… glichen ein Westkollege und ich gegenseitig unsere Biographien ab. Wende, Grenzöffnung und Vereinigung lagen noch nicht so lange zurück, daß man alles selbstverständlich und geschichtlich herleitbar finden konnte. Von diesem Gespräch ist mir nur noch ein markanter Satz meines Kollegen, eines jungen Altphilologen aus Bayern, erinnerlich. Nach der Darstellung meiner DDR-Vergangenheit meinte er nämlich: „Besser mit der falschen Ideologie großgeworden als mit gar keiner.”
Ich dachte oft daran und überlegte, ob dieser Satz als Aufsatzthema in der Oberstufe anzubieten wäre, aber es werden leider keine klassischen Themenaufsätze mehr geschrieben, da sich das Fach Deutsch auf Textanalysen und Interpretationen zurückgezogen hat und mindestens in Mecklenburg leider auf das Positionieren, Argumentieren und wertebewußte Urteilen verzichtet.
Die DDR ist anlässlich des Wendejubiläums viel im Gespräch, vorzugsweise in ihrer Gestalt als Unrechtsstaat. Gegenüber dieser engen Bezeichnung ist schwerlich eine historische Ehrenrettung möglich; allerdings sieht der Begriff eben vollständig vom geschichtlichen Kontext ab, beispielsweise von der schrillen Begleitmusik des Kalten Krieges und überhaupt vom „Weltbürgerkrieg” der Ideologien, der bis zur Spaltung Deutschlands schon einige Etappen durchlaufen hatte. Wenn dadurch freilich nichts zu rechtfertigen oder zu relativieren ist, wäre damit immerhin manches erklärt statt vereinfacht. Das von den „Aufarbeitern” generierte Wort von der „zweiten Diktatur” ist so modern wie pauschal.
Vielleicht steht vielen der in die DDR Hineingeborenen reflexartig der Sinn nach Revision von politischen Klischees, weil sie das verschwundene geschichtliche Terrain als ihre schwierige Heimat verstehen mussten und die Dominanz eines anderen Systems, das – ebenfalls geschichtlich deutbar – siegte, naturgemäß als eine Kränkung empfanden, wie man eben Identitätsverlust als tendenziell traumatisch erlebt. Der Vergleich mit den von Norden her im Sezessionkrieg befreiten Südstaaten hinkt mindestens kulturgeschichtlich nicht in jeder Weise.
Ohne Zweifel war die DDR eine poststalinistische Diktatur, in mancher Hinsicht sogar deren eigene Karikatur. Gerade deswegen jedoch zwang sie permanent zur Auseinandersetzung und Positionierung, obwohl damals dazu schon gar keine Aufsätze geschrieben werden konnten. Aber jeder musste sich notgedrungen als politisches Wesen verstehen, indem er zu entscheiden hatte: Trete ich in die Partei ein oder nicht, lasse ich mich in die Stasi hineinziehen oder nicht, sage ich, was ich zu sagen habe, geradeheraus und jetzt oder behalte ich diese Wahrheit für mich. Folge ich den Ideologismen als Bekenner oder Opportunist oder nehme ich – von wo? – die Kraft zur Courage. Die Leute standen an Theaterkassen Schlange und jagten Büchern hinterher, um in den Genuß einer zweiten Lesart gegenüber der offiziell verordneten zu kommen.
Lieber mit der falschen Ideologie aufwachsen als mit gar keiner? Was zwingt meine Schüler heute dazu, sich in einem ptolemäischen Weltbild von Konsumismus und Beliebigkeit zu positionieren? Sie treibt vor allem die Angst, in der Karriere zu versagen und so nicht mehr teilnehmen zu können am Glück von „Media-Markt” und Eventkultur, dieser Surrogate für die Sehnsucht nach Sinn, die den Menschen am Leben hält. Gegen die Stasi-Methoden von „Lidl” und „Telekom” kann man rechtlich vorgehen, gegen den Totalitarismus eines Glücks des Verbrauchens und dessen Propaganda, der Werbung, hilft nur die Urteilskraft aus der Idee vom eigenen Selbst.
Citizen Kane
Die Mitteldeutschen beklagen ja so oft, dass nichts aus der DDR in die neue Bundesrepublik übernommen worden ist, außer dem Rechtsabbiegerpfeil.
Dabei haben sie doch etwas wirklich Bemerkenswertes, was sie hätten einbringen können, was ich mir gewünscht hätte.
Die deutschen Werte der Solidarität, der Pflichterfüllung gegenüber der Gemeinschaft,
der Zusammenhalt der Menschen, unsere guten deutschen Tugenden, die in der DDR Gesellschaft konserviert waren und die in Westdeutschland diskreditiert und verächtlicht gemacht wurden.
Könnten wir konservativen Wessis nicht unsere darauf begründete Wertschätzung
vermitteln um endlich zur Gemeinsamkeit zu finden?
Von Angela Merkel hatte ich mir in diesem Zusammenhang mehr erhofft.
Ich glaubte sie würde so sein wie viele westdeutsche Politiker nach dem Krieg, authentisch, geprägt von den Traumata unerbittlicher Umstände– Fehlanzeige, da gibt es nur noch Helmut Schmidt! ;-)