100 Jahre Julikrise (28.–31.VII.)

Vorbemerkung: In den ersten Tagen des nicht auf einen Schlag, sondern immer weiter eskalierend ausbrechenden Krieges...

erreicht die diplo­ma­ti­sche Kor­re­spon­denz ver­ständ­li­cher­wei­se sehr gro­ße Aus­ma­ße. Die Akten­samm­lung umfaßt allein für die letz­ten vier Juli­ta­ge etwa 250 Stü­cke. Daher fin­det die­se Rei­he zur Julikri­se in den nächs­ten Tagen ihren Abschluß durch die Ver­öf­fent­li­chung ver­gleichs­wei­se sehr weni­ger Brie­fe und Nach­rich­ten. Nur die aller­wich­tigs­ten oder beson­ders kenn­zeich­nen­de Tex­te fin­den Berücksichtigung.

Ber­lin, den 31. Juli 1914 [Tele­gramm, ver­mut­lich am sel­ben Tag ein­ge­gan­gen] – Der Reichs­kanz­ler an den Bot­schaf­ter in Rom

Wir haben fort­ge­setzt, sowohl durch direk­ten Depe­schen­wech­sel Sr. M. des Kai­sers, sowie im Beneh­men mit Sir E. Grey zwi­schen Ruß­land und Öster­reich ver­mit­telt. Alle Bemü­hun­gen sind durch Mobi­li­sie­rung Ruß­lands sehr erschwert, wenn nicht unmög­lich gemacht. Auch waren Ruß­lands For­de­run­gen bis­lang inak­zep­ta­bel. Ruß­land trifft nach allen unse­ren Nach­rich­ten trotz beru­hi­gen­der Ver­si­che­run­gen auch gegen uns so weit­ge­hen­de Maß­nah­men, daß Lage immer bedroh­li­cher wird.

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Ber­lin, den 31. Juli 1914 – Der Kai­ser an das Reichs­ma­ri­ne­amt und den Generalstab

Nach­dem mir ges­tern – 30.VII. – (…) [die Bot­schaft des bri­ti­schen Außen­mi­nis­ters bekannt wur­de], in der Deutsch­land zu ver­ste­hen gege­ben wur­de, daß nur das Ver­ra­then sei­nes Bun­des­ge­nos­sen durch Nicht­teil­nah­me am Krie­ge gegen Ruß­land uns vor einem sofor­ti­gen Eng­li­schen Angriff bewah­ren könn­te, (…) war mir klar, daß hier­durch Sir. E. Grey sei­nen eige­nen König, der mir eben (…) eine kla­re Neu­tra­li­täts­er­klä­rung offi­zi­ell hat­te zuge­hen las­sen (…), mir gegen­über als unwahr­haft dar­stell­te. Da ich nun der Über­zeu­gung bin, daß die gan­ze Kri­sis nur allein durch Eng­land ver­an­laßt und nur allein durch Eng­land gelöst wer­den kann (durch Druck auf die ver­bün­de­ten Rus­sen und Gal­li­er), so ent­schloß ich mich zu einem Tele­gramm pri­va­ter Natur an den König, der anschei­nend sich sei­ner Rol­le und Ver­ant­wor­tung in der Kri­sis in kei­ner Wei­se klar ist. (…) Ich sei der Ansicht, daß nun­mehr die ein­zi­ge Mög­lich­keit, einen Wel­ten­brand zu hin­dern, den Lon­don auch nicht wün­schen kön­ne, in Lon­don lie­ge, nicht in Ber­lin. Anstatt Vor­schlä­ge für Con­fe­ren­zen pp. zu machen, möge S. M. der König klipp und klar Rus­sen und Gal­li­ern anbe­feh­len las­sen – es sei­en ja sei­ne Alli­ier­te – umge­hend ihre Mobil­ma­chun­gen ein­zu­stel­len, neu­tral zu blei­ben und die Vor­schlä­ge Öster­reichs abzu­war­ten (…). Die vol­le Ver­ant­wor­tung für den ent­setz­lichs­ten Welt­brand, der je getobt habe, fal­le unbe­dingt auf sei­ne Schul­ter, und er wer­de von Welt und Geschich­te mal dafür ver­ur­teilt wer­den. (…) Anlie­gen­des Tele­gramm des Königs ist die Ant­wort. Sei­ne Vor­schlä­ge decken sich mit mei­nen, die ich dem Wie­ner Kabi­nett, das uns seit 6 Tagen ohne Ant­wort läßt, sug­ge­riert habe. (…) In Peters­burg nach heu­ti­ger Mel­dung des Bot­schaf­ters abso­lut gar kei­ne Kriegs­be­geis­te­rung, im Gegen­teil gedrück­te Stim­mung, da ges­tern abend wie­der hef­ti­ge Stra­ßen­kämp­fe zwi­schen Revo­lu­tio­nä­ren und Trup­pen und Kater­stim­mung bei Hof und Mili­tär, da sie wie­der zur Besin­nung kom­mend einen Schreck bekom­men über das, was sie mit ihrer vor­zei­ti­gen Mobil­ma­chung ange­rich­tet und noch anrich­ten können.

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Ber­lin, den 31. Juli 1914 – Der Reichs­kanz­ler an den Bot­schaf­ter in Wien

Nach der rus­si­schen Gene­ral­mo­bil­ma­chung haben wir dro­hen­de Kriegs­ge­fahr ver­fügt, der­sel­ben wird vor­aus­sicht­lich bin­nen 48 Stun­den Mobil­ma­chung fol­gen. Die­se bedeu­tet unver­meid­lich Krieg. Wir erwar­ten von Öster­reich sofor­ti­ge täti­ge Teil­nah­me am Krieg gegen Rußland.

 

(Lite­ra­tur zur Vor­ge­schich­te des I. Welt­kriegs und zur Kriegs­schuld­fra­ge fin­den Sie im Bücher­schrank I. Weltkrieg.)

 


 

Lon­don, den 29. Juli 1914 [dem Kai­ser vor­ge­legt am 30. Juli] – Der Bot­schaf­ter in Lon­don Lich­now­sky an das Aus­wär­ti­ge Amt

*(…) Der Minis­ter [Sir Edward Grey; Anm. d. Red.] war voll­kom­men ruhig, aber sehr ernst, und emp­fing mich mit den Wor­ten, daß die Lage sich immer mehr zuspit­ze. Saso­now habe erklärt, nach der Kriegs­er­klä­rung nicht mehr in der Lage zu sein, mit Öster­reich direkt zu unter­han­deln und hier bit­ten las­sen, die Ver­mit­te­lung wie­der auf­zu­neh­men.(1) Als Vor­aus­set­zung für die­se Ver­mit­te­lung betrach­tet die rus­si­sche Regie­rung die vor­läu­fi­ge Ein­stel­lung der Feindseligkeiten.

Sir Edward Grey wie­der­hol­te sei­ne bereits gemel­de­te Anre­gung, daß wir uns an einer sol­chen Ver­mit­te­lung zu vie­ren, die wir grund­sätz­lich bereits ange­nom­men hät­ten, betei­li­gen soll­ten. Ihm per­sön­lich schie­ne eine geeig­ne­te Grundlage(2) für eine Ver­mit­te­lung, daß Öster­reich etwa nach Beset­zung von Bel­grad oder ande­rer Plät­ze sei­ne Bedin­gun­gen kundgäbe.(3) Soll­ten Ew. Exz. jedoch die Ver­mit­te­lung über­neh­men, wie ich heu­te früh in Aus­sicht stel­len konn­te, so wäre ihm das natür­lich eben­so recht. Aber eine Ver­mit­te­lung(4) schie­ne ihm nun­mehr drin­gend gebo­ten, falls es nicht zu einer euro­päi­schen Kata­stro­phe kom­men soll­te.

Sodann sag­te mir Sir E. Grey, er hät­te mir eine freund­schaft­li­che und pri­va­te Mit­tei­lung zu machen (…), er möch­te sich für spä­ter den Vor­wurf der Unauf­rich­tig­keit erspa­ren.(5) (6) Die bri­ti­sche Regie­rung wün­sche nach wie vor mit uns die bis­he­ri­ge Freund­schaft zu pfle­gen und sie kön­ne, solan­ge der Kon­flikt sich auf Öster­reich und Ruß­land beschrän­ke, abseits ste­hen.(7) Wür­den wir aber und Frank­reich hin­ein­ge­zo­gen, so sei die Lage sofort eine ande­re und die bri­ti­sche Regie­rung wür­de unter Umstän­den sich zu schnel­len Ent­schlüs­sen gedrängt sehen.(8) In die­sem Fal­le wür­de es nicht ange­hen, lan­ge abseits zu ste­hen und zu war­ten (…)**

[Rand­be­mer­kun­gen des Kaisers:

* (vor dem Text) „Das stärks­te und uner­hör­tes­te Stück Engl. Pha­ri­sä­er­th­ums das ich je gese­hen! Mit sol­chen Hal­lun­ken mache ich nie ein Flottenabkommen!“

(1) „trotz Appells des Zaren an mich! damit bin ich außer Cours gesetzt.“

(2) „gut“

(3) „haben wir seit Tagen bereits zu errei­chen ver­sucht // umsonst!“

(4) „Anstatt der Ver­mit­te­lung ein erns­tes Wort an Peters­burg und Paris, daß Eng­land ihnen nicht hilft wür­de die Situa­ti­on sofort beruhigen.“

(5) „aha! Der gemei­ne Täuscher!“

(6) „der bleibt!“

(7) „d. h. wir sol­len Öster­reich sit­zen las­sen urge­mein und mephis­to­phe­lisch! aber recht Englisch“

(8) „sind schon gefaßt“

** (nach dem Text) „(…) Das gemei­ne Krä­mer­ge­s­in­del hat uns mit Diners und Reden zu täu­schen ver­sucht. Die gröbs­te Täu­schung, die Wor­te des Königs (…): Wes hall remain neu­tral and try to keep out of this as long as pos­si­ble. Grey straft den König lügen, und die­se Wor­te an Lich­now­sky sind der Aus­fluß des bösen Gewis­sens, daß er eben das Gefühl gehabt hat uns getäuscht zu haben. (…) Er weiß ganz genau, daß wenn er nur ein ein­zi­ges, erns­tes, schar­fes abmah­nen­des Wort in Paris und Peters­burg spricht und sie zur Neu­tra­li­tät ermahnt, bei­de sofort stil­le sit­zen wer­den. Aber er hütet sich das Wort aus­zu­spre­chen, son­dern droht uns statt des­sen! Gemei­ner Hunds­fott! Eng­land allein trägt die Ver­ant­wor­tung für Krieg und Frie­den nicht wir mehr! Das muß auch öffent­lich klar­ge­stellt werden.“]

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[Hand­schrift­li­che Note des Kai­sers auf das (hier nicht abge­druck­te) Ein­ge­ständ­nis des Zaren, bereits unmit­tel­bar nach Bekannt­wer­den des Ulti­ma­tums an Ser­bi­en die (Teil-)Mobilmachung ange­ord­net zu haben:]

(…) Leicht­sinn und Schwä­che sol­len die Welt in den furcht­bars­ten Krieg stür­zen, der auf den Unter­gang Deutsch­lands schließ­lich abzielt. Denn das läßt jetzt für mich kei­nen Zwei­fel mehr zu: Eng­land, Ruß­land und Frank­reich haben sich ver­ab­re­det – unter zu Grun­de Legung [sic!] des casus foe­de­ris für uns Öster­reich gegen­über – den Öster­rei­chisch-Serb. Kon­flikt zum Vor­wand neh­mend gegen uns den Ver­nich­tungs­krieg zu füh­ren. Daher Greys zynisch Bemer­kung an Lich­now­sky „solan­ge der Krieg auf Ruß­land und Öster­reich beschränkt blei­be wür­de Eng­land still sit­zen, erst wenn wir uns und Frank­reich hin­ein­misch­ten wür­de er gezwun­gen sein aktiv gegen uns zu wer­den“. D. h. ent­we­der wir sol­len unse­ren Bun­des­ge­nos­sen schnö­de ver­ra­then und Ruß­land preis­ge­ben – damit den 3Bund spren­gen oder für unse­re Bun­destreue von der 3pel Entente gemein­sam über­fal­len und bestraft wer­den, wobei ihrem Neid end­lich Befrie­di­gung wird uns gemein­sam total zu rui­nie­ren. Das ist in nuce die wah­re nack­te Situa­ti­on, die lang­sam und, sicher durch Edward VII. ein­ge­fä­delt, fort­ge­führt, durch abge­leug­ne­te Bespre­chun­gen Eng­lands mit Paris und Peters­burg, sys­te­ma­tisch aus­ge­baut; schließ­lich durch Georg V. zum Abschluß gebracht und ins Werk gesetzt wird. Dabei wird uns die Dumm­heit und Unge­schick­lich­keit unse­res Ver­bün­de­ten zum Fall­strick gemacht. Also die berühm­te „Ein­krei­sung“ Deutsch­lands ist nun doch end­lich zur volls­ten That­sa­che gewor­den, trotz aller Ver­su­che unse­rer Poli­ti­ker und Diplo­ma­ten sie zu hin­dern. Das Netz ist uns plötz­lich über dem Kopf zuge­zo­gen und hohn­lä­chelnd hat Eng­land den glän­zends­ten Erfolg sei­ner beharr­lich durch­ge­führ­ten pure [sic!] anti­deut­schen Welt­po­li­tik, gegen die wir uns macht­los erwie­sen haben, indem es uns iso­lirt im Net­ze zap­pelnd aus unse­rer Bun­destreue zu Öster­reich den Strick zu unse­rer Poli­ti­schen und öko­no­mi­schen Ver­nich­tung dreht. Eine groß­ar­ti­ge Leis­tung, die Bewun­de­rung erweckt, selbst bei dem, der durch sie zu Grun­de geht! (…)

Jetzt muß die­ses gan­ze Getrie­be scho­nungs­los auf­ge­deckt und ihm öffent­lich die Mas­ke christ­li­cher Fried­fer­tig­keit in der Öffent­lich­keit schroff abge­ris­sen wer­den und die Pha­ri­säi­sche Frie­dens­heu­che­lei an den Pran­ger gestellt wer­den!! Und unse­re Con­suln in Tür­kei und Indi­en, Agen­ten etc. müßen die gan­ze Moha­me­dan. Welt gegen die­ses ver­haß­te, ver­lo­ge­ne, gewis­sen­lo­se Krä­mer­volk zum wil­den Auf­stan­de ent­flam­men; denn wenn wir uns ver­blu­ten sol­len, dann soll Eng­land wenigs­tens Indi­en verlieren.

 


Ber­lin, den 28. Juli 1914 [in der deut­schen Bot­schaft am 29. Juli ein­ge­gan­gen] – Der Reichs­kanz­ler an den Bot­schaf­ter in Wien

Die öster­rei­chisch-unga­ri­sche Regie­rung hat Ruß­land bestimmt erklärt, daß sie an ter­ri­to­ria­le Erwer­bun­gen in Ser­bi­en nicht denkt. Das stimmt mit der Mel­dung Ew. Exz. über­ein, daß weder die österr. noch die unga­ri­schen Staats­män­ner die Ver­meh­rung des sla­wi­schen Ele­ments in der Mon­ar­chie für wün­schens­wert hal­ten. Hier­von abge­se­hen hat uns die öster­rei­chisch-unga­ri­sche Regie­rung trotz wie­der­hol­ter Anfra­gen über ihre Absich­ten im Unkla­ren gelas­sen. Die nun­mehr vor­lie­gen­de Ant­wort der ser­bi­schen Regie­rung auf das öster­rei­chi­sche Ulti­ma­tum läßt erken­nen, daß Ser­bi­en den öster­rei­chi­schen For­de­run­gen doch in so weit­ge­hen­dem Maße ent­ge­gen­ge­kom­men ist, daß bei einer völ­lig intran­si­gen­ten Hal­tung der öster­rei­chisch-unga­ri­schen Regie­rung mit einer all­mäh­li­chen Abkehr der öffent­li­chen Mei­nung von ihr in ganz Euro­pa gerech­net wer­den muß.

Nach den Anga­ben des öster­rei­chi­schen Gene­ral­stabs wird ein akti­ves mili­tä­ri­sches Vor­ge­hen gegen Ser­bi­en erst am 12. August mög­lich sein. Die k. Regie­rung kommt infol­ge­des­sen in die außer­or­dent­lich schwie­ri­ge Lage, daß sie in der Zwi­schen­zeit den Ver­mitt­lungs- und Kon­fe­renz­vor­schlä­gen der ande­ren Kabi­net­te aus­ge­setzt bleibt, und wenn sie wei­ter an ihrer bis­he­ri­gen Zurück­hal­tung sol­chen Vor­schlä­gen gegen­über fest­hält, das Odi­um, einen Welt­krieg ver­schul­det zu haben, schließ­lich auch in den Augen des deut­schen Vol­kes auf sie zurück­fällt. Auf einer sol­chen Basis aber läßt sich ein erfolg­rei­cher Krieg nach drei Fron­ten nicht ein­lei­ten und führen. (…)

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[Nach­ste­hen­des Doku­ment ver­dient beson­de­re Beach­tung im Hin­blick auf die heu­te und seit Jahr­zehn­ten modi­sche Ein­schät­zung der füh­ren­den reichsdeutschen/preußischen Offi­zie­re, die als kriegs­lüs­tern-eupho­ri­sche Tol­pat­sche in den Welt­krieg „hin­ein­ge­stol­pert“ sein sol­len; Anm. d. Red.]

Ber­lin, den 29. Juli 1914 [am glei­chen Tag über­ge­ben] – Der Gro­ße Gene­ral­stab an den Reichskanzler

(…)

Öster­reich hat den euro­päi­schen Kabi­net­ten erklärt, daß es weder ter­ri­to­ria­le Erwer­bun­gen auf Kos­ten Ser­bi­ens anstre­ben noch den Bestand die­ses Staa­tes antas­ten wol­le, es wol­le den unru­hi­gen Nach­barn nur zwin­gen, die Bedin­gun­gen anzu­neh­men, die es für ein wei­te­res Neben­ein­an­der­le­ben für nötig hält, und die Ser­bi­en, wie die Erfah­rung gezeigt hat, trotz fei­er­li­cher Ver­spre­chun­gen unge­zwun­gen nie­mals hal­ten wür­de. Die öster­rei­chisch-ser­bi­sche Ange­le­gen­heit ist eine rein pri­va­te Aus­ein­an­der­set­zung, für die, wie gesagt, kein Mensch in Euro­pa ein tie­fer­ge­hen­des Inter­es­se haben wür­de, das in kei­ner Wei­se den euro­päi­schen Frie­den bedro­hen, son­dern im Gegen­teil ihn fes­ti­gen wür­de, wenn nicht Ruß­land sich ein­ge­mischt hät­te. Das erst hat der Sache den bedroh­li­chen Cha­rak­ter gegeben.

Öster­reich hat nur einen Teil sei­ner Streit­kräf­te, acht Armee­korps, gegen Ser­bi­en mobi­li­siert. Gera­de genug, um sei­ne Straf­ex­pe­di­ti­on durch­füh­ren zu kön­nen. Dem­ge­gen­über trifft Ruß­land alle Vor­be­rei­tun­gen, um die Armee­korps der Mili­tär­be­zir­ke Kiew und Odes­sa und Mos­kau, in Sum­ma zwölf Armee­korps, in kür­zes­ter Zeit mobi­li­sie­ren zu kön­nen, und ver­fügt ähn­li­che vor­be­rei­ten­de Maß­nah­men auch im Nor­den, der deut­schen Gren­ze gegen­über und an der Ostsee. (…)

Will Deutsch­land nicht wort­brü­chig wer­den und sei­nen Bun­des­ge­nos­sen der Ver­nich­tung durch die rus­si­sche Über­macht ver­fal­len las­sen, so muß es auch sei­ner­seits mobil­ma­chen. (…) Dann aber wird Ruß­land sagen kön­nen, ich wer­de von Deutsch­land ange­grif­fen, und damit wird es sich die Unter­stüt­zung Frank­reichs sichern (…). Das so oft als rei­nes Defen­siv­bünd­nis geprie­se­ne fran­zö­sisch-rus­si­sche Abkom­men, das nur geschaf­fen sein soll, um Angriffs­plä­nen Deutsch­lands begeg­nen zu kön­nen, ist damit wirk­sam gewor­den, und die gegen­sei­ti­ge Zer­flei­schung der euro­päi­schen Kul­tur­staa­ten kann beginnen.

Man kann nicht leug­nen, daß die Sache von sei­ten Ruß­lands geschickt insze­niert ist. (…) So wer­den und müs­sen die Din­ge sich ent­wi­ckeln, wenn nicht, fast möch­te man sagen, ein Wun­der geschieht, um noch in letz­ter Stun­de einen Krieg zu ver­hin­dern, der die Kul­tur fast des gesam­ten Euro­pas auf Jahr­zehn­te hin­aus ver­nich­ten wird.

Deutsch­land will die­sen schreck­li­chen Krieg nicht her­bei­füh­ren. Die deut­sche Regie­rung weiß aber, daß es die tief­ge­wur­zel­ten Gefüh­le der Bun­destreue, eines der schöns­ten Züge deut­schen Gemüts­le­bens, in ver­häng­nis­vol­ler Wei­se ver­let­zen und sich in Wider­spruch mit allen Emp­fin­dun­gen ihres Vol­kes set­zen wür­de, wenn sie ihrem Bun­des­ge­nos­sen in einem Augen­blick nicht zur Hil­fe kom­men woll­te, der über des­sen Exis­tenz ent­schei­den muß. (…)


[Rand­no­tiz des Kai­sers unter einer Abschrift der ser­bi­schen Ant­wort auf das Ulti­ma­tum aus Wien, nie­der­ge­schrie­ben am 28. Juli:]

„Eine bril­lan­te Leis­tung für eine Frist von blos 48 Stun­den! Das ist mehr als man erwar­ten konnte!

Ein gro­ßer mora­li­scher Erfolg für Wien; aber damit fällt jeder Kriegs­grund fort, und Giesl hät­te ruhig in Bel­grad blei­ben sol­len! Dar­auf­hin hät­te ich nie­mals Mobil­ma­chung befohlen!“

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St. Peters­burg, den 27. Juli 1914 [im Aus­wär­ti­gen Amt am 28. Juli ein­ge­gan­gen] – Der Bot­schaf­ter in Peters­burg Pour­talès an das Aus­wär­ti­ge Amt

[Wie­der­ga­be eines Gesprächs mit Sas­so­now] (…) Ew. Exz. könn­ten ver­si­chert sein, daß Ruß­land das Ver­trau­en in sei­ne Frie­dens­lie­be nicht täu­schen wer­de. Es sei bereit, in sei­nem Ent­ge­gen­kom­men gegen Öster­reich bis zur Gren­ze zu gehen und alle Mit­tel zu erschöp­fen, um Kri­sis fried­li­cher Lösung ent­ge­gen­zu­füh­ren. (…) Der Wunsch, Öster­reich zu demü­ti­gen, lie­ge ihm gänz­lich fern. Er bit­te aber drin­gend, zu beden­ken, daß, wenn die­je­ni­gen öster­rei­chi­schen For­de­run­gen, die ser­bi­sche Sou­ve­rä­ni­täts­rech­te antas­ten, erfüllt wür­den, ein revo­lu­tio­nä­res Regime ans Ruder kom­men wer­de, das noch schlim­mer als jet­zi­ges sein wer­de. (…) Saso­now woll­te Hoff­nung nicht auf­ge­ben, daß Mil­de­rung eini­ger Punk­te der an Ser­bi­en gestell­ten For­de­run­gen von Öster­reich wer­de erreicht wer­den kön­nen. Er bat drin­gend um unse­re Mit­wir­kung in die­sem Sin­ne. Es müs­se sich ein Weg fin­den las­sen, um Ser­bi­en unter Scho­nung sei­ner Sou­ve­rä­ni­täts­rech­te ver­dien­te Lek­ti­on zu ertei­len. Ich bemerk­te dazu, (…) [w]enn Ser­bi­en als gleich­be­rech­tig­tes Mit­glied euro­päi­scher Staa­ten­fa­mi­lie behan­delt wer­den wol­le, müs­se es sich auch als Kul­tur­staat ver­hal­ten. Die Ein­wen­dun­gen des Minis­ters gegen die­se an Ser­bi­en geüb­te Kri­tik waren heu­te viel schwä­cher als vor zwei Tagen, Spra­che des Minis­ters die­sel­be ver­söhn­li­che wie gestern.

[Zum Zeit­punkt des hier wie­der­ge­ge­be­nen Gesprächs lief in west­li­chen Mili­tär­be­zir­ken Ruß­lands bereits die Mobil­ma­chung; Anm. d. Red.]

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St. Peters­burg, den 26. Juli 1914 [im Aus­wär­ti­gen Amt am 28. Juli ein­ge­gan­gen] – Der Bot­schaf­ter in Peters­burg Pour­talès an den Reichskanzler

[Wie­der­ga­be drei­er in der Zei­tung „Nowa­ja Wrem­ja“ erschie­ne­nen Arti­kel zur Kri­se:] (…) Das Vor­ge­hen Öster­reichs bewei­se nur eins, näm­lich die Absicht, Ser­bi­en zu ver­nich­ten. Wei­ter heißt es dann, Öster­reich wer­de sich ohne das Ein­ver­ständ­nis Deutsch­lands nie dazu ent­schlie­ßen,* eine neue und öffent­li­che Ver­let­zung des Völ­ker­rechts zu bege­hen. Der deut­sche Kai­ser brau­che nur zwei Wor­te zu sagen, und Öster­reich wer­de sei­ne Note zurück­neh­men. Dem Kai­ser sei bekannt, daß Ruß­land Ser­bi­en mit sei­ner gan­zen mili­tä­ri­schen Macht unter­stüt­zen wer­de,** daß der Über­fall auf Ser­bi­en den Krieg mit Ruß­land bedeu­te, sowie, daß Deutsch­land und Frank­reich dann in den Krieg hin­ein­ge­zo­gen wer­den würden.

Die mora­li­sche Ver­ant­wor­tung für die dro­hen­de Ver­nich­tung der euro­päi­schen Zivi­li­sa­ti­on fal­le auf Deutsch­land und sei­nen erha­be­nen Führer. (…)

[Rand­be­mer­kun­gen des Kaisers:

* „dan­ke!“

** „Nein das war mir nicht bekannt! Ich konn­te nicht vor­aus­se­hen, daß der Zar sich auf sei­ten von Ban­di­ten und Königs­mör­dern stel­len wür­de, selbst auf die Gefahr hin einen Europ. Krieg zu ent­fes­seln. Einer sol­chen Men­ta­li­tät ist ein Ger­ma­ne unfä­hig, die ist Sla­visch oder Lateinisch.“

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[Rand­be­mer­kung des Reichs­kanz­lers vom 28. Juli zu einer Mel­dung des Bot­schaf­ters in Lon­don, Aus­künf­ten aus der k.u.k. Bot­schaft in Lon­don zufol­ge pla­ne Öster­reich, Tei­le Ser­bi­ens an Bul­ga­ri­en und Alba­ni­en zu „ver­schen­ken“:]

Die­se Zwei­deu­tig­keit Öster­reichs ist uner­träg­lich. Uns ver­wei­gern sie Aus­kunft über ihr Pro­gramm, sagen aus­drück­lich, daß die Aus­füh­run­gen des Gra­fen Hoy­os, die auf eine Zer­stü­cke­lung Ser­bi­ens hin­aus­lie­fen, rein pri­va­te gewe­sen sei­en, in Peters­burg sind sie die Läm­mer, die nichts Böses im Schil­de füh­ren, und in Lon­don spricht ihre Bot­schaft von Ver­schen­kung ser­bi­scher Gebiets­tei­le an Bul­ga­ri­en und Albanien.

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Karls­ru­he, den 27. Juli 1914 [im Aus­wär­ti­gen Amt am 28. Juli ein­ge­gan­gen] – Der preu­ßi­sche Gesand­te in Karls­ru­he, von Eisen­de­cher, an den Minis­ter der aus­wär­ti­gen Ange­le­gen­hei­ten (Reichs­kanz­ler)

(…) Fast die gesam­te Pres­se und öffent­li­che Mei­nung tritt dafür ein, daß wir gege­be­nen­falls ver­pflich­tet sind, Öster­reich unse­re Hil­fe zu gewäh­ren, aber ehr­li­che Begeis­te­rung für einen Krieg zum Schut­ze des bei­na­he halb­sla­wi­schen Bun­des­ge­nos­sen besteht nach mei­nen Wahr­neh­mun­gen nicht.

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Ber­lin, den 28. Juli 1914 – Der Reichs­kanz­ler an die preu­ßi­schen Gesand­ten bei den deut­schen Bundesregierungen

(…) Ange­sichts der Tat­sa­chen, die die öster­rei­chisch-unga­ri­sche Regie­rung in ihrer Note an die ser­bi­sche Regie­rung bekannt­ge­ge­ben hat, müs­sen die letz­ten Zwei­fel dar­über schwin­den, daß das Atten­tat (…) in Ser­bi­en zum min­des­ten mit der Kon­vi­venz von Ange­hö­ri­gen der ser­bi­schen Regie­rung und Armee vor­be­rei­tet wor­den ist. (…)

Die Ant­wort der ser­bi­schen Regie­rung auf die For­de­run­gen, wel­che die öster­rei­chi­sche Regie­rung am 23. d. M. durch ihren Ver­tre­ter in Bel­grad hat stel­len las­sen, läßt indes­sen erken­nen, daß die maß­ge­ben­den Fak­to­ren in Ser­bi­en nicht geson­nen sind, ihre bis­he­ri­ge Poli­tik und agi­ta­to­ri­sche Tätig­keit auf­zu­ge­ben. Der öster­rei­chisch-unga­ri­schen Regie­rung wird dem­nach, will sie nicht auf ihre Stel­lung als Groß­macht end­gül­tig Ver­zicht leis­ten, nichts ande­res übrig blei­ben, als ihre For­de­run­gen durch einen star­ken Druck und nöti­gen­falls unter der Ergrei­fung mili­tä­ri­scher Maß­nah­men durchzusetzen.

(…)

Die Hal­tung der k. Regie­rung in die­ser Fra­ge ist deut­lich vor­ge­zeich­net. Die von den Pan­sla­wis­ten gegen Öster­reich-Ungarn betrie­be­ne Agi­ta­ti­on erstrebt in ihrem End­ziel, mit­tels der Zer­trüm­me­rung der Donau­mon­ar­chie, die Spren­gung oder Schwä­chung des Drei­bun­des und in ihrer Fol­ge­wir­kung eine völ­li­ge Iso­lie­rung des Deut­schen Rei­ches. Unser eigens­tes Inter­es­se ruft uns dem­nach an die Sei­te Öster­reich-Ungarns. Die Pflicht, Euro­pa, wenn irgend mög­lich, vor einem all­ge­mei­nen Krie­ge zu bewah­ren, weist uns gleich­zei­tig dar­auf hin, die­je­ni­gen Bestre­bun­gen zu unter­stüt­zen, die auf die Loka­li­sie­rung des Kon­flik­tes hin­zie­len, getreu der­je­ni­gen Poli­tik, die wir seit nun­mehr 44 Jah­ren im Inter­es­se der Auf­recht­erhal­tung des euro­päi­schen Frie­dens mit Erfolg durch­ge­führt haben. Soll­te indes wider Erhof­fen durch ein Ein­grei­fen Ruß­lands der Brand­herd eine Erwei­te­rung erfah­ren, so wür­den wir, getreu unse­rer Bun­des­pflicht, mit der gan­zen Macht des Rei­ches die Nach­bar­mon­ar­chie zu unter­stüt­zen haben. Nur gezwun­gen wer­den wir zum Schwer­te grei­fen, dann aber in dem ruhi­gen Bewußt­sein, daß wir an dem Unheil kei­ne Schuld tra­gen, das ein Krieg über Euro­pas Völ­ker brin­gen müßte.

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Wien, den 28. Juli 1914 [im Aus­wär­ti­gen Amt am sel­ben Tag ein­ge­gan­gen] – Der Bot­schaf­ter in Wien an das Aus­wär­ti­ge Amt

Kriegs­er­klä­rung ist heu­te 11 Uhr an ser­bi­sches Minis­te­ri­um des Aus­wär­ti­gen abgegangen.

 

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