Vorbemerkung: Ich las Sloterdijks Buch in Abschnitten unter dem Druck, ein ertragreiches Buch auf einer knappen Seite darzustellen. Nun lese ich noch einmal und in die Verästelungen hinein. Außerdem stelle ich allen Lesern folgende Aufgabe: Bis Ende August sind unter redaktion(at) sezession.de Rezensionen dieses Buchs einzureichen, die beiden besten werden hier veröffentlicht (wenn gewünscht auch unter Pseudonym) und honoriert, jede weitere gelungene wird mit einem der neuen Antaios-Notizbücher bedacht. Ich halte Sloterdijks Buch für sehr wichtig. Nun meine Rezension:
Die Neuzeit ist jene Epoche, die auf das vermeintlich dunkle Mittelalter folgte. Sie dauert als »Moderne« an, und ihr Kennzeichen ist die Emanzipation des einzelnen hin zu dem, was zu einem Allerweltswort verkommen ist: hin zum Individualismus, dessen vornehmliches Tun die Infragestellung von Schicksal, Bindung, Erbe und vorgegebener Hierarchie, kurz von jeglicher Form ererbter und vorgesetzter Fremdbestimmung ist.
Der Kulturphilosoph Peter Sloterdijk stellt dieser großen Loslösung von zweifellos welterschütternder Bedeutung in seinem neuen Buch (Die schrecklichen Kinder der Neuzeit – hier bestellen) eine teure Rechnung aus: kein Fortschritt ohne Abbruch, keine Selbstermächtigung ohne Einmündung in einen Brei aus letzten Menschen. Diese Generaltendenz ist banal für jeden, der das Jahr 1789 nicht als den Beginn von allem, sondern als das Ende von etwas wertet. Banal ist auch, auf eine grundsätzliche Stärke des vorliegenden Buches hinzuweisen: Sloterdijk ist einer jener seltenen Philosophen, die zu erzählen wissen, und sein Schwung, seine atemberaubende Belesenheit, sein enzyklopädisches Gedächtnis oder jedenfalls seine perfekte Exzerpt-Kartei machen die Lektüre seiner Bücher fruchtbar. Systematisch sind sie nicht unbedingt, manchmal sogar heillos assoziativ in ihrem Versuch, Phänomene und Begebenheiten aneinanderzuknüpfen, und dies hat Sloterdijk unter seinen Fachkollegen unter anderem den Ruf eingebracht, kein Philosoph, sondern ein philosophischer Bestsellerautor zu sein.
Jedoch rührt von der Fähigkeit zur Quer-Schneise Sloterdijks Mut, mit dem er typisch konservative oder sogar reaktionäre Denkmuster aufgreift: Irgendwie verzeiht ihm die Zunft derlei, es ist, als ob er auf seinen Erntefahrten zuviel auf einmal einbrächte, ein bißchen unsortiert, aber manisch kräftig. Besonders augenscheinlich wird dieser Mut im vierten von sechs Großkapiteln: Es ist elegant mit »Leçons d’histoire« überschrieben und interpretiert »Sieben Episoden aus der Geschichte der Drift ins Bodenlose.« Sloterdijk schildert Szenen und destilliert aus ihnen das, was seine Theorie der neuzeitlichen Selbstüberhebung stützt.
Die Lektüre ist ein Gang durch sieben Kammern einer sich steigernden Rücksichtslosigkeit im Wortsinne: einer brachialen Abnabelung von allem Überkommenen, dem die Konstrukteure eines »Neuen Menschen« jede Legitimität abzusprechen bereit sind – mit der Konsequenz rücksichtsloser Experimente am lebenden Objekt Mensch. Paris 1793, Paris 1804, Zürich 1916, Jekaterinburg 1918, Moskau 1938, Posen 1943 und Bretton Woods 1944: Man ahnt die Struktur hinter diesem Gewebe, die immer hybridere Ablösung vom Halt einer Erdung, zuletzt (Bretton Woods) die von den Wirtschaftsprinzipien des Alten Europas. Jeden Linken und Liberalen muß die Reihung empören, jeden Rechten bestätigen. Ja, wir profitieren davon!
Wer im vorliegenden Buch Sloterdijks Urteil über den in der Breite eines Konsum-Schwemmfächers angekommenen Massenmenschen liest, darf das ohne weiteres als klassisch konservative Kulturkritik bezeichnen. Die Beschreibung der Stufen hin zum »letzten Menschen« unserer Tage beispielsweise ist bereits als bloße Beschreibung wertend genug. Eine der Wegmarken ist auch für Sloterdijk die Formulierung der Menschenrechte (»zeitgemäß, unumgänglich, hochherzig und uneinlösbar«), in denen »von Abstammung kein Wort mehr« fällt.
Diese grundsätzliche Loslösung von allem Erbe habe sich in Amerika geradezu in ein Credo hinein gesteigert: Jede Art Bindung an eine Vergangenheit werde aufgebrochen, Gegenwart oder gar Vergangenheit im Vergleich zur Zukunft abgewertet. Sloterdijk macht das an Erwägungen Thomas Jeffersons fest, der von 1801 bis 1809 Präsident der USA war, und springt dann zurück nach Europa, um in Max Stirners Der Einzige und sein Eigentum jenes Denken zu benennen, das bereits 1845 den äußersten Rand der Bindungslosigkeit markierte: Das »Ich« werde unanklagbar, werde zum »Selbstbesitz«, sei niemandem mehr etwas schuldig und könne Ansprüche jeder Art formulieren.
Was Stirner noch nicht wissen konnte, weiß Sloterdijk: Erst in den letzten fünf Jahrzehnten ist es der Masse unserer Hemisphäre ermöglicht worden, das theoretisch längst bestellte Feld praktisch zu erobern und eine Anspruchshaltung einzunehmen, die keinen Aufschub mehr hinzunehmen bereit ist und das dringende Bedürfnis hat, niemandem mehr zu Dank verpflichtet zu sein: »Zu realen und pragmatisch Letzten werden Individuen in der Konsum- und Erwerbsgesellschaft von dem Augenblick an, in welchem sie in die Daseinsweise von herkunftsschwachen und nachkommenslosen Selbstverzehrern einwilligen.«
Hierarchielos, breitflächig, ein »Konformismus des Anders-Seins«: Sloterdijks Ausblick ist mit »Im Delta« überschrieben, dort sieht er uns – irgendwie geronnen (dies erinnert nicht ohne Grund an die kristallisierte Gesellschaft, die Gehlen mit nüchternem Grauen beschrieb). Die beiden Wege, die er andeutet, sind jämmerlich: »Wille zur mittelfristigen Fortsetzung« dieses Endzustands lautet der eine, »feuerwerkartiger Endverbrauch im Hier und Jetzt« der andere. Daß unbesehen davon das Projekt einer Rettung der wenigen gewagt werden könnte, vermag er nicht zu formulieren.
Peter Sloterdijks Die schrecklichen Kinder der Neuzeit kann man hier bestellen.
Nordlaender
Tja, Max Stirner bietet das Material, aus dem man sich bei Bedarf einen zeitgemäßen, solipsistischen Libertarismus zusammenbasteln könnte.
Und zugleich die beste Dekonstruktion der Plage des Menschismus (Humanismus 2014, Menschenrechtsimperialismus), die mir bekannt ist.