Am Anfang dieser Entwicklung stand eine soziale Sezession. In den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts hatte sich Amerika verändert. Zum ersten Mal lebten mehr Menschen in den Städten als auf dem Land. Wissenschaft und Fortschritt vergrößerten nicht nur den Wohlstand, sie ließen auch die Traditionen der Gründerväter in vielen Punkten fragwürdig erscheinen. Für die konservativen Christen kulminierte diese Entwicklung in einem kulturpolitischen Schlüsselerlebnis. Der Lehrer John Thomas Scopes hatte gegen das Gesetz des Staates Tennessee verstoßen, das die Unterrichtung der Evolutionslehre in den öffentlichen Schulen untersagte. So kam es 1925 zu dem Gerichtsverfahren, das mit einer schweren moralischen Niederlage der Fundamentalisten endete. Tief gedemütigt zogen sie sich in ihre Gemeinden und Kirchen im Süden und Mittleren Westen, dem sogenannten Bible Belt zurück. Fünfzig Jahre sollten vergehen, bis die vom Zeitgeist Verfemten auf die politische Bühne der USA zurückkehrten, weitere zwanzig Jahre bis sie die Macht in der republikanischen Partei ergriffen hatten und ins Zentrum der politischen Macht vorgestoßen waren. Wie konnte es zu dieser überraschenden Wendung kommen?
Bis Ende der sechziger Jahre wurden die USA von Politikern aus der Tradition des liberalen Protestantismus und des New Deal geführt. Der Mann, der als erster ernsthaft das Fundament dieses Konsenses in Frage stellte, war ein fast gescheiterter antikommunistischer Politiker: Richard M. Nixon. Nixon hatte die Vision einer „neuen Mehrheit” rechts von der Mitte. Die Spaltung der Nation durch den Vietnamkrieg ebnete dem bei zwei Wahlen durchgefallenen Hardliner den Weg zur Präsidentschaft. Nixon versprach einen „ehrenhaften Frieden” in Vietnam und versuchte hinter dieser Idee eine neue konservative Wählerallianz zu sammeln. Nixon beschloß, die einfachen, die „vergessenen Amerikaner” gegen die Protestbewegung von links zu mobilisieren und damit aus der Wählerallianz der Demokraten zu lösen. Während der schweren Unruhen in Folge der Bombardierung Kambodschas appellierte Nixon in einer Fernsehansprache direkt an die „schweigende Mehrheit” der Amerikaner und bat diese um Hilfe. Sein Ruf blieb nicht ungehört (Robert Mason: Richard Nixon and the Quest for a New Majority, Chapel Hill 2004, 289 S.).
Ein Baptistenprediger aus Virginia war einer der Zuschauer, die Nixons Appelle tief beeindruckt am Fernseher verfolgten. Noch Mitte der sechziger Jahre hatte der junge Reverend Jerry Falwell (1933–2007) jedes politische Engagement kategorisch abgelehnt. Zehn Jahre später, 1976, dem Jahr, in dem der Demokrat Jimmy Carter Nixons Nachfolger Ford ablöste, hatte Falwell seine Meinung grundlegend geändert: „Die Idee, daß Religion und Politik nicht zusammengehören, ist die Eingebung des Teufels, um Christen davon abzuhalten, über ihr eigenes Land zu bestimmen.” Die Herausforderung von links, die Fernsehbilder brennender Flaggen, geschlagener Soldaten, die Berichte von Drogen, Kriminalität und Abtreibung hatten zur Politisierung und Radikalisierung eines Teils jener großen Bevölkerungsgruppe geführt, die lange Zeit nichts weniger sein wollte als politisch.
Jerry Falwell wurde als Fernsehprediger berühmt und organisierte bereits größere religiös-patriotische Massenkundgebungen, als er 1979 Besuch von Paul Weyrich erhielt. Weyrich hatte 1973 mit dem Bierkönig Joseph Coors und Ed Feulner die Heritage Foundation, eine der einflußreichsten konservativen Denkfabriken, gegründet und gilt daher als Vater der Neuen Rechten in den USA. Im Juni 1979 baute Falwell zusammen mit Weyrich und einer Gruppe von Geistlichen die Moral Majority (Moralische Mehrheit) auf, die sich zur wichtigsten Massenorganisation der religiösen Rechten entwickelte. Sie fand die Unterstützung von 110.000 Pastoren und 392 Radiostationen, die ihre religiöse und politische Botschaft verbreiteten. In dieser Zeit wurde der Begriff „Moralische Mehrheit” häufig zur Bezeichnung der gesamten „Neuen Christlichen Rechten” verwendet. Diese nutzte den Begriff wiederum zur Beschreibung des gesamten amerikanischen Volkes (Sharon Linzey Georgianna: The Moral Majority and Fundamentalism. Plausability and Dissonance, Lewiston 1989, 179 S.).
Die „Neue Christliche Rechte” wurde Teil jener Koalition, die die Präsidentschaft Ronald Reagans trug. Mit dieser „Reagan-Koalition” war Nixons Vision einer neuen Mehrheit Wirklichkeit geworden. Das heterogene Bündnis reichte von der christlichen Rechten über den „Militärisch-Industriellen Komplex”, etablierte konservative Realpolitiker wie George Bush sen. und James Baker bis zum Marktradikalismus eines Arthur Laffer und Milton Friedman (John W. Sloan: The Reagan-Effect. Economics and Presidential Leadership, Lawrence 1999, 311 S.).
Jede charismatische Massenbewegung erfährt mit der Teilhabe an der Macht die frustrierende Distanz zwischen ihrer politischen Utopie und dem harten Brot der Tagespolitik. Die politischen Amateure der christlichen Rechten sahen sich bald von den etablierten Politikern an die Wand gespielt. Außerdem wurde die moralische Autorität der Fernsehprediger von einer Reihe spektakulärer Sex-Skandale unterminiert. Die dramatisierende Untergangsrhetorik der Rechten verlor an Überzeugungskraft, so daß zwischen 1985 und 1989 fast alle Organisationen einschließlich der Moral Majority aufgelöst wurden. Die Frustration über die „Liberalen” in der Partei hatte inzwischen so sehr zugenommen, daß mit Pat Robertsen 1987 ein eigener fundamentalistischer Kandidat im Rennen um die Präsidentschaftsnominierung antrat. Zwar hatte er gegen George Bush sen. keine Chance, die Kandidatur wirkte jedoch wie ein Fanal, das eine Neuformierung der evangelikalen Rechten einläutete.
Der große innovative Kopf der zweiten Welle war der Historiker Ralph Reed, den das Time Magazine 1995 auf ihrem Cover zur „rechten Hand Gottes” kürte. Er wurde der erste Generalsekretär der Christian Coalition, die in den neunziger Jahren die Rolle übernahm, die in den achtziger Jahren die Moral Majority gespielt hatte. Reeds Zauberformel für die Überwindung der Krise hieß Professionalisierung. Unter seiner Leitung stieg die Zahl der Mitglieder von 25.000 im Jahr 1990 auf über zwei Millionen zur Zeit seines Rücktritts 1997. Zu den neuen Strategien der Christlichen Rechten in den Neunzigern gehörte die systematische Infiltration der Republikanischen Partei. Im Jahr 1994 kontrollierte sie die Republikanische Partei bereits in achtzehn Bundesstaaten, das heißt sie stellte mehr als fünfzig Prozent des Parteivorstandes. In dreizehn weiteren Bundesstaaten verfügte die Christliche Rechte über fünfundzwanzig bis fünfzig Prozent der Vorstandssitze. Die Zahl dieser Staaten unter „moderatem Einfluß” der Christlichen Rechten verdoppelte sich bis zum Jahr 2000 auf sechundzwanzig (Manfred Brokker: Protest – Anpassung – Etablierung. Die Christliche Rechte im politischen System der USA, Frankfurt a.M. 2004, 386 S.).
Die Kulturrevolution der Neuen Linken und die Gegenrevolution der Neuen Christlichen Rechten haben zu einem Patt geführt. In diesem Umstand liegt begründet, daß die gegenwärtige Kultur der USA einem Januskopf gleicht. Auf absehbare Zeit bleiben die Vereinigten Staaten das Land der Pornographie und der Prüderie, des radikalen Feminismus ebenso wie der militanten Abtreibungsgegner, des Relativismus ebenso wie der wörtlichen Auslegung der Bibel, des Multikulturalismus und God’s own country.