
Heute am Badesee diese Szene: Eine ältere Frau, seriös gewandet in Caprihose und Bluse, steht am Strand und photographiert die riesige Wasserrutsche. Dort herrscht wildes Treiben. Niemand ist nackt. Die Rutsche ist zwanzig, vielleicht gar dreißig Meter entfernt.
Kommen drei der vier diensthabenden Bademeister und umringen sie: Photographieren fremder Leute sei strengstens untersagt. Die Frau ist erschrocken. Wußte sie nicht! Pardon! Sie dreht sich um, will gehen. Die Männer werden breitbeinig. No paseran! Im Chor donnert es dreistimmig: „Sie löschen das Bild! Jetzt! Sofort! Oder wir ziehen die Kamera ein!“ Was ihr einfalle?! Die Frau, sichtlich verstört, entschuldigt sich abermals. Nutzt nichts. Ist nicht erwünscht. Sie soll löschen. Der entsprechende Knopf müsse doch etwas schneller zu finden sein! Längst gucken mindestens drei Dutzend Badbesucher nach der gestellten „Datendiebin“, die ihr Verbrechen ja längst eingesehen hat. Wie ich diese Wächtertypen verabscheue!
22. Juli 2014
Eins meiner Laster: Auf den beiden jährlichen Buchmessen ziemlich viele Probeabos eingehen. Ehrlicherweise warne ich die Hostessen immer: Ich hatte schon zehn Probeabos in den letzten zehn Jahren! Macht nichts, bei weiterhin vorhandenem Interesse dürfe ich erneut, heißt es dann.
Als fleißiger Probeleser weiß ich, daß wirklich jede Zeitung (Ausnahme: Der Freitag) ein paar ganz exzellente Autoren hat. Ich hab sogar die Junge Welt ein bißchen liebgewonnen.
Da ich ein ausgesprochener Telefonfeind bin und nie selbst drangehe, wenn‘s klingelt, weiß ich: Fast immer, wenn die Kinder mich an den Hörer rufen, ist es eine Zeitung. Ein Mensch, der dafür bezahlt wird, mich als dauerhaften Leser zu gewinnen. Heute mal wieder: „Hallo, hier Herr XY aus Hamburg, DIE ZEIT!“ (Extrem gutaufgelegte Stimme.)
Ich habe grad keine Zeit, sondern balanciere heiße Teller aus der Spülmaschine. Nebenher übt unsere Dreijährige auf ihrer Triola „An der Saale“, immer wieder die drei ersten Takte.
Der Herr aus Hamburg: „Sie hatten ja vor einiger Zeit Gelegenheit, unsere Wochenzeitung probezulesen. Ihr Interesse hat uns sehr gefreut!“ Ich finde das nicht grad verlogen (so müssen sie halt reden), aber doch ein bißchen blöd. So zu tun, als ob sie in Hamburg herumsitzen und sich freuen: Toll, diese Frau K. ist im zehnten Jahr immer noch total interessiert! Die Tochter scheitert zum x‑ten Mal an der gleichen Stelle.
„Ich hoffe, Ihnen hat unsere Zeitung gefallen!“ (Der Herr klingt immer noch ordentlich begeistert.) Ich sage nichts. Es war ja keine Frage.
„Hat Ihnen unsere Zeitung denn gefallen?“ Die Wahrheit wäre: Neben Martenstein gibt es drei Zeit-Autoren, überwiegend Frauen, die ich sehr gern lese. Ich sage: „Nein.“ Der Herr gibt sich erschrocken. Ob er fragen dürfe, warum nicht? – „Sie ist mir zu links.“ – „Huch! Wir sind eigentlich nichts links, sondern liberal.“ – „Mein ich ja. Sie ist mir zu liberal.“ – „Uff [klingt noch freundlich-interessiert]. Das müssen Sie mir erklären““ – „Wissen sie, ich bin halt rechts.“ – „Oh. Dan-“
Ich denke, es sollte „danke“ heißen, aber dem Wortende kam ein Besetztzeichen zuvor.
23. Juli 2014
Zwei Meldungen folgen in den Radio-Nachrichten aufeinander: Erstens, daß die Parole „Jude, Jude, feiges Schwein, komm heraus und kämpf allein“ nun von der Berliner Polizei verboten wurde. Und zwar anläßlich der fortgesetzten antisemitischen Kundgebungen in der Hauptstadt. Zweierlei ist daran skurril: Wurde diese Parole bislang tatsächlich geduldet? Und: wer ruft denn so was? Namen/Gruppen/Herkünfte bleiben ungenannt. Wer länger keine Nachrichten gehört hat, könnte nach der direkt folgenden Meldung eine Ahnung bekommen: In Franken hat man ein Neonazinetzwerk (eines vorher nie gehörten Namens) ausgehoben und die dahinterstehende Gruppierung verboten.
Im Deutschlandfunk interviewt Christine Heuer heute früh Daniel Cohn-Bendit zum Thema – zum ersteren, zu den antisemitischen Exzessen in Frankreich und Deutschland:
Cohn-Bendit: „(…) Man muß hinterfragen, was steckt dahinter, wie kommen solche Emotionen und warum ist es uns nicht gelungen, ist es in Frankreich nicht gelungen. Es sind ja keine Migranten, es sind ja Franzosen, deren Eltern oder Großeltern mittlerweile aus Algerien, Marokko oder Tunesien kamen. Aber warum fühlen sie sich noch in der französischen Gesellschaft ausgeschlossen? Was klappt in dieser Gesellschaft nicht? Warum haben sie keine Lebensperspektive?“ (…)
Heuer: Herr Cohn-Bendit, jetzt haben Sie über Muslime in Frankreich gesprochen. Ich würde auch gerne noch mit Ihnen über Muslime in Deutschland sprechen. Sehen Sie da auch eine Ausgrenzung, die Sie mit zu den Gründen zählen?
Cohn-Bendit: Ich würde sagen, in bestimmten Situationen ja. Viele Muslime fühlen, dass sie in Schulen und so weiter keine Perspektive haben. Ob das real oder nur eingebildet ist, das kann man diskutieren. Aber klar ist, dass unsere Gesellschaft als Einwanderungsgesellschaft noch viel zu tun hat. Das legitimiert gar nichts, und ich sage noch einmal: Sie sehen ja, wie wir mit Flüchtlingen umgegangen sind, wie schwer wir uns tun mit Flüchtlingen, wie schwer wir uns getan haben, um syrische Flüchtlinge aufzunehmen und so weiter in Deutschland oder in Frankreich. Da sieht man, dass unsere Gesellschaft auch der realen Situation, dass in einer modernen Welt Einwanderung jetzt dazugehört. Und die Menschen, die einwandern, natürlich machen die auch Fehler. Natürlich haben auch sie die neue Realität, dass sie nicht einwandern hier, um hier Klein-Türkei oder Klein-Libanon oder Klein-Syrien oder was auch immer zu schaffen, sondern sich in einer multikulturellen Gesellschaft auch anstrengen müssen, sich zu integrieren. Das diskutieren wir zu wenig.
Heuer: Herr Cohn-Bendit, Sie haben die rechtsstaatlichen Instrumente angesprochen. In Berlin werden die übelsten Beleidigungen gegen Juden skandiert. Unter den Linden wird ein jüdisches Paar vom Mob gejagt. Die Polizei steht daneben und schaut mehr oder weniger hilflos zu. Was kann man denn da machen?
Cohn-Bendit: Ja was kann man machen beim Fußballspiel zwischen Frankfurt und Offenbach, wenn die Fans von Offenbach sagen, wir bauen jetzt eine Gasleitung oder eine Leitung direkt von hier nach Auschwitz? Das gibt es in Fußballstadien zu Hauf.
Heuer: Das stimmt, aber das macht die Sache nicht besser.
Cohn-Bendit: Nein! (…) Ja, das ist schlimm. Aber ich fand, die Polizei in Berlin ist besonnen. Ich fand es besonnen. Wir müssen das öffentlich diskutieren. Aber wenn Sie fordern in so einer Demonstration, dass die Polizei reingeht, dann schaffen Sie es doch viel schlimmer. Wir müssen doch die Dinge mal trennen.
Ein zentraler Satz Cohn-Bendits lautet für mich:
„Aber der deutsche Staat oder der französische Staat, die sind stabil, die haben eine stabile Gesellschaft. Es gibt einen latenten christlichen Antisemitismus. Der kommt durch die Stabilität unserer Gesellschaft nicht heraus. Also ich bange nicht jetzt um unsere Gesellschaft, weder um die französische, noch um die deutsche.“
Das ist erstens ein bißchen ulkig. Man stelle sich vor, Neonazis stürmten in Hundertschaften Fastfood“restaurants“, legten ihre schreienden Kleinkinder neben „blutigen“ Puppen ab, etc.: Kein Nachrichtensprecher würde die Hörer im Unklaren drüber lassen, wer hier wütet und krakeelt, kein Präsident und keine Kanzlerin würde sich mit besonnen mahnenden Sonntagsreden aufhalten (und nicht dran denken, den Sommerurlaub abzubrechen). Kein Grüner würde die Polizei zu „Besonnenheit“ anhalten. Kein Talkgast würde nach den eventuell begründbaren „Emotionen“ der Krawallschaften fragen. Hier würde aufgeräumt, und zwar mit Stumpf & Stiel!
Zweitens, und das finde ich gar nicht ulkig: Die Aussage, unsere Gesellschaft sei stabil.
Weil Stabilität so ein dehnbarer Begriff ist, stimmt das nämlich vermutlich wirklich. Ich kenne viele Leute, die sagen: Der große Clash/Crash wird noch kommen! Und dann, dann ! Dann kommt´s drauf an,- dann! Endlich! Bald! Es spitzt sich doch zu!
Das ist Rubbish.
Ich halte es eher mit Cohn-Bendit und seiner traurigen Wahrheit: Unsere „Gesellschaft“ ist extrem stabil. Vor zwanzig Jahren haben sie (die Clash-Erhoffer) gesagt: Wenn in den Großstädten mehr migrantische als deutsche Kinder eingeschult werden…, dann! Dann wacht der Michel auf! Wenn die Gewalt auf den Straßen zunimmt, die eigenen Frauen, Töchter und Söhne attackiert werden – dann…! Wenn nicht zehntausende kommen, sondern Milionen! Dann! Geht der Michel auf die Straße!
Aber nein, nein. Unser Exportland ist so reich, daß es das alles aussitzen und aushalten kann. Auch den Import an Gewalt. Der Clash wird nicht kommen. Irgendwann wird ausgeatmet, und das war´s dann. Sie werden es Deutschland genannt haben.
Hartwig
"Sie werden es die Bundesrepublik Deutschland genannt haben." - so würde ich Ihren letzten Satz verbessern. Und es wird Deutsche geben, die nach dem Ausatmen auch wieder einatmen werden.