Peter Sloterdijk: Die schrecklichen Kinder der Neuzeit

Peter Sloterdijk: Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, Berlin: Suhrkamp 2014. 489 S., 26.95 €

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

Vor­be­mer­kung: Ich las Slo­ter­di­jks Buch in Abschnit­ten unter dem Druck, ein ertrag­rei­ches Buch auf einer knap­pen Sei­te dar­zu­stel­len. Nun lese ich noch ein­mal und in die Ver­äs­te­lun­gen hin­ein. Außer­dem stel­le ich allen Lesern fol­gen­de Auf­ga­be: Bis Ende August sind unter redaktion(at) sezession.de Rezen­sio­nen die­ses Buchs ein­zu­rei­chen, die bei­den bes­ten wer­den hier ver­öf­fent­licht (wenn gewünscht auch unter Pseud­onym) und hono­riert, jede wei­te­re gelun­ge­ne wird mit einem der neu­en Antai­os-Notiz­bü­cher bedacht. Ich hal­te Slo­ter­di­jks Buch für sehr wich­tig. Nun mei­ne Rezension:

Die Neu­zeit ist jene Epo­che, die auf das ver­meint­lich dunk­le Mit­tel­al­ter folg­te. Sie dau­ert als »Moder­ne« an, und ihr Kenn­zei­chen ist die Eman­zi­pa­ti­on des ein­zel­nen hin zu dem, was zu einem Aller­welts­wort ver­kom­men ist: hin zum Indi­vi­dua­lis­mus, des­sen vor­nehm­li­ches Tun die Infra­ge­stel­lung von Schick­sal, Bin­dung, Erbe und vor­ge­ge­be­ner Hier­ar­chie, kurz von jeg­li­cher Form ererb­ter und vor­ge­setz­ter Fremd­be­stim­mung ist.

Der Kul­tur­phi­lo­soph Peter Slo­ter­di­jk stellt die­ser gro­ßen Los­lö­sung von zwei­fel­los welt­erschüt­tern­der Bedeu­tung in sei­nem neu­en Buch (Die schreck­li­chen Kin­der der Neu­zeithier bestel­len) eine teu­re Rech­nung aus: kein Fort­schritt ohne Abbruch, kei­ne Selbst­er­mäch­ti­gung ohne Ein­mün­dung in einen Brei aus letz­ten Men­schen. Die­se Gene­ral­ten­denz ist banal für jeden, der das Jahr 1789 nicht als den Beginn von allem, son­dern als das Ende von etwas wer­tet. Banal ist auch, auf eine grund­sätz­li­che Stär­ke des vor­lie­gen­den Buches hin­zu­wei­sen: Slo­ter­di­jk ist einer jener sel­te­nen Phi­lo­so­phen, die zu erzäh­len wis­sen, und sein Schwung, sei­ne atem­be­rau­ben­de Bele­sen­heit, sein enzy­klo­pä­di­sches Gedächt­nis oder jeden­falls sei­ne per­fek­te Exzerpt-Kar­tei machen die Lek­tü­re sei­ner Bücher frucht­bar. Sys­te­ma­tisch sind sie nicht unbe­dingt, manch­mal sogar heil­los asso­zia­tiv in ihrem Ver­such, Phä­no­me­ne und Bege­ben­hei­ten anein­an­der­zu­knüp­fen, und dies hat Slo­ter­di­jk unter sei­nen Fach­kol­le­gen unter ande­rem den Ruf ein­ge­bracht, kein Phi­lo­soph, son­dern ein phi­lo­so­phi­scher Best­sel­ler­au­tor zu sein.

Jedoch rührt von der Fähig­keit zur Quer-Schnei­se Slo­ter­di­jks Mut, mit dem er typisch kon­ser­va­ti­ve oder sogar reak­tio­nä­re Denk­mus­ter auf­greift: Irgend­wie ver­zeiht ihm die Zunft der­lei, es ist, als ob er auf sei­nen Ern­te­fahr­ten zuviel auf ein­mal ein­bräch­te, ein biß­chen unsor­tiert, aber manisch kräf­tig. Beson­ders augen­schein­lich wird die­ser Mut im vier­ten von sechs Groß­ka­pi­teln: Es ist ele­gant mit »Leçons d’histoire« über­schrie­ben und inter­pre­tiert »Sie­ben Epi­so­den aus der Geschich­te der Drift ins Boden­lo­se.« Slo­ter­di­jk schil­dert Sze­nen und destil­liert aus ihnen das, was sei­ne Theo­rie der neu­zeit­li­chen Selbst­über­he­bung stützt.

Die Lek­tü­re ist ein Gang durch sie­ben Kam­mern einer sich stei­gern­den Rück­sichts­lo­sig­keit im Wort­sin­ne: einer bra­chia­len Abna­be­lung von allem Über­kom­me­nen, dem die Kon­struk­teu­re eines »Neu­en Men­schen« jede Legi­ti­mi­tät abzu­spre­chen bereit sind – mit der Kon­se­quenz rück­sichts­lo­ser Expe­ri­men­te am leben­den Objekt Mensch. Paris 1793, Paris 1804, Zürich 1916, Jeka­te­rin­burg 1918, Mos­kau 1938, Posen 1943 und Bret­ton Woods 1944: Man ahnt die Struk­tur hin­ter die­sem Gewe­be, die immer hybri­de­re Ablö­sung vom Halt einer Erdung, zuletzt (Bret­ton Woods) die von den Wirt­schafts­prin­zi­pi­en des Alten Euro­pas. Jeden Lin­ken und Libe­ra­len muß die Rei­hung empö­ren, jeden Rech­ten bestä­ti­gen. Ja, wir pro­fi­tie­ren davon!

Wer im vor­lie­gen­den Buch Slo­ter­di­jks Urteil über den in der Brei­te eines Kon­sum-Schwemm­fä­chers ange­kom­me­nen Mas­sen­men­schen liest, darf das ohne wei­te­res als klas­sisch kon­ser­va­ti­ve Kul­tur­kri­tik bezeich­nen. Die Beschrei­bung der Stu­fen hin zum »letz­ten Men­schen« unse­rer Tage bei­spiels­wei­se ist bereits als blo­ße Beschrei­bung wer­tend genug. Eine der Weg­mar­ken ist auch für Slo­ter­di­jk die For­mu­lie­rung der Men­schen­rech­te (»zeit­ge­mäß, unum­gäng­lich, hoch­her­zig und unein­lös­bar«), in denen »von Abstam­mung kein Wort mehr« fällt.

Die­se grund­sätz­li­che Los­lö­sung von allem Erbe habe sich in Ame­ri­ka gera­de­zu in ein Cre­do hin­ein gestei­gert: Jede Art Bin­dung an eine Ver­gan­gen­heit wer­de auf­ge­bro­chen, Gegen­wart oder gar Ver­gan­gen­heit im Ver­gleich zur Zukunft abge­wer­tet. Slo­ter­di­jk macht das an Erwä­gun­gen Tho­mas Jef­fer­sons fest, der von 1801 bis 1809 Prä­si­dent der USA war, und springt dann zurück nach Euro­pa, um in Max Stir­ners Der Ein­zi­ge und sein Eigen­tum jenes Den­ken zu benen­nen, das bereits 1845 den äußers­ten Rand der Bin­dungs­lo­sig­keit mar­kier­te: Das »Ich« wer­de unan­klag­bar, wer­de zum »Selbst­be­sitz«, sei nie­man­dem mehr etwas schul­dig und kön­ne Ansprü­che jeder Art formulieren.

Was Stir­ner noch nicht wis­sen konn­te, weiß Slo­ter­di­jk: Erst in den letz­ten fünf Jahr­zehn­ten ist es der Mas­se unse­rer Hemi­sphä­re ermög­licht wor­den, das theo­re­tisch längst bestell­te Feld prak­tisch zu erobern und eine Anspruchs­hal­tung ein­zu­neh­men, die kei­nen Auf­schub mehr hin­zu­neh­men bereit ist und das drin­gen­de Bedürf­nis hat, nie­man­dem mehr zu Dank ver­pflich­tet zu sein: »Zu rea­len und prag­ma­tisch Letz­ten wer­den Indi­vi­du­en in der Kon­sum- und Erwerbs­ge­sell­schaft von dem Augen­blick an, in wel­chem sie in die Daseins­wei­se von her­kunfts­schwa­chen und nach­kom­mens­lo­sen Selbst­ver­zeh­rern einwilligen.«

Hier­ar­chie­los, breit­flä­chig, ein »Kon­for­mis­mus des Anders-Seins«: Slo­ter­di­jks Aus­blick ist mit »Im Del­ta« über­schrie­ben, dort sieht er uns – irgend­wie geron­nen (dies erin­nert nicht ohne Grund an die kris­tal­li­sier­te Gesell­schaft, die Geh­len mit nüch­ter­nem Grau­en beschrieb). Die bei­den Wege, die er andeu­tet, sind jäm­mer­lich: »Wil­le zur mit­tel­fris­ti­gen Fort­set­zung« die­ses End­zu­stands lau­tet der eine, »feu­er­werk­ar­ti­ger End­ver­brauch im Hier und Jetzt« der ande­re. Daß unbe­se­hen davon das Pro­jekt einer Ret­tung der weni­gen gewagt wer­den könn­te, ver­mag er nicht zu formulieren.

Peter Slo­ter­di­jks Die schreck­li­chen Kin­der der Neu­zeit kann man  hier bestel­len.

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

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Kommentare (32)

Nordlaender

13. August 2014 12:15

Tja, Max Stirner bietet das Material, aus dem man sich bei Bedarf einen zeitgemäßen, solipsistischen Libertarismus zusammenbasteln könnte.

Und zugleich die beste Dekonstruktion der Plage des Menschismus (Humanismus 2014, Menschenrechtsimperialismus), die mir bekannt ist.

Ein Fremder aus Elea

13. August 2014 13:46

Ich kann dem "feuerwerkartigen Endverbrauch" durchaus etwas abgewinnen, siehe meine Überlegungen gegen Enden meines jüngsten Beitrags:

https://bereitschaftsfront.blogspot.com/2014/08/die-vier-haltungen-im-falschen.html

Aber um mal beim Greifbaren zu bleiben: Der Kollaps setzte einen großen Krieg voraus, andernfalls wird er gewiß vermieden werden, und zwar weil die Menschen alles mitmachen werden, um weitermachen zu können.

Wem die heutige Lage nicht gefällt, kann getrost von folgendem ausgehen:

1. Die gesamtgesellschaftliche Lage erstarrt, Spielräume jeglicher Art werden kleiner, kann wird in allen Bereichen zunehmend durch muß ersetzt.
2. Die Organisation des politischen Willens der einfachen Menschen (des Volkes) wird zunehmend schwerer.
3. Die Eliten werden zunehmend nervös, weil sie in demselben Maße, in welchem sie Widerstände überwinden, ihren Halt verlieren.
4. Die Drift auf dem Eis wird indes noch wenigstens eine Generation andauern.

Und als Konsequenz aus alledem scheint mir eine materielle Vorbereitung auf eine lebenswerte Zukunft mit einem zeitlichen Horizont von vielleicht 25 Jahren angemessen.

Schneller geht's eh nicht, und man sollte sich auch nicht irre machen lassen.

Andererseits sollte einem klar sein, daß gesellschaftlicherseits keine Freiheit zu erwarten ist. Eine Rückeroberung der früheren Freiräume scheitert an den Effizienzzwängen des Systems.

Rumpelstilzchen

13. August 2014 13:53

"Authentische Philosophie der Postmoderne ist die Hermeneutik des Ungeheuren als Theorie der alleinigen Welt."

"Die Welt ist alles, was der Fall ist; wären Gott und die Seele wirklich der Fall, müßten sie Aspekte von Welt oder Attribute der Welt-Macht sein."

Beide Zitate stammen aus Sloterdijks Vorwort zu William James, Die Vielfalt religiöser Erfahrung

Auch dieses Buch Sloterdijks geht von der Annahme aus, die Postmoderne müsse ohne Arché, d.h. ohne philosophisches oder theologisches Urprinzip alles Seienden auskommen.
Diese Annahme wird nicht mehr hinterfragt, sondern postuliert und als „nichttheologische Neubeschreibung menschlicher Erbverlegenheiten“ (Sloterdijk) durch die Historie durchexerziert.
Das ist sicher originell zu lesen, letztendlich kann man darüber aber nur zum Zyniker werden. Wenn man schon nicht schweigen kann (was Wittgenstein tut).
Sloterdijk ist für meine Begriffe eher Kulturkritiker denn Philosoph.
Daraus resultieren die Berührungspunkte mit den Kulturkonservativen.
Obschon kein Waldgänger, sondern ein Bergradler, bleibt auch er ein schreckliches Kind der Neuzeit.

Martin

13. August 2014 16:21

Ach was soll´s.
Unter all den "Stimmen" der Jetzt-Zeit, die es auch gelegentlich in die Bestsellerlisten schaffen (ob seine Bücher dann auch tatsächlich gelesen werden, wage ich zu bezweifeln. Bei wie vielen habe ich bspw. sein Werk "Kritik der kynischen Vernunft" im Bücherregal stehen sehn und die wenigstens davon dürften es gelesen haben), sind Sloterdijks Bücher noch mit Abstand die Lesenswertesten, da man auch sehr viel dabei lernen kann - Mit riesigem Abstand besser als die Precht´schen Ergüsse allemal. Von daher "Gemach" an die Allesversteher, Besserwisser und Blog-Vomiteure. Ich werde mir das Buch kaufen und dann auch lesen.

F.H.

13. August 2014 17:31

Es klingt nicht wirklich neu. Hoffe trotzdem, es wird ein Bestseller, dann begreifen das auch mal die ganzen verblödeten Bestsellerleser: unseren Weg in die entortete Entartung, sozusagen.
Er ist also wohl ein guter Mann, im Fernsehen fand ich ihn allerdings immer recht manieriert und selbstgefällig, dazu eine Beleidigung für die Augen.

enickmar

13. August 2014 17:43

Sloterdijks Buch habe ich nicht gelesen. Andere schon. Ich kann daher und trotzdem folgende Rezension darüber schreiben.

Das Buch muß gut sein:

https://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/peter-sloterdijks-neues-buch-die-schrecklichen-kinder-der-neuzeit-a-974984.html

Und auch hier reicht es vollkommen die "Zwischenüberschrift" zu lesen.

Wind

13. August 2014 17:48

Interaktionen mit dem Leser finde ich klasse. Wie damals bei der leider viel zu kurzen Beantwortungszeit bei der Frage nach den besten Sezessionsartikeln, oder den Gedichten. Leider wird mir Ende August zu knapp.

PB

13. August 2014 19:11

Von überheblichen Egoshootern wie Sloterdijk kann niemand profitieren, das hat man schon bei Sarrazin gesehen. Auch Joachim Fest hatte sein großherziges Statement zu Gunsten der Pressefreiheit im Allgemeinen und der JF im Besonderen (anlässlich einer der zahllosen Schikanen) auf allererstes Nachbohren komplett entwertet, ja ins Gegenteil verkehrt.

Wer einen Standpunkt glaubhaft vertreten soll, muss -den Mitmenschen neugierig zugewandt- in sich ruhen und darf sich jedenfalls nicht bereits durch die ständige Sehnsucht nach dem eigenen Ruhm korrumpieren lassen. Jörg Friedrich, beispielsweise, wäre so ein Charakter, der sich nicht irre machen lässt. Der für eine unbequeme, widerständige Strömung sich gewiss niemals im Ganzen vereinnahmen ließe, aber auch keine Berührungsängste vor Personen hätte, die aus anderen Motiven, mit anderen Mitteln, aufgrund anderer Erfahrungen ihre Erkenntnisse und Schlussfolgerungen vor dem Publikum ausbreiten wollten.

Vielleicht würde Sloterdijk eine Talkrunde heute nicht mehr so wütend verlassen wie 1999 bei Gertrud Höhler. Wahrscheinlicher ist, dass er sich gar nicht erst mit Leuten an einen Tisch setzen würde, die seine Ansichten womöglich teilen könnten.

Sicarier

13. August 2014 19:43

Ist der Titel nicht etwas irreführend ? Neuzeit, also ab Columbus ? Er meint Moderne, aber Neuzeit ist nicht so kulturkritisch besetzt ! Also doch ein wenig feige ? Er will ja sicher weiter für die Öffentlich-Rechtlichen schwadronieren. Man kann ja schwer behaupten, daß der "Abstieg in den Individualismus" in die Epoche fiel, als Europa seine kulturelle Blütezeit erreicht hatte. Außer natürlich, der Individualismus wäre mit Bedingung dieser Blüte gewesen. Von Abstieg kann also erst mit Beginn seiner definitiven Verrechtlichung die Rede sein, also am Beginn der Moderne.

Nordlaender

13. August 2014 20:09

@ Martin

"Mit riesigem Abstand besser als die Precht´schen Ergüsse allemal."

Du liebe ZEIT-, dieses NWO-kompatible Zeuchs läßt sich ja nun auch beim besten Willen nicht verdauen, selbst wenn man sich zum Nachspülen zwei, drei doppelte Nida-Rümelin einschenkt.

Elend allerorten, Verfassungspatrioten, die bei BUNTEN Kanzlern Minister für "Kultur" werden oder gar unser BUNTER Philosoph Nummer Eins, dessen Werke nach Information von Klonovsky schon in alle möglichen Sprachen übersetzt worden sind, nur leider noch nicht in unsere deutsche Muttersprache.
Ja, ich weiß, das ist niederes Ressentiment, ich habe von der Frankfurter Schule nie etwas gehalten. Eigentlich meine eigene Schuld, daß ich jetzt nicht gemütlich am Starnberger See residiere.

Sloterdijk habe ich immer als eitel wahrgenommen. Was soll's, inhaltlich ragt er weit über das heraus, was sonst noch so an Joghurts von den einschlägigen Kulturarbeitern gereicht wird.

Als er - zusammen mit dem Safranski, den ich eine Zeitlang zum engsten Kreis meiner Lieblingslinken gezählt habe - dann mit dem "Philosophischen Quartett" aussortiert worden ist, hat mich das sehr schmerzlich berührt. Na gut, Programmverantwortlichen, die ihrem gesetzlichen Bildungsauftrag nicht nachkommen, History statt Geschichte servieren, ist absolut jedes erdenkliche Verbrechen zuzutrauen.

Alexander

13. August 2014 20:50

enickmar:

https://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/peter-sloterdijks-neues-buch-die-schrecklichen-kinder-der-neuzeit-a-974984.html

Der Diez muß einer von uns sein ...

Stil-Blüte

13. August 2014 21:23

Zumindest ich darf mitteilen - bekennen, wäre des Guten zu viel - , daß mir seine sprachliche und gedankliche Vielfalt so viel Denkanstöße geschenkt hat, daß ich mich von der stupiden Ideologie der Linken ins Konservative begeben konnte.

Eines hat er fast allen jenen voraus, die sich mit Philosophie abgeben: Das Kind als Bestandteil des Menschseins in ein philosophisches Muster des Denkens/Nachdenkens einzubinden. Das Neugeborene begrüßen: 'Du bist willkommen!' - das ist Weihnachten jeden Tag!

Nicht zu vergessen, daß er sich mit 'Züchtung' weit aus dem Fenster gelehnt hat.

Zugegeben, sein Erscheinungsbild ist seltsam. Schauen wir uns doch mal Schopenhauer auf den Fotos an! Hilfe! Also - das sagt doch rein gar nichts!

Gustav Grambauer

13. August 2014 22:56

Nordlaender - volle Zuzstimmung.

Bei allem - großem - Respekt gegenüber seinen treffend von Herrn Kubitschek auf den Punkt gebrachten Qualitäten:

In "Zorn und Zeit" hatte er ausblickend noch von "Lernzeit für Zivilisierungen" und einem "Set interkulturell verbindlicher Disziplinen" mit dem Ziel einer "Weltkultur, die endlich ihren Namen verdient" geschwärmeriert.

Aber der wahre Opportunist erkennt frühzeitig neue Trends voraus. S., der als einer der ersten Etablierten das krachende Scheitern der NWO begriffen und inzwischen - eben - die heranrollende reaktionäre Welle gerochen hat, hat sich mit "Die schrecklichen Kinder der Neuzeit" nun mit seinem Rennrad an die Spitze des Pulks gesetzt. Bei der Tour geht es jetzt aus dem Flachland in die Berge, S. wird dies auch durchstehen - für die Precht, Willemsen, Brock, Bolz, Münkler, Heidenreich & Co. wird allerdings die demokratiedefizitäre Höhenluft bald dünn werden.

Die Heideggersche Kehre ist für ein Rennrad-Modell allerdings nicht gedacht. Botho Strauß kam von Theater am Halleschen Ufer in Berlin-Kreuzberg - heute ist er einer von uns. Bei Strauß habe ich auch nicht - so wie bei Sloterdijk - die Sorge, daß Anleihen aus der Tradition der politischen Reaktion nur für Vorstöße in Richtung Neo-Feudalismus mißbraucht werden.

S. könnte dazu (oder zumindest dafür, daß seine künftigen Bücher glaubhaft mehr werden als Viskosierprodukte für ein System, das sich seine Existenz sowieso nur noch seiner Aalglätte und Dehnfähigkeit verdankt) für den Anfang z. B. seine Partagás in den Aschenbecher legen, mit dem Medien-Design-Popanz- und Metafuture-Klüngel einen Bruch vollziehen und vor allem mal die Videokamera ausschalten.

- G. G.

Nordlaender

14. August 2014 09:33

@ Stilblüte

"Schauen wir uns doch mal Schopenhauer auf den Fotos an! Hilfe! Also – das sagt doch rein gar nichts!"

Seine dekadente Lehre, seine lebensverneinende Schmähung des Willens ist nicht minder schaurig anzusehen.

Ein Fremder aus Elea

14. August 2014 16:33

Zugegeben, sein Erscheinungsbild ist seltsam. Schauen wir uns doch mal Schopenhauer auf den Fotos an! Hilfe! Also – das sagt doch rein gar nichts!

Doch, es erklärt eine ganze Menge, etwa Schopenhauers Meinung, daß ein langer Hals zwar schön, aber der Versorgung des Hirns mit Sauerstoff hinderlich sei.

Oder daß es in der Philosophie auf das spontane Erfassen ankäme, und dazu eine breite Stirn erforderlich wäre.

Oder daß, wenn man die Klugheit eines Menschen rein äußerlich ablesen wolle, man bei sonstigem Gleichstand den Häßlicheren stets für klüger halten sollte.

Soweit wie Nordlaender würde ich nicht gehen. Schopenhauer war sich selbstverständlich dieser "Zusammenhänge" bewußt und hat auch etwas mit ihnen gespielt, ebenso wie er in seiner Philosophie einen Trost für den Umstand gesehen hat, daß er eh nicht sonderlich beliebt werden konnte, insbesondere beim anderen Geschlecht.

Aber warum auch nicht? Das Leben ist oftmals lächerlich genug. Da darf man sich, denke ich, schon auch manchmal seine eigenen Späße leisten. Und was das "Lehren" angeht: Die Wahrheit schadet nie, und es gibt keine größere Feigheit, als vor ihr wegzulaufen.

Schopenhauer hat inspiriert geschrieben, Vieles was er sagt ist recht "einfach", aber ungemein wichtig, wie etwa die Bemerkung, daß alle Weisheit bereits in Form von Sprichwörtern bei den Menschen ist.

Einer mag wohl darob anfangen, Sprichwörter zu sammeln, aber gedacht ist es selbstverständlich als Anforderung an die Philosophie, daß sie zusehe, daß ihre Behauptungen sich im Denken des Volkes wiederfinden, daß sie klärt, was jeder unzusammenhängend bei sich herumwälzt.

Ich denke, es ist letztlich auch eine kulturelle Sache. Wenn mir einer sagt: "Das Leben ist scheiße.", können wir gleich anfangen, herumzualbern oder auch einen zusammen trinken oder meinetwegen ins nächste Vergnügungsbad fahren. Aber wenn er sagt: "Das Leben ist großartig.", denke ich gleich: "Was ist das für einer?"

Zugegeben, leicht dekadent ist das wohl. Aber andererseits, wer hat schon mit einer Erwartungshaltung Spaß?

Schopi

14. August 2014 17:02

...hin zum Individualismus, dessen vornehmliches Tun die Infragestellung von Schicksal, Bindung, Erbe und vorgegebener Hierarchie, kurz von jeglicher Form ererbter und vorgesetzter Fremdbestimmung ist....

was bedeutet in diesem Zusammenhang "vorgegebene Hierachie"?
Wir leben nicht mehr im Feudalismus, wir leben im Zeitalter des Raubtierkapitalismus. Hier gibt es keine Vorgaben oder sind damit etwa die Bankkonto der Besitzenden gemeint?

Warum soll ein "Fremdbestimmter" sein Schicksal bejubeln?

Hier liegen die Antworten versteckt, warum diese hier vorgetragene Denkungsart immer marginal bleiben wird - und das ist auch gut so, bei aller richtigen Kritik an der Moderne.

Christian Bode

14. August 2014 17:30

Annotation Diez:
Ist es möglich, dass sich ein Mensch wider die Vernunft und das Gewissen öffentlich als Feind seiner Sache darstellt, indem er Werbung durch scheinbar ungeschickt formulierte Rezensionen verbreitet? Erst K. und nun S. Herr Kubitschek, schicken Sie ihm doch bitte auch Hirnhunde, oder Leuchtkugeln, vielleicht vermag Herr Diez es vernichtend gut zu vermarkten.

Nordlaender

14. August 2014 17:31

@ Ein Fremder aus Elea

"Aber andererseits, wer hat schon mit einer Erwartungshaltung Spaß?"

Die Verabredung mit der Schönen zum tete a tete setzt natürlich ein gewisses Erscheinungsbild voraus, daß man in dieser Hinsicht halt nicht gerade herausgefordert wurde vom Schicksal wie Schopenhauer, sich spätestens bei Dämmerung aus den eigenen vier Wänden hervortrauen kann. Und ein solches Harren der Dinge, die da noch kommen mögen, macht doch Laune. Ohne Erwartungen kein Ich, keine Grundspannung, die doch Bedingung ist, daß überhaupt Strom fließen kann.

"Das Leben ist großartig."

Gruselig! Vor solchen Leuten sollte man sich in Acht nehmen. Vielen ist leider gar nicht bewußt, daß korrekt eigentlich "The power of positiv drinking" heißt, siehe den entsprechenden Liedtext von Lou Reed.

https://www.youtube.com/watch?v=b23LYHxt1J8

Und ich gebe auch zu: Mag das Keifen und Fluchen Schopenhauers sehr. Der Mann ist mir gleich sympathisch, wie er sich nicht unter Kontrolle hat und immer wieder über die Philosophastereien eines gewissen Hegels auslassen muß. Und doch ist es traurig, daß er in Sachen Erkenntnistheorie viel geleistet hat, mit idealistischen Gespinsten aufgeräumt hat, die Wende zum Willen gefunden hat, um diesen dann allerdings ganz unmißverständlich, radikal und erbarmungslos zu denunzieren.

"Vieles was er sagt ist recht „einfach“, aber ungemein wichtig, wie etwa die Bemerkung, daß alle Weisheit bereits in Form von Sprichwörtern bei den Menschen ist."

Wer A sagt, muß auch B sagen.

(In manchen Kreisen auch: Halbbesoffen ist weggeschmissenes Geld.)

Äpfel und Birnen kann man nicht vergleichen.

Warum dann aber die Fahrlässigkeit, daß dieses Obst in Lebensmittelabteilungen so nahe nebeneinander untergebracht wird? Nachher kommt jemand doch noch auf die Idee, die Birnen schmackhafter als die Äpfel zu finden oder die Äpfel wohlfeiler in Bezug auf den Kilopreis, stellt Nachforschungen an bezüglich der Unterschiede im Vitamingehalt.

Stil-Blüte

14. August 2014 19:10

Sloterdijks Stoizismus - ist dem Stoizismus das innewohnend?- gleichermaßen zweifelhaft und bewundernswert. Ihn in irgendeinem Lager sehen zu wollen, habe ich aufgegeben und profitiere von seinem 'Willkommen, wer auch immer du seist'. (Seine linken Wurzeln nicht zu verleugnen, heißt es, daß er darauf stehengeblieben ist?) Ihm ist es gegeben/geschenkt, Türöffner für alle möglichen Gäste zu sein. Sloterdijks Willkommensgruß 'Tritt ein, bring Glück herein' ist der eines Gastgebers, der als Hausherr dem Lakai aufgetragen hat, daß keiner sich als ungebeter Gast fühle und jeden einzulassen sei. Für eine kurze Lesezeit sein geräumiges Haus zu betreten, ist ein unbekümmertes Zu-Besuch-Sein. Ich find' das schön! Und bekomme kein schlechtes Gewissen, es wieder zu verlassen. Ein Zuhause ist es nicht. Ein kleines Gastgeschenk ist immer dabei. In seinem Fall habe ich gelernt, daß Leichtigkeit, Höflichkeit nicht mit Beliebigkeit zu verwechseln ist.

Ist sein Aussehen zweifelhaft? Sich bei Fernsehauftritten keiner Visagistin auszusetzen, ist Eigensinn; Stoizismus.

@ Nordlaender
'...lebensverneinende Schmähung...' ist bei Schopenhauer 'Wille' nicht Bejahen, Naturgesetz. Irre ich mich?

@ Ein Fremder aus Elea
Vielen Dank für die Bemerkungen über Schopenhauers Bemerkungen zur Physiognomie des Menschen und über Sprich-Wörter. Hier ist eines von den meinen: 'Nur wer Umwege geht, wird ortskundig'. Über Sloterdijk habe ich einen Umweg gemacht, um das konservative Ländchen zu entdecken.

Um das Vergnügen, das mir Sloterdijk beim Lesen bereitet, werde ich mich auch in Zukunft nicht bringen. Dabei immer wieder fragen: Wie macht er es nur, daß er, der immer noch bekennende Linke, so vieles zu sagen weiß, was jenseits dem linken Ufer ist, ohne am linken oder rechten Ufer zu stranden? Eine sprachliche und gedankliche Kraft trägt ihn durch die Strudel, mit den Strudeln

Und sogleich bestelle ich das Sloterdijk.

Nordlaender

14. August 2014 20:48

@ Stilblüte

"ist bei Schopenhauer ‚Wille‘ nicht Bejahen, Naturgesetz."

Naturgesetz: ja.

Bejahen: nein. Die (gesamte!) Welt - als Wille und Vorstellung. Die Existenz des Steines, des Grashalmes, des Baumes, der Mücke usw., das seien alles Bestandteile des Gesamtwillens.
Was bei Kant das "Ding an sich" ist, ist bei Schopenhauer der Wille.

Bejahung setzte ein Bewußtsein seiner selbst voraus.

Die Scheidung, die Subjektivität ("Hier bin ich - dort steht ein Baum.") sei nur eine Täuschung, es handle sich nur um einen einzigen Willen, der nichts als Schmerz und Leid beschere.

Hartwig

14. August 2014 20:53

@ Schopi

"Warum soll ein „Fremdbestimmter“ sein Schicksal bejubeln?

Hier liegen die Antworten versteckt, warum diese hier vorgetragene Denkungsart immer marginal bleiben wird – und das ist auch gut so ..."

Sie wird marginal bleiben, aber das ist nicht gut so !
Die Frage ist nicht, ob ein "Fremdbestimmter" seine Fremdbestimmung bejubelt. Er wird sie in aller Regel nicht bejubeln, falls er sie denn tatsächlich wahrnimmt.
(Über die heute übliche Wahrnehmung als selbstbestimmt und frei möchte ich an dieser Stelle nicht referieren.)
Ihre kurzen Ausführungen markieren deutlich, wo der Hase im Pfeffer liegt, nämlich bei der ach so selbstverständlichen Abwendung von ach so selbstverständlichen Verpflichtungen.
Der von Ihnen zitierte Absatz von G.K. beschreibt m.E. eben nicht ein Gut und Schlecht, sondern ein Für und Wider: Individualismus mit all seinen vermeintlichen Annehmlichkeiten und Verabschiedungen aufgerechnet gegen den Preis, den eine Gesellschaft, ein Volk dafür zu zahlen hat; in letzter Konsequenz eine Schwächung bis hin zur Preisgabe des eigenen Bestandes und der Überlebensfähigkeit.

Nordlaender

14. August 2014 21:04

@ Stilblüte

"Ist sein Aussehen zweifelhaft?"

(Meines Erachtens): nö.

Forist Grambauer gab bereits unter sympathischem Sarkasmus etwas von Sloterdijk wieder, daß nach meinem Empfinden auf ein Sich-narzißtisch-Ergötzen an den eigenen Formulierungen deutet:

In „Zorn und Zeit“ hatte er ausblickend noch von „Lernzeit für Zivilisierungen“ und einem „Set interkulturell verbindlicher Disziplinen“ mit dem Ziel einer „Weltkultur, die endlich ihren Namen verdient“ geschwärmeriert.

Man kann hier unschwer das Krankheitsbild der Pluralitis erkennen. "Zivilisierungen", daß rockt eben, lernt man spätestens bei einem Praktikum bei der Bilderbergerhauspostille der ZEIT.

Aber, wie gesagt, hinter diesen Eitelkeiten (jetzt habe ich mich selber auch schon mit Pluralitis infiziert) entdecke ich durchaus Substanz.

Ein Fremder aus Elea

14. August 2014 22:55

Nordlaender,

nun, Schopenhauers Anstoß am Willen ist natürlich durch seine Ideale begründet, welche er hingegen an keiner Stelle explizit ausspricht.

Allerdings, das sagt er ja schon, daß es lachhaft sei zu behaupten, daß es unmöglich sei, sich eine bessere Welt zu denken. Und es mag sein, daß ihm dieser Umstand bereits genügt hat.

Also daß die Welt als eine Art Beleidigung empfunden wird, daß sie der eigene Wille als eine solche empfindet.

Und beides Wille ist, sowohl die Welt als auch das, was sie beleidigt.

Womit der Wille sich selbst haßt.

Schwer das ganz auszuräumen, offensichtlich ist die Welt so eingerichtet, daß sie sich selbst verschlingt und ihre Siege gegen sich selbst erringt. Aber es gibt bei all dem ein Gesetz, blind ist der Prozeß nicht. Und allem ist ein Bewußtsein gegeben, mit seiner jeweiligen Lage fertig zu werden.

Übrigens, laut I Ching, wenn die schöpferische Kraft in der Vernunft Gestalt annimmt (Himmel über Berg), zieht sie sich von den irdischen Angelegenheiten zurück.

Ich denke, das stimmt einfach. Wenn der höchste Seelenteil rein und mächtig wirkt, entfernt er sich von der Welt. Das ist Teil seiner Natur, eine Konstante, zu finden sowohl bei Platon, im Hinduismus, im Buddhismus, bei Schopenhauer, ja, bei Pythagoras und wohl auch im Christentum.

Darüber verstimmt zu sein, scheint mir verfehlt. Es hat alles seinen Platz, seine Funktion, soll einen Darwin irre machen?

Es gibt vieles, was wir nicht verstehen. Wir leiden darunter, um uns anzustrengen zu verstehen, nicht, um daran zu verzweifeln. Tiere verstehen gar nichts auf diese Weise. Für uns genügt der Teil, welchen wir jeweils für uns erobern.

Berend Rangstorff

15. August 2014 15:48

Beachtlich, dass G.K. die relativ lange Passage, die Sloterdijk Stirner widmet, nicht wie die meisten Rezensenten übersehen hat. Dort steht jedenfalls ein/der Kernsatz des ganzen Buches: "In Stirners Der Einzige und sein Eigentum erreicht das schreckliche Kind der Neuzeit seine Reflexionsgestalt." G.K. bleibt dazu knapp, scheint aber Sloterdijks Sicht Stirners zu teilen. Dass man Stirner auch anders sehen und damit andere Perspektiven eröffnen kann, las ich kürzlich in einem Beitrag des Stirner-Experten Bernd Laska in Literaturkritik.de. Absolut lesens- und bedenkenswert!

Hühnerbaron

15. August 2014 18:37

Der Stirnersche Einzige ist mit dem jüngerschen Waldgänger verwandt.
https://www.lsr-projekt.de/juenger.html
Die reale Macht es einzelnen ist bei Stirner in völliger Reinheit dargestellt, wie es weder vorher noch nachher jemand zusammenhängend in dieser Prägnanz vermocht hat. Alle diejenigen, die (vorerst?) mit sich oder wenigen anderen vorlieb nehmen müssen, können aus dem Selbstbewusstsein, dass Stirner in die Welt schreit, durchaus Kraft ziehen. Man muss diesen Ansatz nicht rein destruktiv interpretieren.
In den heutigen Landsleuten wird man mehr schopenhauersche Mitleidsethik als stirnerschen Egoismus finden. Gerade das Eigene wird doch abgelehnt, aus Selbsthass und Sündenkult. Dass man trotzdem für sich einen VW-Golf und Reisen nach sonstwo haben will, ist doch weniger dem traszendentellen Niedergang der Neuzeit als der Multiopionalisierung geschuldet. Die ergibt sich wiederum schlicht aus dem technisch machbaren. Gewollt hätten die Leute im Mittelalter die ganzen schönen Sachen auch, bloß gegeben hats die nicht getan!
Max Stirner hier: https://gutenberg.spiegel.de/buch/4220/2 , da ich denke, die meisten kenne es doch nicht im Original.

Nordlaender

15. August 2014 21:32

@ Ein Fremder aus Elea

"Womit der Wille sich selbst haßt.

Schwer das ganz auszuräumen, offensichtlich ist die Welt so eingerichtet, daß sie sich selbst verschlingt und ihre Siege gegen sich selbst erringt."

Ja, das bringt es auf den Punkt, beschreibt die Essenz, den Kern der Schopenhauerei.

Wie kann denn das Fußballen Freude bescheren, wenn ich doch um die ganze Trauer der Brasilianer weiß, die ganz heftig vorgeführt werden? Raus aus die Kartoffeln, rein in die Kartoffeln: Schopenhauer entdeckt die Subjektivität, um dann eine Kehrtwendung um 180 Grad zu machen und den Objektivitätsfimmel zu befördern.

Was sagt der Psycholog dazu? Ausnahmsweise mal mal nicht Nietzsche heranziehend, bediene ich mich bei Freud:

"Im Moment, da man nach Sinn und Wert des Lebens fragt, ist man krank, denn beides gibt es ja in objektiver Weise nicht; ..."
(Freud, 13.8.1937)

Ein Fremder aus Elea

16. August 2014 07:12

Damit wäre nur noch zu klären, wie Freud diese Antwort gefunden hat, ohne gefragt zu haben.

Nordlaender

16. August 2014 10:04

@ Ein Fremder aus Elea

Ihre Prämisse ist also, daß Freud nie (vorübergehend) krank gewesen ist?

Ernst Wald

16. August 2014 11:06

@Nordländer @Hühnerbaron @Rangstorff

Ich kann mich Ihrer Interpretation von Max Stirners Philosophie nur anschließen.

Nicht zu vergessen ist außerdem, dass sich Stirner mit seiner Betonung des Ichs die Kritik eines einflussreichen Links-Hegelianers einhandelte.

Denn in Schriften, die posthum unter dem Titel Deutsche Ideologie veröffentlichten wurden, legte nämlich Karl Marx seine anti-subjektivistischen Vorbehalte gegenüber Stirner dar. Und in seinem ersten Bestseller kommentierte Peter Sloterdijk die Unterschiede zwischen Marx´ und Stirners Denken noch wie folgt:

Stirner wählte den rechten, Marx den linken Weg. […] Wo Stirner sein revoltisch-auftrumpfendes Ich in die öffentliche Arena führte, produzierte der Marxismus einen Revolutionär, der mit dem Gefühl höchster Schlauheit und raffinierter Realistik sich selbst als Mittel im historischen Prozeß benutzt (Sloterdijk, Peter: Kritik der zynischen Vernunft, Frankfurt a.M., 1983 / S.194 u. 195).

Sicherlich reinigt sich Stirners Figur des „Eigners“ von allen Fremdprogrammierungen durch ein Vorgehen, welches wie die Form eines dezisionistischen Kampfes um Souveränität auf subjektiver Ebene anmutet. Und dies mag Sloterdijk dazu veranlasst haben, Stirner auf der politischen Rechten zu verorten.

Aber streng genommen bewegt sich der „Eigner“ aufgrund seiner Ich-Fixierung, mittels der er jegliche politische Weltanschauung zurückweist, außerhalb der ideologischen Felder rechts/links.

Ein Fremder aus Elea

16. August 2014 12:20

Nein, meine Prämisse ist, daß Krankheit das Denkvermögen beeinträchtigt.

Und daraus ergibt sich folgendes Dilemma, wenn Freud Recht hätte:

Entweder, jemand fragt sich das nicht, dann kann er aber auch keine Antwort finden, oder aber er fragt es sich, aber dann ist er zu krank, um seiner Antwort vertrauen zu dürfen.

Ernst Wald

17. August 2014 13:37

Übrigens lässt sich der anti-genealogische Affekt, den Sloterdijk bei modernen und postmodernen Denkern diagnostiziert, auch bei Stefan George finden:

Neuen adel den ihr suchet
Führt nicht her von schild und krone! […]
Stammlos wachsen im gewühle
Seltne sprossen eignen ranges
Und ihr kennt die mitgeburten
An den augen wahrer glut.

George schwebte wohl eine geistig-seelische Aristokratie vor, die ihre Legitimität nicht aus Blutsbanden bezieht.

Nordlaender

19. August 2014 11:37

@ Ein Fremder aus Elea

"Entweder, jemand fragt sich das nicht, dann kann er aber auch keine Antwort finden, oder aber er fragt es sich, aber dann ist er zu krank, um seiner Antwort vertrauen zu dürfen."

Ist eben die Frage, was Angus Young mehr Spass macht:
a) in der Konzerthalle seine Soli abzufeuern oder
b) im stillen Kämmerlein darüber zu brüten, welchen Sinn es denn eigentlich hat, an den Stahlseiten seiner elektrischen Gitarre zu ziehen.

Beides zugleich funktioniert nicht.

Zwar bin ich alles andere als ein Anhänger von Freud, doch muß ich Einspruch erheben: Krankheit kann eventuell die Wahrnehmung verzerren, der Kranke kann aber womöglich sehr einsichtig sein:

Das Fußballen scheint mir nur deshalb so ein schnödes Unterfangen zu sein, weil ich gerade mit meinem Gips im Krankenbett dahinsieche.

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