Die Bandbreite der Köpfe, die sich schier vorbehaltslos dem patriotischen Rausch hingaben, der im August 1914 ganz Deutschland durchschauerte, ist verblüffend, zumal gerade die Kunst und Literatur der beiden Jahrzehnte vor dem Krieg eher durch “Opposition gegen das Etablierte” gekennzeichnet war. Nun schien die innerlich vielfach gespaltene Nation über alle Klassen‑, Konfessions- und Parteienschranken hinweg mit einem Schlag durch ein großes, erhabenes Schicksal geeint. Kaum einer konnte sich diesem Sog entziehen. Den kongenialen “Slogan” hatte Kaiser Wilhelm II. ausgegeben: “Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche.”
Frank Lisson sieht in der Tiefendimension der Geschehnisse die “Geisteskrise” der Zeit, die aus Historismus, Relativismus und dem Nihilismus der Moderne erwachsen war – nun sollte ein “apokalyptisches Gegenfeuer” wieder reinen Tisch machen, die Verwirrung auflösen und wieder zu Taten führen.
Und tatsächlich hob das Augusterlebnis wenigstens kurzzeitig alle politischen, sozialen, geistigen Sorgen und Nöte auf und brachte endlich die ersehnte Einheit von Denken, Handeln und Leben.
Noch nach 1945 schrieb der liberale Historiker Friedrich Meinecke (zitiert in dem Beitrag von Martin Grundweg):
Die Erhebung der Augusttage 1914 gehört für alle, die sie miterlebt haben, zu den unverlierbaren Erinnerungswerten höchster Art – trotz ihres ephemeren Charakters. Alle Risse, die im deutschen Menschentum sowohl innerhalb des Bürgertums wie zwischen Bürgertum und Arbeiterschaft bestanden hatten, überwölbten sich plötzlich durch die gemeinsame Gefahr, die über uns gekommen war und uns aus der Sekurität materiellen Gedeihens herausriß.
Hier einige von Günter Scholdt zitierte Zeugnisse:
Der Bestsellerautor Emil Ludwig notierte am 4. August 1914 in seinem Tagebuch: “Ein Pathos, das ganze drei ganze Tage währt? Ein unendliches Pathos! In diesen Tagen war jeder einzelne zugleich das Ganze, jeder trug die deutsche Krone, jeder war Michael.”
Der Bildhauer Ernst Barlach sprach von “einem großen Liebesabenteuer” und “Glücksgefühl”.
Georges Lieblingsjünger Friedrich Gundolf frohlockte, “eine solche Einheit zu erleben”, sei “schon einen Weltkrieg wert”.
Harry Graf Kessler meinte, aus dem “in eine neue Form” gegossenen deutschen Volk sei etwas aus “unbewußten Tiefen” emporgestiegen, “das ich nur mit einer Art Heiligkeit vergleichen kann”.
Richard Dehmel sprach von einem an Pfingsten erinnernden “seelischen Flammenwunder”.
Alfred Döblin verkündete noch im August 1917: “Der Krieg hat eine Volksgemeinschaft geschaffen, wie die langen Friedensjahre nicht”, erhoben über “Kasten und Stände” mit “von Stunde zu Stunde” wachsender Kraft.
Robert Musil erfuhr die Mobilmachung in Berlin als “großes Erlebnis”, “das Gott nahebringt”, die Todesfurcht zurückdränge oder das Gefühl erwecke, Goethe “zu verteidigen”.
Carl Zuckmayer beschrieb im Rückblick den Soldatendienst angesichts des Ernstfalls als “gewaltiges, berauschendes Abenteuer, für das man das bißchen Zucht und Kommißkram gern in Kauf nahm. Wir schrien ‘Freiheit’, als wir uns in die Zwangsjacke der preußischen Uniform stürzten.”
Sigmund Freud (!) jubelte bei Kriegsausbruch, seit 30 Jahren gehöre Österreich-Ungarn erstmals wieder seine “ganze Libido”.
An den patriotischen Bekenntnissen und der Apologie der Kriegsjahre beteiligten sich unter anderem Thomas Mann, Rainer Maria Rilke, Frank Wedekind, Arnold Zweig, Gustav Frenssen, Hermann Sudermann, Ernst Toller, Hermann Hesse, Alfred Kerr oder ein junger Gymnasiast namens Bertolt Brecht – also auch eine erkleckliche Anzahl von Autoren, die nach 1918 radikale Kehrtwendungen machen sollte. Auch die Frauen standen nicht nach: die Begeisterung ergriff etwa Else Ury (“Trotzkopf”), Ina Seidel oder Thea von Harbou, die später die Drehbücher für Fritz Langs monumentale Stummfilme schrieb.
Wie ein Who is Who liest sich auch die Liste der Kriegsfreiwilligen: Oskar Kokoschka, Ernst und Friedrich Georg Jünger, Klabund, Joseph Roth, Alexander Lernet-Holenia, August Stramm, Ludwig Thoma, Ludwig Ganghofer, Ernst Wiechert, Walter Hasenclever, Walter Flex…
Auf uns Nachgeborene und aus der Distanz der Zeit “Besserwissende” wirkt all dies ebenso seltsam wie auf tragisch ergreifend. Übereinstimmend beschrieben die Zeitzeugen das “Augusterlebnis” als eine Art kollektives “Gipfelerlebnis”, durchaus im Sinne des Psychologen Abraham Maslow. “Peak experiences” sind nach Maslow jähe Augenblicke der Ekstase und Freude, die einen Menschen unwillkürlich überkommen, und mit einem Schlag die Bedeutungslosigkeit und Zufälligkeit seines eigenen Lebens aufzuheben scheinen.
Sie sind häufig gekennzeichnet durch das Gefühl, endlich die ultimative Wahrheit, das Geheimnis des Daseins selbst zumindest annähernd berührt zu haben. Wer sie erlebt, verspürt die Gewißheit: Das ist es also! Alle Filter und Schleier fallen von den Dingen, an die man sich zu sehr gewöhnt hat, und sie erscheinen nun in neuem Licht, in der vollen Frische ihres So-Seins, durchdrungen von einem tiefgreifenden Sinn. Vielleicht hatte Heidegger ähnliches im Sinn, wenn er von der “Entbergung des Seins” sprach.
Im Falle des Augusterlebnis war das Gefühl vorherrschend, Teil eines großen, lebendigen, schicksalserfüllten Ganzen zu sein. Gerade die Gefahr enthüllte seinen Wert, seine Einzigartigkeit und seine Bestimmmung. Was nachher geschah, ließ diese nahezu religiöse Epiphanie als Trugbild und Illusion erscheinen: als hätte sich Gott in all seiner Glorie gezeigt, nur um diejenigen, denen er sich offenbart hatte, zu narren und in den Abgrund zu führen.
Enttäuschungen wie diese, die man auch im Kleinen und Privaten erleben kann, führen oft dazu, daß man im Nachhinein am Charakter der Wahrheit selbst verzweifelt, allen Glauben und alle Hoffnung verliert: wie kann es sein, daß etwas, das so groß und wahr und göttlich erschien, zu einem solch furchtbaren Ende führte? Kann man etwa seinen Gefühlen, und seien sie noch so erhebend und grandios, nicht vertrauen? Sind das Heilige und Erhabene überhaupt nur subjektive Empfindungen ohne objektiven Gegenwert? Was für ein Kriterium hat man dann noch, um das Wahre vom Falschen zu scheiden, Gott vom Teufel, die Wahrheit von der Lüge, den Sinn vom Unsinn?
Die Deutschen haben im Laufe der Geschichte des 20. Jahrhunderts derartige “Gipfelerlebnisse” teuer bezahlt. Ihre Folgen sind ihnen traumatisch in die Knochen gebrannt; heute mißtrauen sie sich und ihren Ekstasen und ihrer Begeisterungsfähigkeit zutiefst. Allenfalls im Rahmen von Fußballmeisterschaften werden die Zügel wieder etwas gelockert; und selbst dann findet sich immer wieder ein Anlaß, den Stachel im Fleisch zu beschwören, um jegliche Selbstüberhebung zu bremsen.
Dem Rausch von 1914 standen komplementär und wohl als direkte Folge die heftigen Verwerfungen, Überspanntheiten und Radikalismen der Nachkriegszeit gegenüber, die schon wieder eine Vorkriegszeit war. Dazwischen lag eine beispiellose Höllenfahrt, in der neuartige apokalyptische Untiere ihre Häupter erhoben, die Schrecken des modernen, technisierten Massenzeitalters.
Deutschland war nach der Katastrophe innerlich zersplitterter als je zuvor. Die Beschwörung der nationalen Einheit und des monumentalen Schicksals durch die politische Religion des Nationalsozialismus erscheint heute als eher gespenstische Neuauflage des “Augusterlebnisses” von 1914 in dämonisierter, zugespitzer, radikalisierter, letztlich pathologischer Form; sie hatte auch bei weitem nicht seine umfassende Reichweite.
Die “Volksgemeinschaft” des Nationalsozialismus blieb weitgehend ein parteiideologisches Konstrukt, das zuviele Teile des Volkes ausschloß oder gar als Feinde markierte. Ein erheblicher Teil des auf diese Jahre zurückgehenden deutschen Traumas verdankt sich nicht nur den Schandtaten des Regimes, sondern auch den positiven Gefühlen und Impulsen, der Hoffnung und dem Glauben, die es zu mobilisieren und zu benutzen verstand.
Wer heute, wie wir Sezessionisten etwa, das Pathos des “ego non” pflegt, mag sich fragen, wie er damals, im August 1914, reagiert hätte. Es gibt nicht nur Zeiten, in denen es eine Frage der Ehre und Integrität ist, sich abseits zu halten – es gibt auch Zeiten, in denen die Verweigerung der Anteilnahme schäbig, egoistisch, engherzig und kleinlich schmeckt. Gewiß erschien das vielen durchaus edlen Köpfen so im August 1914: nun, da es um das Ganze der Nation, um Sein oder Nichtsein ging, wollte keiner fehlen.
Es gibt eine berühmte Propaganda-Zeichnung von Jacques-Louis David, die eine solche Szene zeigt. Ergriffen von den “Ideen von 1789” versammeln sich die Abgeordneten des Dritten Standes im Juni des Revolutionsjahres in der Ballsporthalle von Versailles, um gemeinsam den feierlichen Schwur zu leisten, Frankreich eine neue Verfassung zu geben. Meine Lieblingsfigur auf diesem Bild ist der Abgeordnete Joseph Martin-Dauch am unteren rechten Rand (harhar!), der sich mit gesenktem Kopf störrisch einigelt und trotz enthusiastischer Aufforderungen der Umstehenden als einziger den Schwur verweigert, während sich die ganze Halle in brüderlicher und freiheitlicher Ekstase in die Arme fällt.
Die Weigerung Martin-Dauchs ist historisch verbürgt. David, ein enthusiastischer Anhänger der Revolution, hat ihn offenbar als Kontrastfigur zu den hehren, ergriffenen, vor noblem Idealismus aus allen Nähten platzenden Abgeordneten konzipiert, als grantigen Reaktionär, der sich krampfhaft dem neuen, frischen Wind der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit verweigert. Das Bild entstand 1791, nur ein Jahr, bevor die Revolution endgültig zum blutigen, totalitären Terrorregime ausartete. Martin-Dauch selbst entkam nur knapp dem Tod unter der Guillotine.
Die Geschichte scheint also dem knorrigen Spielverderber im Nachhinein rechtzugeben; dennoch fällt es schwer, sich der Suggestivkraft des Bildes und der von David intendierten Wirkung zu entziehen.
Ein deutscher Dichter übrigens, einer der Größten, war im Chor der Kriegsbegeisterung von 1914 nicht zu vernehmen: Stefan George. Er blieb der stoische Solitär inmitten des allgemeinen Gejubels der Kollegen seiner Zunft. Obwohl ihm der heroische Ton bekanntlich keineswegs fremd war, blieb er bemerkenswert zurückhaltend.
In seinem Gedicht “Der Krieg”, entstanden zwischen 1914 und 1916, fällte er schließlich ein unerbittliches Urteil:
Zu jubeln ziemt nicht: kein triumf wird sein ·
Nur viele untergänge ohne würde..
Des schöpfers hand entwischt rast eigenmächtig
Unform von blei und blech · gestäng und rohr.
Der selbst lacht grimm wenn falsche heldenreden
Von vormals klingen der als brei und klumpen
Den bruder sinken sah · der in der schandbar
Zerwühlten erde hauste wie geziefer..
Der alte Gott der schlachten ist nicht mehr.
Erkrankte welten fiebern sich zu ende
In dem getob. Heilig sind nur die säfte
Noch makelfrei versprizt – ein ganzer strom.
Der Krieg verschlang viele idealistische Jünglinge und junge Männer, die Georges Gedichte wie Nektar aufgesogen hatten und von großen Schicksalen träumten, darunter einige seiner hervorragendsten Schüler, etwa der Wiederentdecker Hölderlins Norbert von Hellingrath.
Auch Ezra Pound haßte diesen Krieg aus tiefster Seele. 1915 fiel sein enger Freund, der französisch-polnische Bildhauer Henri Gaudier-Breszka, 1917 der seinem Umkreis nahestehende genialische Philosoph und Dichter T. E. Hulme.
Pound schrieb die meiner bescheidenen Meinung nach großartigsten Zeilen über die Freiwilligen des Weltkriegs; sie stehen in seinem Gedicht “Hugh Selwyn Mauberley” aus dem Jahr 1920. Wann immer ich die Tonaufnahme höre, in der Pound diese Verse liest, kann ich mich der Gänsehaut kaum erwehren.
These fought, in any case,
and some believing, pro domo, in any case..
Some quick to arm,
some for adventure,
some from fear of weakness,
some from fear of censure,
some for love of slaughter, in imagination,
learning later…some in fear, learning love of slaughter;
Died some pro patria, “non dulce non et decor”…There died a myriad,
And of the best, among them,
For an old bitch gone in the teeth,
For a botched civilization…
(Kuriosum: Pound hat auch einmal die deutsche Übersetzung von Eva Hesse eingesprochen.)
Buchtip: Mobilmachung 1914. Ein literarisches Echolot
Sezession 61 (mit dem Text von Günter Scholdt)
Sezession 58 (Themenheft 1914)
Ein Fremder aus Elea
"nun, da es um das Ganze der Nation, um Sein oder Nichtsein ging, wollte keiner fehlen."
So ist's schlicht. Die Führung hat's verbockt, das Volk muß es ausbaden, aber ausbaden muß es es, denn schließlich hat's an das geglaubt, worum gekämpft wurde: Deutschlands Souveränität.
Man kann natürlich sagen, wie ich es ja auch tue, daß Deutschlands Souveränität bereits mit der Annäherung an Großbritannien verlorenging, welche dem Deutschen Reich seine Besitztümer in der Südsee bescherte, aber aus der Sicht des Volks, und faktisch vollzogen, war's nicht so, da mußten noch die Waffen sprechen.
Die eigene Souveränität ist heilig, die Täuschung lag woanders.