Generation Nichtsnutz – Best Agers

pdf der Druckfassung aus Sezession 14/Juni 2006

sez_nr_14Meinen Eltern gewidmet und ihren Freunden ins Stammbuch geschrieben, deren Dauerhohn über die „Dummheit, die goldenen Lebensjahre an die Enkel zu vergeuden" erstere beharrlich ignorieren

Was die semantischen Verwerfungen und die damit verbundenen Empfindsamkeiten angeht, ist es mit unseren Alten heute ganz ähnlich wie es einst mit den Negern war: Was als simpler, wertfreier Unterscheidungsbegriff eben noch eingängig war, verfiel auf einmal den komplizierten Regularien des politisierten Neusprechs: „Neger" galt plötzlich als diskriminierend und ähnlich wie „Schwarzer" nur als kämpferisch-trotzige Selbstbezeichnung akzeptabel, die Zuweisungen „Afro-Amerikaner" und „Afrikaner" ließen einen ohne genaue Herkunftskenntnis der gemeinten Person im dunkeln tappen, und ein weithin kursierendes reimloses Poem („Wenn ihr Weißen euch ärgert, werdet ihr rot", etc.) verwies auch die Bezeichnung „Farbiger" in den Bereich des Unerwünschten.

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.


Ver­gleich­bar sen­si­bel gestal­tet sich auch die Nomen­kla­tur um jene Alten, die so – auch in Abgren­zung zu den älte­ren Alten, den Grei­sen – nicht genannt wer­den wol­len. Da sie – es geht kon­kret um die Jahr­gän­ge nach der Flak­hel­fer­ge­ne­ra­ti­on, um die Geburts­ko­hor­ten 1936–1950 – längst als zah­lungs­kräf­ti­ge Kon­su­men­ten­ziel­grup­pe ent­deckt wur­den, hat der Markt eine Viel­zahl klang­vol­ler Namen für sie ent­wor­fen: Gene­ra­ti­on 55+, Jun­ge Alte, Best Agers, Gol­den Oldies, Sil­ver Sur­fer, wobei letz­te­res wie­der­um die Frau­en aus­schlie­ßen dürf­te: Damen ohne grau­ab­de­cken­de Kolo­ra­ti­on sind eine aus­ster­ben­de Spezies.
Den Begriff „Seni­or”, so raten Mar­ke­ting­ex­per­ten, gel­te es tun­lichst zu ver­mei­den, er las­se Abwer­tung ver­mu­ten, klin­ge nach Alters­heim und Rom­mé­run­de. Tabu auch: Rent­ner / Ruhe­ständ­ler (denn jetzt beginnt der Spaß doch erst!) sowie, mög­lichst auch pri­vat nicht, Oma und Opa (Asso­zia­ti­on: Strick­strumpf, Pan­tof­fel, beige­brau­ne Kla­mot­te, Erwar­tungs­hal­tung der Kin­der bezüg­lich Enkel­be­treu­ung). Daß er sei­ne Power, Potenz und Pro­gres­si­vi­tät betont und gleich­zei­tig als rohes Ei behan­delt zu wer­den wünscht, gehört zu den her­aus­ra­gen­den Kenn­zei­chen des Best Agers. Emp­feh­lung der Ver­kaufs­stra­te­gen: „Die Bedürf­nis­se älte­rer Men­schen müs­sen berück­sich­tigt, dür­fen aber nicht direkt ange­spro­chen wer­den.” Wer sol­ches beher­zigt, kann kräf­tig mit­ver­die­nen: Was frü­her für die Enkel gespart wur­de, gön­nen sich die Best Agers heu­te zuneh­mend selbst für einen Lebens­abend, der nun zur ent­spann­ten Lebens­mit­te gewor­den ist. Die drei­ßig Mil­lio­nen Deut­schen über fünf­zig bestim­men heu­te über mehr als vier­zig Pro­zent des frei ver­füg­ba­ren Kapi­tals, das sind sechs­hun­dert Mil­li­ar­den Euro jährlich.
Höchst akri­bisch, in ver­schie­de­ne Rubri­ken unter­teilt, sam­melt das Köl­ner „Büro gegen Alters­dis­kri­mi­nie­rung” jeden Witz, jede Wer­be­bot­schaft, jede toi­let­ten­freie S‑Bahn („eine Zumu­tung für Älte­re!”) und jede Zei­tungs­mel­dung, die unter den Tat­be­stand des ageism fal­len könn­te, etwa:

Ein 65jähriger Mann möch­te ein Segel­schiff erwer­ben. Der Mann bezieht eine hohe monat­li­che Pen­si­on und er hat schul­den­frei­en Immo­bi­li­en­be­sitz. Den Kauf­preis der Sum­me kann er kom­plett in bar auf­brin­gen, möch­te aber lie­ber ein Drit­tel der Sum­me, das sind 50.000 Euro, finan­zie­ren. Er wen­det sich des­halb an die Bau­fi­nanz-Bay­ern. Nach erfolg­ter Boni­täts­prü­fung erhält er fol­gen­den Vor­druck: „Auf­grund Ihres rela­tiv hohen Alters kön­nen wir Ihren Antrag nur bear­bei­ten, wenn es in ihrem per­sön­li­chen Umfeld Per­so­nen gibt, die erheb­lich jün­ger als Sie sind und über ein gutes per­sön­li­ches Ein­kom­men ver­fü­gen. Die­se Person(en) brauch­ten nicht Eigen­tü­mer ihrer Immo­bi­lie wer­den, son­dern müs­sen nur als Mit­an­trag­stel­ler für das bean­trag­te Dar­lehn auftreten.”

Das Büro gegen Alters­dis­kri­mi­nie­rung merkt dazu an: Wir haben Jus­tiz­mi­nis­te­rin Zypries die­sen Fall bekannt gemacht, um unse­re For­de­rung nach Schutz vor Alters­dis­kri­mi­nie­rung zu untermauern.
Wer die zahl­rei­chen Fäl­le kennt, in denen jun­gen Men­schen unter ähn­li­chen Kapi­tal­vor­aus­set­zun­gen die Kre­dit­wür­dig­keit (zum Zwe­cke des Haus­baus, zur Fir­men­grün­dung) abge­schla­gen wur­den (etwa weil eini­ge Kin­der zu ver­sor­gen sind, wes­halb ein hor­ren­der monat­li­cher Selbst­be­halt ange­nom­men wird, oder weil man in einem kon­junk­tur­schwa­chen Bun­des­land lebt), dürf­te ob der exis­ten­ti­el­len Trag­wei­te des obi­gen Fal­les müde lächeln.
Es scheint gera­de das Aus­maß an öffent­lich­keits­wirk­sam behaup­te­ter Dis­kri­mi­nie­rung ein geeig­ne­ter Grad­mes­ser dafür zu sein, wie wenig eine Per­so­nen­grup­pe tat­säch­lich dis­kri­mi­niert wird. Wer bereits die tat­säch­lich all­fäl­li­gen Berech­nun­gen zur über­al­ter­ten Gesell­schaft (poli­tisch kor­rekt: unter­jüng­ten), zur Ren­ten­mi­se­re und den hof­fen­den Pfle­ge­kos­ten unter „Alters­ras­sis­mus” (Frank Schirr­ma­cher) rech­nen mag, dem hat man Las­ten und Kos­ten sei­nes Emp­fän­ger­da­seins noch nicht wirk­lich um die Ohren gehau­en. Weit und breit ist Bernd W. Klöck­ner mit sei­nem Buch Die gie­ri­gen Alten der ein­zi­ge, der das Kind wirk­lich bei sei­nem beängs­ti­gen­den Namen nann­te. Dazu paßt, daß 1996 die Bezeich­nung „Rent­ner­schwem­me” zum „Unwort des Jah­res gekürt wur­de – dies, obglich die­ser Ter­mi­nus vor des­sen „Prä­mie­rung” in kei­ner Quel­le über­haupt nach­weis­bar war.
Nein, es soll hier nicht um Ren­ten­sys­tem, Pfle­ge­ver­si­che­rung, den Zuwachs an Alten und die soge­nann­te „Gene­ra­tio­nen­ge­rech­tig­keit” an sich gehen. Zah­len­schlach­ten lie­fern sich ande­re, aller­or­ten. Kurt Bie­den­kopf hat schon recht, wenn er die all­seits beklag­te demo­gra­phi­sche Mise­re schlicht als „Aus­druck eines mil­lio­nen­fa­chen Ple­bis­zits” auf­faßt. Es geht um die inne­re Ver­faßt­heit: um die mora­li­sche Ver­kom­men­heit unse­rer Best Agers.
Klar, wer von „Gene­ra­ti­on” spricht, redet pau­schal. Immer. Zunächst: Best Agers wird hier als Schimpf­wort gebraucht. Wer sich getrof­fen fühlt, möge bel­len! Nie in der Schuß­li­nie sind: die treu­sor­gen­den Groß­el­tern, die rüh­ri­gen Ehren­amt­li­chen, die durch Schick­sals­schlä­ge auf der Stre­cke Geblie­ben, auch die­je­ni­gen, die in der all­ge­mei­nen Fett­le­be der rei­chen BRD-Zeit Wür­de mit­tels Kon­sum­di­stanz bewahr­ten und sol­ches an ihre Kin­der und Enkel wei­ter­zu­ge­ben ver­moch­ten und ver­mö­gen. Gemeint hin­ge­gen sind alle, die – groß­ge­wor­den auf den Schul­tern der Trüm­mer­frau­en – bloß an ihr eige­nes, fet­tes Leben den­ken und ihr „Nach mir die Sint­flut” anstimmen.
„Wo wenig Klas­se ist, ist viel Gene­ra­ti­on”, schrieb Gus­tav Seibt ein­mal. Den Kol­lek­tiv­sin­gu­lar einer Life­style-Gene­ra­ti­on – wohl­ge­merkt scharf zu tren­nen von den Erleb­nis­ge­ne­ra­tio­nen, die frü­her waren und die hier aufs deut­lichs­te aus­ge­spart wer­den – haben sich die­je­ni­gen, um die es geht, selbst zu ver­dan­ken: In ihrer Ägi­de, die unter den Vor­zei­chen des sich eta­blie­ren­den Mas­sen­kon­sums und dem Auf­stieg des klei­nen Man­nes steht, ist die klas­sen­lo­se Gesell­schaft leib­haf­tig gewor­den. Bür­ger, Bau­er, Arbeits­mann sind zu einer welt­of­fe­nen, kon­tur­lo­sen und ver­ant­wor­tungs­scheu­en Kon­sum­ge­mein­schaft ver­schmol­zen. All­ge­mei­ner Wohl­stand und der in jeder Hin­sicht sät­ti­gen­de Kom­fort einer bei­spiel­los lan­gen Frie­dens­zeit hat die alte Gül­tig­keit von Milieus weit­ge­hend absor­biert. Ob Haus­frau, Täsch­ne­rin, Schal­ter­da­me oder Frau Pro­fes­sor: beim Power-Wal­king im Park, pro­ba­tes Mit­tel gegen jed­we­des Zivi­li­sa­ti­ons­zip­per­lein, kreu­zen sich ihre Wege.

Im Kurs­buch Die Drei­ßig­jäh­ri­gen (Dezem­ber 2003) beschreibt der Schrift­stel­ler David Wag­ner, Jahr­gang 1971 sei­ne „unsym­pa­thi­schen, ewig jun­gen Eltern”: Sie habe

„der fluk­tu­ie­ren­de Jugend­wahn so im Griff, daß sie kei­ne Groß­el­tern sein wol­len. Sie wol­len jetzt lie­ber in Ruhe ihr beschis­sen kavi­ar­lin­kes Milieu pfle­gen, sich früh pen­sio­nie­ren las­sen und Golf spie­len. Scheint, als emp­fän­den sie ihr Alter und ihr nicht mehr nur Eltern­sein als Krän­kung. Ich habe sie plötz­lich alt gemacht. Die Rol­le der Alten, die ewi­ge Groß­el­tern­rol­le, wol­len sie noch lan­ge von ihren Nazi-Eltern ver­kör­pert sehen. Die sie, auch wenn sie längst tot sind, als Schreck­ge­spens­ter wei­ter­le­ben las­sen, hegen und pfle­gen, um sie dann immer mal wie­der als Ein­schüch­te­rungs­ap­pa­ra­te auf­tre­ten zu las­sen. Tut mir leid, das hat auf mich kei­ne gro­ße Wir­kung mehr. Mir per­sön­lich sind mei­ne Groß­el­tern – die waren nie von einem so selbst­über­zeug­ten, mir ekel­er­re­gen­dem Gut­sein durch­drun­gen – auf ver­füh­re­ri­sche Wei­se sym­pa­thi­scher als mei­ne Eltern.”

Die Gene­ra­ti­on der Best Agers früh­stückt bis heu­te von einer reich gedeck­ten Tafel des Lebens. Den Appe­tit mag man ihr gön­nen, sie hat ja beim Decken des Tisches den Alt­vor­de­ren eine wenig (immer­hin begann bereits 1966 durch Ent­gren­zung des Sozi­al­staats der Auf­schwung zu brö­ckeln) mit­ge­hol­fen, allein: Sie hat kei­ne Manie­ren. Die hat sie wohl erwor­ben von jenen, die ihr als Nazis oder Mit­läu­fer gal­ten, hat dann aber ver­säumt oder bewußt unter­las­sen, sie wei­ter­zu­ge­ben, und nun beginnt das gro­ße Rülp­sen. Best Agers, das sind jene, die Krieg und Nach­krieg gera­de mit­er­lebt, aber nicht durch­ge­kämpft haben, die unter unge­heu­rer Res­sour­cen­ver­schwen­dung und Schul­den­an­häu­fung vom Wirt­schafts­wun­der – das wesent­lich die Eltern für sie zau­ber­ten – pro­fi­tier­ten und einen mons­trö­sen Schul­den­berg hin­ter­las­sen haben.
Den Enkeln blei­ben schwer genieß­ba­re Res­te als Nach­tisch. Die Speer­spit­ze unse­rer Best Agers flitz­te seit 1968 durch die Insti­tu­tio­nen, der gro­ße Rest hielt nichts von Revo­lu­tio­nen. Gül­ti­ger und zu schüt­zen­der Wert war allein der des Kon­tos. Erzie­he­ri­scher Auf­trag, Aus­ein­ader­set­zung mit dem Geist der zeit, der seit den Sieb­zi­gern durch Schul­den, Uni­ver­si­tä­ten und Fern­seh­ka­nä­le weh­te. Fehl­an­zei­ge. Der Wohl­stand hat sie kor­rum­piert. Schon damals, als man die Weg­werf­ge­sell­schaft mit ihren pfle­ge­leich­ten Pro­duk­ten und er Bil­lig­wa­re aus Über­see freu­dig begrüß­te und eta­blier­te (Segen und Rari­tät sind Groß­müt­ter, die heu­te Enkel­so­cken stop­fen und Bett­wä­sche fli­cken) und heu­te erst recht, wo der ält­li­chen Kegel- oder Tipp­ge­mein­schaft der Städ­te­trip nach Sevil­la (Necker­mann gibt einen Best Ager-Rabatt von 5 Pro­zent) ange­mes­se­ner erscheint, als der Grup­pen­aus­flug per Bus an den Chiemsee.
Gewohnt scharf­sin­nig hat Gerd-Klaus Kal­ten­brun­ner 1978 die Her­aus­bil­dung jener dama­li­gen Eltern­ge­nera­ti­on als „papier­ne Exis­ten­zen”, als „Moment­per­sön­lich­kei­ten” kon­sta­tiert. Jene Groß­el­tern, die heu­te kei­ne sein wol­len, haben weit­hin schon als Eltern ver­sagt. Der Auf­ga­be, ihre Kin­der „erfolg­reich auf das ihnen bevor­ste­hen­de Leben wis­sens­mä­ßig und mora­lisch vor­zu­be­rei­ten”, haben sie sich ent­zo­gen, indem sie an „die Stel­le elter­li­chen Ein­flus­ses zweck­haft orga­ni­sier­te ‚Sozialisations’-Einrichtungen, den Umgang mit Gleich­alt­ri­gen und die anonym-dif­fu­se Wir­kung der Mas­sen­me­di­en” haben tre­ten las­sen. Dies alles habe (wir schrei­ben 1978!) mehr als Stör­fak­tor emp­fun­den wer­den; und neue kön­nen sich unter die­sen Bedin­gun­gen kaum bil­den. … Die Chan­cen, im Lau­fe des Äler­wer­dens auto­ma­tisch auch wei­ser zu wer­den, sind rück­läu­fig.” Kal­ten­brun­ner zitiert bestä­ti­gend Alex­an­der und Mar­ga­re­te Mit­scher­lich, die ver­mu­ten, daß Väter ernst­haf­ten Gesprä­chen auch des­halb auwi­chen, „weil sich in ihnen ein star­ker Wunsch regt, im Kind, im Sohn, einen Freund zu haben, der ihnen, den Vätern, in ihrer eige­nen Rich­tungs­lo­sig­keit Hil­fe bie­tet”. Das betriebs­wirt­schaft­li­che Stich­wort der „fla­chen Hier­ar­chien” ist heu­te länst end­gül­tig in der fami­liä­ren Sphä­re ange­kom­men. Das äußerst sich sel­ten in soli­da­ri­schem, zukunfts­wei­sen­dem Mit­ein­an­der, son­dern bleibt im Nor­mal­fall auf der Kon­su­men­ten­ebe­ne ste­cken: ein gemein­sa­mer Botox-to-go-Ter­min beim Kos­me­tik­in­sti­tut für die Best Age­rin mit der Schwie­ger­toch­ter („Gönn ich mir und spen­dier ich dir”) – war­um nicht?

Gewiß, Gene­ra­tio­nen­kon­flik­te sowie die Unord­nung von Alt und Jung gehö­ren seit Jahr­tau­sen­den zum Wesen des Men­schen. Schon Pla­ton nann­te es ein Kenn­zei­chen des Ver­falls, „wenn ein Vater sich gewähnt, dem Kna­ben ähn­lich zu wer­den. … Der Leh­rer zit­tert dann in einen sol­chen Zustand vor sei­nen Schü­lern und schmei­chelt ihnen. … Die Alten set­zen sich unter die Jugend und suchen es ihr gleich­zu­tun an Fül­le des Wit­zes und lus­ti­gen Ein­fäl­len, damit es nicht den Anschein erwe­cke, als sei­en sie mürrisch.”
Nun ist gene­rell wenig von Kin­dern zu hal­ten, die den Grund für das eige­ne Ver­sa­gen beharr­lich in den Ver­säum­nis­sen und Feh­lern ihrer Eltern suchen. Was aber, wenn die Flau­te der Ver­ant­wort­li­chen eine kol­lek­ti­ve ist, wenn sie anhält und ihr Soll ver­erbt hat: per unver­dien­ter Besitz­stands­wah­rung, per päd­ago­gi­schem Bank­rott, per ästhe­ti­scher Zumu­tung. Im ärgs­ten Fall bil­det der Best Ager einen Typen ab, den man gern Zom­bie hei­ßen wür­de, lie­ße man sich damit nicht all­zu­sehr auf das eben­dort vor­ge­fun­de­ne Niveau herab:

Ehe­paar in der öffent­li­chen Sau­na, er 59 (es ging neben­bei um die Aus­rich­tung der Par­ty zum 60.), sie viel­leicht etwas dar­un­ter. Bei­de Beam­te, er früh­pen­sio­niert, sie kurz davor. Er ganz offen­sicht­lich am Schi­man­ski-Vor­bild sozia­li­siert, Ring im Ohr, eine Men­ge Fäka­les laut­stark im Mund, sie: pink­ge­strähnt und rös­chen­tä­to­wiert. Zwi­schen den Sau­na­gän­gen tip­pen bei­de SMS und berich­ten sich von der statt­ge­fun­de­nen Kom­mu­ni­ka­ti­on. Offen­kun­dig geht es um die Toch­ter, die stu­diert – was sonst? – und um Hil­fe­leis­tung für einen Umzug ersucht. Gesprächs­fet­zen: „Nee, da kann­se bet­teln oder schimp­fen wie­se will, das ist ihr Bier.” „Wenn wir für vier Mona­te auf der Insel sind, dann sind wir für vier Mona­te auf der Insel! Als kos­ten­lo­ser Möbel­pa­cker zu gehen, das hab ich nicht mehr nötig!” „Nee, eben, haben wir nicht. Das ist unser Leben, das mus­se begrei­fen. Da las­sen wir uns nicht unter Druck set­zen.” Reih­um Nicken der umsit­zen­den Gleich­alt­ri­gen: Ja, auch wir hat­ten Schaff genug! Er, von der Woge der Zustim­mung getra­gen, den­noch etwas über­ra­schend her­aus­plat­zend: „Mei­ne Alte läßt sich auf Mal­le näm­lich straf­fen. Kost’ die Hälf­te von hier”. Kur­ze Stil­le, ver­dutz­te Gesich­ter, dann doch wie­der zustim­men­des Gemur­mel. Ist doch nichts dabei. Wie­so auch.

Extre­mes Bei­spiel sitt­li­cher Ver­ro­hung, kaum ver­all­ge­mei­ner­bar? Mit­nich­ten. Den Jar­gon der Bild mit ent­spre­chen­der The­men­kon­zen­tra­ti­on pflegt nicht mehr nur die Schicht der Hilfs­ar­bei­ter. Der Plöbel hat längst Ein­zug gehal­ten auf Pos­ten, die er maxi­mal ver­wal­tet, doch sel­ten aus­füllt, anschlie­ßen­des Senio­ren­stu­di­um kei­nes­wegs aus­ge­schlos­sen. Die Demo­kra­ti­sie­rung der Bil­dung, der Mas­sen­tou­ris­mus zu den Pyra­mi­den oder nach Del­phi, das popu­lä­re Inter­es­se an Gauß und Hum­boldt (durch Kehl­mann) oder an Häre­ti­kern (durch Dan Brown) besagt genau­so­we­nig wie die Teil­nah­me der Wohn­zim­mer­run­de am TV-Wissenspuiz.
Ein Narr, der den Alten das Altern vor­hiel­te, den Ver­fall, die Kraft­lo­sig­keit, auch das Häß­li­che, das mit sol­chem Pro­zeß natür­li­cher­wei­se ein­her­geht. Das Ärger­nis ist die umgrei­fen­de Wür­de­lo­sig­keit des Vor­gangs. Über Lot­ti Huber der­einst und Prinz Fer­fried heu­te zer­rei­ßen sie sich den Mund, sub­ku­tan wir­ken bei­de als Pro­to­ty­pen. Der Ver­sand­buch­händ­ler Ama­zon lis­tet deut­lich mehr Pro­duk­te zum The­men­be­reich Sex im Alter (meist mit dem Wort „Tabu” im Titel) als etwa zum Stich­wort Fami­li­en­grün­dung auf.

Apro­pos sexu­el­le Liber­ti­na­ge: Sage kei­ner, die sei uns allein durch die 68er, gewis­ser­ma­ßen die S‑Klasse unter den Best Agers, mund­ge­recht geschnit­ten wor­den. Die Druch­schnitts-Femi­nis­tin unter den heu­te 55–70jährigen hüte­te ihren Leib ver­mut­lich sogar sorg­sa­mer als die Mas­se der Tan­te Gre­tes und Hil­de­gards, die der­einst zwar nicht laut­hals „Mein Buch gehört mir” pro­kla­mier­ten, aber die Pil­le als Glücks­fall kon­su­mier­ten und Abtrei­bung als Ernst­fall prak­ti­zier­ten. Sexu­el­le Auf­klä­rung wur­de den zwi­schen 1960 und 1980 Gebo­re­nen über die elter­lich offi­zi­ell geäch­te­te Bra­vo ver­mit­telt oder mit der Pil­len- oder Zäpf­chen­pa­ckung, die eines Tages ohne Wor­te auf dem Jugend­zim­mer­tisch – Preß­span mit Buchenach­bil­dung – lag, voll­zo­gen. Und in den Swin­ger­clubs zum fro­hen Pär­chen­tausch, die seit den frü­hen Neun­zi­gern wie Pil­ze aus dem Boden schos­sen, ver­gnüg­ten sich mit­nich­ten zuvör­derst die 89er oder die kok­sen­de New Eco­no­my, son­dern die heu­ti­gen Best Agers, die damals noch kein Via­gra brauchten.

Ger­hard P. läßt sich von Freun­den Ger­ri nen­nen und, das ist ihm wich­tig, Gary schrei­ben. Jahr­gang 1941, ehe­mals Büro­an­ge­stell­ter, seit sechs Jah­ren im Vor­ru­he­stand. „Wohl­ver­dient” sagt er, und, zwin­kernd, „Unru­he­stand”. P. hat wech­seln­de Lebens­ge­fähr­tin­nen, mit sei­ner Ex führt er einen zeh­ren­den Rechts­streit, mit sei­nen bei­den Söh­nen hat er sich aus ande­ren Grün­den über­wor­fen, zur Toch­ter und dem Enkel in der benach­bar­ten Groß­stadt hält er losen Kon­takt, gele­gent­li­che Tele­fo­na­te, zwei, drei Besu­che pro Jahr. Sei­ne Pas­si­on seit einem knap­pen Jahr­zeht gilt dem Inline-Ska­ten, das Hob­by teilt er mit der aktu­el­len „Part­ne­rin”. Hand in Hand glei­ten sie all­abend­lich durch den Ort. Zwei dabei zuge­zo­ge­ne Ver­let­zun­gen haben ihn im letz­ten Jahr bezüg­lich sei­ner Fit­neß deut­lich zurück­ge­wor­fen – ärger­li­che Kran­ken­haus­auf­ent­hal­te mit klei­nen OPs – doch nach einer Reha­bi­li­ta­ti­ons­kur geht’s nun wie­der. P. duzt mich, er ist dop­pelt so alt wie ich, viel­leicht setzt ihn das in das Recht der inti­men Anre­de. Wenn das hip­pe Pär­chen mir und den Kin­dern begeg­net, äußern bei­de regel­mä­ßig, sie fan­den es voll cool, wie „du das so managst mit den Kids.” Ich läche­le zurück, das ist das ein­fachs­te. Aus der Nach­bar­schaft ist bekannt, daß P. Miß­ver­ständ­nis­se schnell vor Gericht bringt.

Schirr­ma­cher spricht von einem evo­lu­tio­nä­ren Debüt; nie zuvor habe es irgend­wo mehr Alte als Jun­ge gege­ben; habe, wie heu­te, der Anteil der bio­lo­gisch nicht mehr Repro­duk­ti­ons­fä­hi­gen den der Frucht­ba­ren über­wo­gen. Ver­läßt man den engen Kreis des homo sapi­ens, so hat die Rela­ti­on Tra­di­ti­on in der Natur­welt. Hier domi­niert die Anzahl der para­si­tä­ren Arten deut­lich die der nicht­pa­ra­si­tä­ren Leis­tungs­brin­ger. Hin­ter Zah­len, wonach in den alten Bun­des­län­dern nur jeder fünf­te, in den neu­en gar bloß jeder zwan­zigs­te bis zu sei­nem fünf­und­sech­zigs­ten Lebens­jahr arbei­tet, mögen bis­wei­len trau­ri­ge Schick­sa­le ste­hen. Nichts­des­to­trotz bezie­hen die 65–69jährigen in ihrer Gesamt­heit drei­ßig Pro­zent mehr Ein­kom­men als ihre Alters­ge­nos­sen vor zwan­zig Jah­ren, wäh­rend der Groß­teil der unter 39jährigen mit einem ver­gleichs­wei­se gesun­ke­nen Ein­kom­men leben muß. Im Gegen­zug lei­det – nur ein Bei­spiel! – ein knap­pes Vier­tel der Best Ager neben unge­zähl­ten ande­ren so bedau­er­lich wie kost­spie­li­gen Krank­hei­ten an alters­be­ding­ter Maku­la-Dege­ne­ra­ti­on. Eine Seh­schwä­che, mit der Alte seit je leben und die im Grei­sen­al­ter zur Erblin­dung füh­ren kann. Ein neu­es, hoch­wirk­sa­mes Medi­ka­ment, das gera­de sei­ner Kas­sen­zu­las­sung harrt, wür­de einen fünf­stel­li­gen Betrag pro Jahr und Pati­ent ver­schlin­gen. Allein damit wäre das Gesund­heits­sys­tem rela­tiv schlag­ar­tig rui­niert. Doch wer kön­ne eine Vor­ent­hal­tung jener Arz­nei ethisch ver­ant­wor­ten, wo bereits die Fra­ge nach der Oppor­tu­ni­tät von künst­li­chen Hüft­ge­len­ken vor Jah­ren die Best Ager auf die Bar­ri­ka­den ihrer Selbst­ge­rech­tig­keit trieb? Das Sinn­bild der „Droh­ne” speist sich aus zwei­er­lei: der Unpro­duk­ti­vi­tät und der ange­maß­ten Privilegiertheit.

Daß sich zum Lebens­en­de häu­fig gleich­sam ein Kreis zu schlie­ßen scheint, jenes Bild vom Greis, der in sei­ner Zahn­lo­sig­keit und Pfle­ge­be­dürf­tig­keit einem Säug­ling gleicht, ist seit jeher geläu­fig. Neu ist die, lebens­zeit­lich eben­falls spie­gel­bild­li­che, Annä­he­rung des Best Agers an den Teen­ager. Flau­sen und Marot­ten einer Umbruchs­pha­se, den maßstab­lo­sen Luxus der Nichts­nut­zig­keit gön­nen sich bei­de Lebens­al­ter. Augen­fäl­lig wird dies im Sym­bol der Base­cap: die wird von der Erwerbs­ge­ne­ra­ti­on kaum getra­gen, wäh­rend sie für Her­an­wach­sen­de und den klas­si­schen Früh­rent­ner glei­cher­ma­ßen als belieb­tes­te Kofpbe­de­ckung gilt. Die pue­ri­le Harm­lo­sig­keit sol­cher Indi­vi­du­en wächst sich nur durch ihre Mas­sen­haf­tig­keit zur Bedro­hung aus. „Die Eltern fres­sen ihre Kin­der”, pro­gnos­ti­zier­te schon vor Jah­ren der Trend­for­scher Peter Wip­pe­r­amnn. Was also tun? Man muß unwill­kür­lich an Bru­no den­ken, jenes räu­be­ri­sche Gruß­wild, daß im Früh­som­mer durch Medi­en und alpi­ne Wäl­der geis­ter­te. Bären sei­en unge­fähr­lich, hieß es, aber gegen­über Pro­blem­bä­ren sei­en Maß­nah­men zu ergrei­fen. man erwog also, ihn in ein Reser­vat zu sper­ren. Daß hie­ße, ihn kon­trol­liert sich selbst zu über­las­sen. Ande­re for­der­ten die ulti­ma­ti­ve Kon­se­quenz. Der Kul­tur­his­to­ri­ker Wolf­gang Schi­vel­busch äuß­ter­te ein­mal ähn­li­ches, anthro­po­morph gewen­det: „Denk­bar ist, daß der Appell zum süßen und ehren­vol­len Ster­ben ein­mal anstatt mili­tä­risch an die Jun­gen geron­to­lo­gisch an die Alten gerich­tet – und sofern genü­gend sozia­ler und mora­li­scher Druck vor­han­den ist – ähn­lich kon­for­mis­tisch befolgt wer­den könn­te wie 1914.”

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

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