Inwendig wuchernder Barock: Ulrich Seidls “Im Keller”

Ulrich Seidl hat wieder zugeschlagen: nach knapp einem Jahrzehnt hat er sich wieder dem Dokumentarfilm zugewandt.  "Im Keller" begibt sich auf Spurensuche ins unterirdische Österreich, wobei Seidl wie gewohnt einige besonders exquisit gammelnde Trüffeln aufgespürt hat. Kaum angelaufen, hat der Film bereits einen kleineren Skandal ausgelöst.

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

Unter den por­trai­tier­ten Kel­ler­as­seln fin­det sich näm­lich auch eine Run­de fröh­li­cher Her­ren im Trach­ten­hemd, die sich in einem mit NS-Devo­tio­na­li­en voll­ge­stopf­ten Hob­by­füh­rer­bun­ker mit Bier und Gesang ver­gnügt. Wie sich her­aus­stell­te, sind zwei davon ÖVP-Mit­glie­der und Gemein­de­rä­te in einem bur­gen­län­di­schen Kaff – bis vor kur­zem jeden­falls, denn sie schei­nen inzwi­schen von ihren Pos­ten zurück­ge­tre­ten zu sein.

Es ehrt Ulrich Seidl, daß er sich zu der Cau­sa dees­ka­lie­rend geäu­ßert hat und den Besit­zer des Kel­lers zumin­dest vor dem Ver­dacht der “Wie­der­be­tä­ti­gung” – immer­hin eine Straf­tat – in Schutz nimmt:

„Die Gemein­de­rä­te hät­ten wis­sen müs­sen was sie tun. Das sind ja erwach­se­ne Men­schen mit Ver­ant­wor­tung. Das ande­re was den Herrn Ochs (Besit­zer des Kel­lers, Anm.) betrifft, gibt es immer ver­schie­de­ne Sei­ten. Mir gefällt es über­haupt nicht, wenn er jetzt so dar­ge­stellt wird, als wür­de er Wie­der­be­tä­ti­gung betrei­ben. Das tut er nicht. Er ver­harm­lost die Ver­gan­gen­heit. Das ist einer von vie­len. Das woll­te ich zei­gen. Wenn ihm jetzt Scha­den zuge­fügt wird, ist das nicht in mei­ner Absicht gele­gen“, sag­te Seidl gegen­über dem ORF Wien.

„Natür­lich war ich auch erstaunt, so etwas sieht man ja nicht jeden Tag. Für mich war der Ansatz für den Film, ja das gibt es halt und man fin­det nichts dabei. Aber der Herr Ochs und sei­ne Freun­de sind nicht die ein­zi­gen in Öster­reich. Es ent­spricht schon etwas, was es in den Köp­fen bei uns immer wie­der gibt, auch wenn die ande­ren kei­nen Nazi-Kel­ler haben.“

Man wun­dert sich den­noch, was sich die­se Kamer­nos­sen dabei gedacht haben, als sie sich Seidl der­art hem­mungs­los prä­sen­tiert haben. Daß ein sol­cher Auf­tritt zu erheb­li­chem Ärger füh­ren wür­de, hät­ten sie sich an den Fin­gern abzäh­len kön­nen. Über­haupt ist dies eines der gro­ßen Werk­ge­heim­nis­se des Regis­seurs: kaum jemand ver­mag es, sei­ne Prot­ago­nis­ten der­art effek­tiv zur Selbst­ent­blö­ßung zu ver­füh­ren wie er. Manch­mal fra­ge ich mich, ob er dabei eine Art von Hyp­no­se benutzt. Jeden­falls bekommt er immer wie­der Din­ge zu sehen, die ande­ren ver­bor­gen bleiben.

Ich gehe ein­mal hin und ler­ne ihn ken­nen und im Lau­fe der Zeit wird ein bestimm­tes Ver­trau­ens­ver­hält­nis auf­ge­baut. Wenn er dann bereit ist, das her­zu­zei­gen und auch bereit ist zu spre­chen, dann wer­de ich das irgend­wann ein­mal dre­hen. Aber es ist ja nichts mit ver­steck­ter Kame­ra gedreht. Es ist kei­ne Überrumpelung.

In einem lesens­wer­ten aktu­el­len Inter­view mit Vice macht Seidl deut­lich, daß es ihm kei­nes­falls um Ankla­gen oder Zur­schau­stel­lun­gen geht:

Was sich für mich wie ein Motiv durch den Film gezo­gen hat, ist, dass die Moti­ve der Men­schen im Dun­keln bleiben.

Es wäre mir viel zu ein­fach, zu erklä­ren, war­um jemand ein bestimm­tes Pro­blem hat. Die­ses Psy­cho­lo­gi­sie­ren liegt mir über­haupt nicht. Men­schen sind ja weit­aus viel­fäl­ti­ger und ambi­va­len­ter. Und für den Zuschau­er ist es auch befrie­di­gen­der, wenn die Geschich­ten auf ihn selbst zutref­fen. Das Span­nen­de am Kino ist ja, wenn man dar­in sei­ne eige­nen Abgrün­de ent­deckt. Kei­ner von uns ist son­der­lich weit davon ent­fernt, auch mal ras­sis­tisch oder sexis­tisch zu sein—all das steckt in uns, wir alle füh­ren auch unse­re Dop­pel­le­ben im Kel­ler. Dar­um geht es mir. Es geht nicht dar­um, jeman­den abzu­ur­tei­len. Ich will Men­schen mit ihren Schwie­rig­kei­ten zei­gen, mit ihren Sehn­süch­ten und ihrer Einsamkeit.

Genau die­ser wert­freie Zugang wie gegen­über Herrn Ochs wird von man­chen kri­tisch gese­hen, wenn es ums Poli­ti­sche geht. Immer­hin zei­gen Sie hier einen alten Nazi als ambi­va­len­ten Men­schen, nicht als Monster.

Das ist genau das Inter­es­san­te dar­an. Ein Film ist ja nicht dazu da, Leu­te zu über­füh­ren oder sie abzu­ur­tei­len. Herr Ochs ist außer­dem kein Neo­na­zi, der begeht in dem Sinn kei­ne Ver­bre­chen. Was mich dar­an inter­es­siert, ist die Nor­ma­li­tät, mit der das alles pas­siert und in sei­nem Umfeld all­ge­mein bekannt ist. Das fin­de ich viel diffiziler—und das ist genau das, was ich möch­te. Auch das ist eine von vie­len öster­rei­chi­schen Rea­li­tä­ten. Und es ist gera­de­zu eine öster­rei­chi­sche Qua­li­tät, dass alle im Ort davon wis­sen und die Musi­ker trotz­dem ein­fach so zu ihm kom­men und so wei­ter. Das alles sagt ja etwas über unse­re Gesell­schaft. Und noch was: Der Herr Ochs ist ein sehr sym­pa­thi­scher Mensch. Das ist eben so. Das macht es auch so schwierig—es ist ja viel ein­fa­cher, wenn man jeman­dem begeg­net und sagt „Na, das ist doch ein fie­ses Schwein!“ Da kann man leicht mit dem Fin­ger zei­gen. Aber die­se Nor­ma­li­tät und Sym­pa­thie neben der gan­zen Ver­gan­gen­heits­ver­herr­li­chung das ist schon was anderes.

Ich habe Ulrich Seidl auf die­ser Sei­te bereits aus­gie­big zu wür­di­gen ver­sucht (Ellen Kositza ist weni­ger begeis­tert). Ange­sichts des Trai­lers zu sei­nem neu­en Film gera­te ich aller­dings wie­der ganz aus dem Häus­chen, und rin­ge erneut nach Wor­ten, um die zwie­späl­ti­ge Fas­zi­na­ti­on von Seidls Werk zu beschrei­ben. Für mich ist er vor allem ein Chro­nist der Deka­denz, des­sen Fil­me (“Sit­ten­ge­mäl­de” nann­te er sie ein­mal) gna­den­los die mor­schen Stel­len zei­gen, an denen die öster­rei­chi­sche Gesell­schaft verfault.

Und das Pro­blem scheint nicht nur an ein paar fau­len Früch­ten und sump­fi­gen Rand­ge­bie­ten zu lie­gen, die mit dem Rest des natio­na­len Schre­ber­gar­tens nichts zu tun haben – dann wäre es ja ein­fach, Seidls Fil­me als voy­eu­ris­ti­sche Freak­shows und “Sozi­al­por­nos” bei­sei­te zu schie­ben. Aber wenn ich sie sehe, scheint es mir immer, als ob mit dem Laden (oder viel­leicht gar mit der Schöp­fung selbst) etwa Fun­da­men­ta­les schief­ge­gan­gen sei, trotz aller gewiß selek­ti­ven Über­spitzt­heit der Dar­stel­lung. Tat­säch­lich scheut Seidl nicht davor zurück, wie sein eins­ti­ger Men­tor Wer­ner Her­zog, auch in sei­ne – ohne­hin spiel­film­ar­tig insze­nier­ten – Doku­men­tar­fil­me fik­ti­ve Ele­men­te einzuflechten.

In die aus­tria­ki­schen Kel­ler zu stei­gen und sich dort umzu­se­hen, war jeden­falls gewiß eine nahe­lie­gen­de Ent­schei­dung für Seidl. Es gibt viel­leicht soet­was wie eine spe­zi­fisch öster­rei­chi­sche Form der Neu­ro­se, die sich in einer Art von inwen­dig wuchern­dem Barock äußert. Canet­tis “Die Blen­dung” oder die meis­ten von Tho­mas Bern­hards Roma­nen han­deln davon, und auch Seidl ist ihr seit nun­mehr drei Jahr­zehn­ten auf der Spur.

Auch Dop­pel­le­ben haben den Ruf einer sehr öster­rei­chi­schen Spe­zia­li­tät, und zumeist sind sie mit dem Phä­no­men der “inwen­di­gen Wuche­rung” eng ver­bun­den. Der Fall Josef Fritzl fällt als beson­ders extre­mes Bei­spiel in die­se Kate­go­rie. Böse Men­schen, die ande­re jah­re­lang ein­sper­ren, ver­skla­ven, miß­han­deln und miß­brauchen, gibt es auf aller Welt. Aller­dings ist mir kein Fall bekannt, in dem jemand mit einer solch bizar­ren Mischung aus Erfin­dungs­reich­tum, Behar­rungs­ver­mö­gen, Rea­li­täts­ver­leug­nung und “gemüt­li­cher” Spieß­bür­ger­lich­keit vor­ge­gan­gen wäre wie Fritzl. Das Schick­sal sei­ner in der Unter­welt des eige­nen Hau­ses inzes­tuös gezeug­ten, sie­ben­köp­fi­gen “Fami­lie” ist bei­na­he ein Grund, auf der Stel­le Athe­ist zu werden.

Die dämo­ni­schen Sei­ten des Öster­rei­cher­tums, die unge­kehr­ten Ecken, abge­schlos­se­nen Zim­mer und unte­ren Stock­wer­ke, sind in der Lite­ra­tur oft behan­delt wor­den. Aber mir scheint, als ob Seidl sie in einem Sta­di­um zeigt, wo sie sich dank Wohl­stands­ver­fet­tung, Sozi­al­de­mo­kra­ti­sie­rung und all­ge­mein akzep­tier­ter mora­li­scher Ent­hem­mung zu einem beson­ders häß­li­chen Anblick ver­schärft haben.

Seidl wäre aber nicht Seidl, wenn all dies nicht auch eine Kehr­sei­te hät­te. In der Kino­vor­schau kann man eine Ansamm­lung zumeist eher erbärm­lich bis skur­ril wir­ken­der Gestal­ten sehen, von denen sich jeder ein­zel­ne im Kel­ler eine Art Kult­ort für pri­va­te Obses­sio­nen geschaf­fen hat: die ein­gangs erwähn­ten Her­ren haben sich’s im bier­se­li­gen Nazi­mo­der kusche­lig gemacht, ein ande­rer nutzt sei­nen Kel­ler offen­bar als Schau­platz für sado­ma­so­chis­ti­sche Ernied­ri­gun­gen, und wie­der ande­re haben sich mit einer absurd aus­ufern­den Samm­lung von Jagd­tro­phä­en umzin­gelt. Man sieht einen Waf­fen­nar­ren, der vir­tu­el­le Schur­ken erschießt und einen schmal­brüs­ti­gen Gesel­len in Unter­ho­sen, des­sen gro­ßer Stolz sei­ne Fähig­keit ist, wie ein Ele­phant zu eja­ku­lie­ren. Man­che von ihnen wir­ken stumpf, dumm, klein­ka­riert und grob.

Seidl betont immer, daß er nie­mals wer­tet, was er zeigt. Ich als Zuschau­er kann nicht anders, und ver­heh­le nicht, daß sei­ne Fil­me mei­ne mis­an­thro­pi­sche Ader gehö­rig näh­ren. Zugleich rüh­ren sie mich auf eine unnach­ahm­li­che und schwer zu erklä­ren­de Wei­se an.

End­gül­tig umge­bla­sen hat mich das Bild des Man­nes am Ende des Trai­lers, der vor einem lang­ge­streck­ten Ter­ra­ri­um sitzt, und beob­ach­tet, wie sei­ne hell­grü­ne Rie­sen­schlan­ge einen dicken wei­ßen Hams­ter fixiert, den sie wohl bald ver­spei­sen wird. Tableaus wie die­se gren­zen ans Sur­rea­le; vor allem aber stin­ken sie gera­de­zu nach tie­fer Ver­zweif­lung und Trau­rig­keit. Man­che die­ser Men­schen wir­ken wie tote See­len, deren Iden­ti­tät nur mehr aus den Gegen­stän­den und Fas­sa­den besteht, die sie um sich errich­tet haben.

Ande­re haben Gesich­ter, die ver­lo­re­nen Schlach­ten ähneln: einen letz­ten Rest Selbst­wert­ge­fühl, einen letz­ten Rest von Pri­vat­he­ro­is­mus haben sie sich noch bewah­ren kön­nen, irgend­ei­ne Restil­lu­si­on der eige­nen Beson­der­heit, so lächer­lich und absto­ßend sie auf ande­re auch wir­ken mag. Ich glau­be nicht, daß Seidl die­se Men­schen ver­ach­tet (ein alter Dis­put zwi­schen sei­nen Geg­nern und Befür­wor­tern), son­dern eher noch, daß er in ihnen etwas sieht, womit er sich selbst viel­leicht stark identifiziert.

Im Inter­view mit Vice betont Seidl übri­gens, daß es ihm kei­nes­wegs um aus­schließ­lich öster­rei­chi­sche Befind­lich­kei­ten geht:

Es geht immer um etwas Zwi­schen­mensch­li­ches und Sozia­les und die Fra­ge nach der Lie­be und dem Tod. Exis­ten­zi­el­le Fra­gen. In die­se Rich­tung sind mei­ne Fil­me ja auch nicht nur natio­nal zu verstehen—Sugarmamas wie in Para­dies: Lie­be gibt’s ja in der gan­zen west­li­chen Welt, nicht nur in Öster­reich. Das­sel­be gilt für Leu­te, die ein Dop­pel­le­ben füh­ren. Der Kel­ler ist auch ein Sym­bol für ein Dop­pel­le­ben, das es über­all auf der Welt gibt. Wenn man Öster­reich weg­lässt, sieht man, dass es sich um all­ge­mei­ne mensch­li­che Befind­lich­kei­ten han­delt. Macht und Gewalt inner­halb von Bezie­hun­gen exis­tie­ren über­all und in allen Milieus.

Wie gesagt, gese­hen habe ich den Film noch nicht – dem­nächst viel­leicht mehr.

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

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Kommentare (24)

Nihil

20. September 2014 16:51

Wunderbarer Artikel. Danke!

PS: Ich bin Seidl-"Befürworter" (besser: Fanatiker) und trotzdem der Auffassung, dass er die Menschen "verachtet". Obwohl "Verachtung" wohl der falsche Begriff ist. Die Zuneigung des Herren zum Sklaven - ist das Verachtung? ;-)

Ein Fremder aus Elea

20. September 2014 19:24

Die Österreicher sind eben tolerant.

Nichts davon ist schlimm. Für mich spricht aus solchen Bildern ein: "Na, dann mach halt."

In gewisser Weise doch nur katholisch, Beichte und Vergebung, sozusagen, nur unter einander, gesellschaftlich.

Karl

20. September 2014 19:50

"Das Spannende am Kino ist ja, wenn man darin seine eigenen Abgründe entdeckt...."

Spannend wird es erst, wenn das Publikum die Abgründe hinter der täglich erfundenen "Wirklichkeit" entdeckt!

Ein gebürtiger Hesse

20. September 2014 20:12

Ich weiß nicht mehr, welcher Sezessionist in welchem Heft einmal schrieb, man müsse einer immer weiterführenden Entzauberung der Welt entgegentreten. Doch fiel mir der herrliche Ausspruch wieder ein, als ich heute den Trailer zu diesem Film sah. Und ich dachte: es gilt ebenso, der immer generalisierteren Entwürdigung von Menschen durch den Kamerablick gegenüber Widerstand zu leisten. Denn eine solche sah ich in diesen cleanen und abgezirkelten Digitalfilmbildern am Werk. Der Blick des Regisseurs ist viel zu neunmalklug, zu gemütlos, um die Leuten, die er filmt, nicht bloßzustellen. Und genau das dürfte nicht passieren - gerade nicht bei dieser heiklen Thematik. Der frühere Filmkritiker und Regisseur Jacques Rivette schrieb einmal: "Es gibt Dinge, die man nur scheu und zitternd angehen darf; der Tod gehört zweifellos dazu [nicht anders, möchte ich ergänzen, als etwas so intimes wie Sexualität], und wie sollte man sich, wenn man etwas so Geheimnisvolles filmt, nicht wie ein Schwindler fühlen? Besser wäre in jedem Fall, sich diese Frage zu stellen und sie auf irgendeine Weise in das, was man filmt, einzubringen. Zweifel jedoch sind etwas, das [hier nennt er den Regisseur, zu dessen Film er schreibt] und seinesgleichen am meisten abgeht." Etwas Entsprechendes nahm ich in dem Trailer wahr - der ganze Film mag vielleicht noch anders wirken.

M.L.: Ein guter Einwand, der aber meinem Empfinden nach Seidl nicht trifft. Die Menschen vor der Kamera entblößen sich zwar gehörig, aber die Kamera selbst steht immer in kühler, meistens statischer Distanz, während die Bildausschnitte zu durchkomponierten Tableaus gefroren sind. Ich habe nicht den Eindruck, daß dies der Blick von jemandem ist, der vorgibt, etwas "durchschaut" zu haben, und ich nehme schon auch eine "Moral" in den Einstellungen wahr, um es mit Rivette zu sagen. Eher verstärken Seidls Bilder noch den Eindruck des Rätselhaften und freilich auch Absurden. Man spürt aber in Seidl-Filmen auch immer wieder die schreiende Abwesenheit der "Verzauberung" - egal kann sie ihm also nicht sein. Das ist wie mit der Würde oder mit Gott...

ene

20. September 2014 21:05

"Kultorte für private Obsessionen" - 1979 hat das Thomas Bernhard in seinem Stück Vor dem Ruhestand schon auf die Bühne gebracht. Nur findet die private Feier von Himmlers Geburtstag hier nicht im Keller, sondern hinter geschlossenen Vorhängen statt. Nicht weniger monströs. Mit Traugott Buhre und Kirsten Dene - unvergeßlich.

Und Ihnen als Leser möchte ich "Turmalin" von Stifter ans Herz legen - bestimmt einer der schönsten und tiefsinnigsten Texte über das Motiv des Kellers - eine Erzählung, in der auch nichts "beantwortet" wird, die aber zwischen dem Abgründigen, Dunklen ("Der Turmalin ist dunkel, und was da erzählt wird, ist sehr dunkel" - was für ein Anfang!) und dem Versöhnlichen doch eine ganz eigene Balance hält.

Karl

20. September 2014 22:06

".....sondern eher noch, daß er in ihnen etwas sieht, womit er sich selbst vielleicht stark identifiziert."

Das Wissen um die Geschichte ist die Quelle unserer Identität. Wir aber leben in einer völlig falschen Abbildung der zeitgeschichtlichen Realität.
Somit natürlich auch Herr Seidl.

Die Geschichte bestimmt aber den Standort in der Gegenwart, liefert Handlungsmassstäbe und Beurteilungshorizonte. Geschichtliche Unwissenheit bedeutet Ohnmacht.

In dieser Ohnmacht vollzieht sich ein tiefgreifender und unverständlicher gesellschaftlicher Wandel, der sich für die überwiegende Mehrheit der Menschen offensichtlich zum grossen Nachteil auswächst.

Das diese Mehrheit zusammen mit Herrn Seidl im Keller sitzt, sollte daher nicht verwundern.

Ellen Kositza

20. September 2014 22:14

Martin, Du nennst es „Werkgeheimnisse des Regisseurs“ und bewunderst seine „Art Hypnose“, die Leute dazu verführt, etwas von sich preiszugeben. Für mich klingt es eher so, als nutze Seidl die Naivität dieser Leute aus, die vermutlich bar jeder Medienerfahrung sind. Er baut, wie er ja selbst sagt, erst ein Vertrauensverhältnis auf, damit bringt er sie dazu, sich ihm zu öffnen - eben, ihm zu vertrauen. Und warum? Um ein Freund auf Lebenszeit zu bleiben? Oder um deren Spleens für ein großes Publikum kommerziell nutzbar zu machen? Eher letzteres, schätze ich. Glaub kaum, daß sich Seidl heut noch als Vertrauter dieser armen Seelen geriert. Er wird ihnen nicht gesagt haben (jetzt sagt er, er habe es „vorausgesetzt“): „Aber Sie wissen schon, was sie tun? Sie sind doch verantwortungsbewußte Menschen, gell? Sie wissen schon, daß Sie die Vergangenheit verharmlosen?“
Nein, er wird Ihnen gesagt haben, daß er diese Kellersammlungen total spannend und irre faszinierend findet. Und die werden sich von diesem Interesse gebauchpinselt gefühlt haben. Das kann man als Schwäche auslegen, es ist aber menschlich. Ich kenne ein paar Leute, die ähnlichen Fernsehleuten auf den Leim gegangen sind und sich hernach furchtbar schämten. Einmal war es eine sehr konservative Frau, die als solche öffentlich (Stichwort Montagsdemonstrationen) in Erscheinung getreten war. Die TV-Leute waren ein ganzen Tag bei ihr, ließen sich bewirten und waren superfreundlich, äußerten extremes Interesse, fragten intensiv nach und bekundeten, sie fänden ihr Tun ganz außerordentlich und mutig. Gezeigt wurde die Frau P. dann fast ausschließlich beim Bügeln, hämischer Unterton: Frau P. lebt für ihren Haushalt - und für Deutschland usw.
Anderer Fall: eine Freundin war mit deren bester Freundin in Mexiko. Dort wurde die andere bestialisch ermordet. Meine Freundin trat in einem RTL-Report auf, es war ein schrecklicher Sensationsbericht. Warum sie das getan hat? Ihr war es hinterher sehr peinlich. Aber die Fernsehleute seien so emphatisch, so rücksichtsvoll, so beinah mit psychotherapeutischen Gestus und Einfühlungsvermögen auf sie zugetreten, daß sie am Ende geglaubt habe, es sei einfach außerordentlich wichtig und der Aufklärung dienlich, daß sie „ihre Geschichte“ erzähle. Vielleicht kann nur einer - wie Du? -, der solche Ver- oder Vorführungen schon mal selbst erlebt hat, sich die „Konsequenzen an den Fingern abzählen“.

M.L.: Ich kann mir schwer vorstellen, daß einer so weltfremd und medienahnungslos ist, daß er nicht mit Ärger rechnet, wenn er sich beim Feiern unterm Führerbild filmen läßt, zumal wenn es jemand ist, der in der Öffentlichkeit steht, mit Partei- und Gemeindearbeiterfahrung usw. ... und die anderen Teilnehmer an dem Film haben ja keine Probleme bekommen. Schon wunderlich, oder? Darüberhinaus sehe ich hier keinerlei besondere Manipulation durch Kommentar usw. Es ging ja um den Keller, und der sieht eben so aus, und die Leute drinnen sehen so aus, und in dem Dorf ist das offenbar akzeptiert, derart, daß sie Seidl ohne weiteres werkeln ließen. Natürlich hat er das "ausgenützt", und nicht gesagt, Achtung, paßt auf...etc. Aber das ist für mich nicht der Punkt. Ich glaube Seidl schon, wenn er sagt, daß sich die Leute in der Regel nachher nie beschwert hätten, wie sie rüberkommen, und dementsprechend werden sie schon im Vorfeld sorgfältig gecastet - nicht wenige haben dann ja auch wiederholt mit ihm zusammengearbeitet, etwa in den Spielfilmen als Laiendarsteller. Klar baut er das Vertrauensverhältnis zu den Leuten auf, damit er bekommt, was er sucht, aber auch, damit sie verstehen, worum es gehen wird. An sich ist das völlig legitim. Des weiteren denke ich kaum, daß seine Dokumentarfilme (und die Spielfilme, die doch anders entstehen, kann man hier außen vor lassen) ein besonders großes Publikum finden oder kommerziell besondere Renner sind. Es ist aber für mich eben kein "Gag", Seidl hat etwas zu sagen und zeigen, was niemand außer ihm so sagen und zeigen kann. Was für mich hier zählt, ist weniger die Methode als das Ergebnis, und das ist doch qualitativ etwas völlig anderes als die von Dir genannten Beispiele... ich vertraue dem Autor, daß seine Intentionen so sind, wie er sagt.

Tim Toady

20. September 2014 22:56

# Ein Fremder aus Elea

Zu freundlich ... (aber der Film kratzt -vermute ich mal- doch nur an der Oberfläche) ... ich hingegen halte es durchaus für möglich, das meine Landsleute zu den charakterlich verkommensten Subjekten ihrer Gattung gehören ... die Häufigkeit von Figuren wie Hermann Nitsch und Otto Mühl-; bzw. die von Kellerbauern wie Fritzl bzw. Priklopil sprechen doch Bände. Und das die einstmals berüchtigte, frühere Landesnervenheilstätte Gugging zu DER österreichischen Elite-Uni- umgebaut wurde (nun Brutstätte zukünftiger Politiker und Wirtschaftler statt der -hochoffizieller- Irrer) - passt ebenfalls ins Bild. Harmlosere, Damenbart- oder reinweiße Häkelmütze zur Lederhose tragende - zu Vorbildern hochstilisierte Chargen leisten ebenfalls ihren Beitrag zur Verkitschung der Gesellschaft, die eben logische Konsequenz ist ... ja, die Welt mag ein Irrenhaus sein, aber hier ist die Zentrale.

Ellen Kositza

20. September 2014 23:03

Es wird sich keiner beschweren, wie er rüberkommt, weil die Scham überwiegt. Die Scham darüber, jemanden ins stille Kämmerlein gelassen zu haben, weil derjenige gesagt hat: Na, das ist doch superinteressant! Das ist ja einzigartig!

M.L.: Na gut, aber das ist auch Spekulation, und weder Du noch ich wissen, wie es wirklich lief... so kann man sich möglichst gut- oder böswillig alles mögliche vorstellen.

Das vorgeführte Opfer beschwert sich nicht, weil jeder ihm sagen wird: Na, hättste Dir doch denken können!
An "Leichen im Keller" kann sich der Beschauer zwar fröhlich erregen - ich glaube Dir, daß die "Ergebnisse" interessant, vielsagend und regiemäßig hübsch aufbereitet sind - aber ich bezweifle, daß die Methode statthaft ist.

Der Geier gilt weithin als unsympathisches Tier. Dabei ist er nicht mal ein Jäger & "Mörder". Er weidet nur aus, was bereits tot & wehrlos ist. Und doch empfinden wir sein Tun als dreckiger.

M.L.: Wie gesagt, ich sehe kein Aas und daher keinen Geier... und ich glaube nicht, daß sich bei diesen Filmen irgendeiner "fröhlich erregt".

Im übrigen überschätzt Du bestimmt die Gewieftheit von Leuten mit "Gemeindearbeiterfahrung" in einem "burgenländischen Kaff"!

M.L.: Österreich ist ein Dorf, kein Kaff kann so isoliert sein, daß sich dort nicht herumgesprochen hat, daß unterm Führerbild feiern in der Öffentlichkeit ein No-Go ist...

Ein gebürtiger Hesse

20. September 2014 23:16

"Eher verstärken Seidls Bilder noch den Eindruck des Rätselhaften und freilich auch Absurden. Man spürt aber in Seidl-Filmen auch immer wieder die schreiende Abwesenheit der „Verzauberung“ ..."

Schön, daß Sie das hinzufügen, lieber Martin Lichtmesz. Wenn die Filme es schaffen, solche Abwesenheiten - also etwas, das da sein sollte, es aber nicht ist - zu spüren zu geben (was ich nicht weiß - bislang habe ich nichts von Seidl gesehen), dann schaffen sie einiges. Dann geben sie eine Sehnsucht nach dem Richtigen zu spüren.

M.L.: Ich für meinen Teil spür 's halt... und Werner Herzog hat das auch so gesehen.

Nun möchte ich mir den neuen Film gerne anschauen.

M.L.: Enter at your own risk!

Martin Lichtmesz

20. September 2014 23:57

Vice empfiehlt, die landläufige Nazihysterie runterzudrehen, und zwar generell:

https://www.vice.com/alps/read/die-medien-zuhaus-in-osterreichs-untergeschoss-138

Strogoff

21. September 2014 00:01

Wie läuft denn so ein Casting ab? Jemand schreibt wahrscheinlich eine Anzeige in der Kronen-Zeitung, dass er besonders einladende Keller für eine Dokumentation sucht. Diese Menschen mit ihren Kellern bewerben sich dann, man lernt sich kennen und falls alles nett ist wird gedreht.
Die Iniative wird doch auf aktiver Ebene zuerst vom Kellerbesitzer ausgehen.
Warum tut er das?
Naivität, Dummheit, Geltungssucht? Vielleicht sind es auch die Penunsen.
Bei jedem sicher etwas anderes.
Dann wird man verwurstet und, nachdem alle kräftig gelacht haben, auf den Müll geschmissen.
Das Problem liegt beim Betrachter, der mal so und mal so über das gesehene urteilt. Der eine findet es interessant und der andere findet es lächerlich und greift derweil mit den fettigen Fingern in die Chipstüte.

M.L.: Nein, so läuft das bei Seidl nicht. Das ist ein viel komplizierterer Prozeß. Der "Keller"-Film ist über Jahre hinweg entstanden.

Ob man seinen Auftritt gut fand, ob der Regisseur nett war ist letztlich doch uninteressant. Man ist das Stadtgespräch. Vielleicht nicht der Typ mit der Schlange, aber der SM-Keller und so manches andere auch.
Es ist immer ein schmaler Grad zwischen lächerlich machen und authentisch in Szene setzten. Manche Menschen haben seltsamerweise da keine Selbstschutzreaktion.
Ich sehe solche Menschenportraits sehr kritisch.

Erinnert mich ein wenig an diese Ösi-Serie.
https://www.youtube.com/watch?v=RRTxgKLk8Jg
https://www.youtube.com/watch?v=nqrOk0oYopE
Gute Unterhaltung!

M.L.: Siehe Seidls Kommentar apropos Spira in Interview mit Vice.

Bleiben wir gleich in Österreich.
Wie sagte Hermes P. mal so schön das eigentlich die perfekte Foltermethode ist:
1. keine Einkommensquelle zu haben
2.jeder kennt dich
3.jeder hat sich eine Meinung über dich gebildet.

Waldgänger aus Schwaben

21. September 2014 08:01

Man stelle sich vor, der Film wäre in den USA oder in England entstanden.
Ein schulterzuckendes "Amis, halt" oder "ja, diese spleenigen Engländer", wäre die Reaktion.

Es ist Österreich, genauer das Bild, das Vorurteil, das der Zuschauer von diesem Land hat , dass diesem Film etwas Würze gibt.

Aber nur etwas.

Man vergleiche
Schlfplätze der Kinder dieser Welt

ene

21. September 2014 11:40

Ellen Kositza,
die ältere Dame und die Freundin schämten sich wohl vor allem deshalb, weil sie sich haben "mißbrauchen" lassen - mit bester Absicht haben sie sich den Falschen geöffnet, wie sie später erkennen mußten. Das erzeugt Scham. - So, wie wenn sie auf einen Heiratsschwindler hereingefallen wären.
Was man aber bei dieser ganzen Frage "Warum tun die Leute das?" nicht außer Acht lassen sollte, ist der Exibitionismus sehr vieler normaler Leute (was wird nicht alles im Internet veröffentlich?) und auch deren oft ebenso unfaßbare Eitelkeit. Sich selbst darstellen wollen - das würde ich als Motiv keineswegs unterschätzen.

Peter Niemann

21. September 2014 11:44

Ich versuche wo es geht andere Menschen nicht zu kritisieren. Aber hier kann ich nicht anders, bin entruestet: Ulrich Seidl hat Klueften und Abgruende, die unermeszlich tief sind. Er traegt tief in seinem Innern Perversionen und dunkle Geheimnisse, die er entweder nicht ausleben kann oder, noch tiefer, sich noch nicht einmal eingesteht. Das musz einem als ihn beobachtenden Menschen auf Anhieb klar sein - woher sonst diese Faszination mit Perversionen? U. Seidl hat meines Erachtens nach dabei eine pathologisch voyeuristische Neigung, denn woher sonst diese Abartigkeit mit der er andere beobachtet um dann diese der Oeffentlichkeit vor- und damit bloszzustellen, damit letztlich gesellschaftlich zerstoerend? Letzteres ist was mich so entruestet, dasz er keine Empathie fuer seine Mitmenschen hat, die er durch Ausleben seines Voyeurismus zerstoert. Er sollte lieber in Psychotherapie gehen anstatt auf Kosten anderer reich und reicher und beruehmt und beruehmter zu werden.

Martin

21. September 2014 12:38

Ich sehe hier (meine Einschätzung beruht nur auf dem Trailer, sonstiges von Herr Seidl kenne ich auch nicht) übrigens kein besonders typisch Österreichisches Thema, auch wenn in dem Trailer einiges an Lokalkolorit und natürlich Dialekt auftritt und sicher auch nur die berühmten "Spitzen" gezeigt werden, also nicht Otto-Normal-Durchschnitt.

Es wirkt für mich vieles ein bisschen 80er Jahre und erinnert mich an meine Kindheit/Jugend, als bspw. einer unserer damaligen Nachbarn (mittlerweile verstorben) in seinem Schuppen uns Stolz einen Schrein mit A.H. Büste und Flagge zeigte und erzählte, dass er am 20.04. immer mit Kameraden feiert, es im schicken Neubau-Bungalow der Beamten-Gattin dazu gehörte, dass man einen mit Bar und allem drum und dran eingerichteten Party-Keller hatte, wo die Hausfrau dann bei Bedarf auch mal verrucht bei Disco-Kugel-Ambiente sich eine "Eve" anzündete und einen Drink mixte. Der Waffenfreak, der einem stolz die durch tausend juristische Winkelzüge legal erworbene M14 Sniper-Ausführung und anderes Militaria in seinem Keller zeigte, war selbstredend auch dabei. Den Reptiliensammler gab es auch schon, auch wenn Aquaristik verbreiteter war. Gut, uns jugendlichen hat keiner einen Porno oder SM-Keller gezeigt, dazu waren dann die 80er doch noch zu zugeknöpft, aber wer weis, was in manchem "Heimkino" (gabs als Ausdruck von Wohlstand bereits damals ab und an) so lief und in alle Kellerräume wurde man ja auch nicht geführt ... es war auf jeden Fall nicht unüblich, dass man als Kind und Jugendlicher den eigenen Keller oder wenn man bei Freunden war, mal auch den dortigen Keller oder Dachboden auf den Kopf stellte, um irgend etwas interessantes zu finden. Die "Fundorte" kann man von Kellern auf Dachböden, Schuppen, Garagen, Wochenendhäuser problemlos erweitern.

Ich vermute, es könnte den Reiz dieses Films auch ausmachen, dass jeder wohl ähnliche Typen kennt oder kennen lernen durfte. Die Keller (Schuppen, Dachböden etc.) in Deutschland sind vielfach höchstwahrscheinlich auch nicht anders als in Österreich und bei ca. 80 Mio. Einwohner werden sicher auch etliche dabei sein, die besonders hervor stechen würden, wenn man sie präsentieren würde, wobei ich glaube, dass der Keller als Raum zum Ausdruck von irgendetwas Besonderem deutlich an Bedeutung in der Zwischenzeit abgenommen hat. Bei den meisten dürfte er nur eine Art Vorstufe zur Müllkippe sein. Evtl. ist da dann doch noch etwas Österreich-Spezifisches zu finden, dass sich dort dieser Raum zur eigenen, nicht sofort erkennbaren Gestaltungsmöglichkeit länger bewahrt hat, als in Dtl., ergo Keller = Abgründig.

Ich persönlich würde mir die Seidl Filme durchaus gerne anschauen, nur läuft so was nicht bei uns in der Provinz (extra auf DVD kaufen kommt für mich nicht in Frage).

Klaus F.

21. September 2014 13:33

Ich weiß nicht. Ich bin kein Experte, aber die Geschichte gerade hat mich spontan an einige Reaktionen aus dem orgiastische Medienecho erinnert, das anläßlich des Gewinns des letzten Eurovisions-Schlagerwettbewerbs durch dieses Ding namens Conchita Wurst anhub. Da schrieben welche von „Bedeutungsexplosion“ und ähnliche Sachen. Außer in deren Kopf ist da nirgends irgendwas explodiert, Bedeutung schon gar nicht. Und hier? Da gibt es halt Leute, deren Hobby oder Sammelleidenschaft bizarre Blüten treibt, und die manche Empfindlichkeiten der umgebenden Gesellschaft nicht so eng sehen (was sie mir grundsätzlich sympathisch macht, häßlich oder nicht), und jemand macht einen Film darüber. Einen handwerklich gut gemachten Film über ein dröges Subjekt. Wiederum löst dies eine Erinnerung aus, und zwar an eine vom Demokratieabgabe-Fernsehen, Sektion Bayern produzierte Dokumentation über... Gartenzäune. Halbe Stunden meines Lebens, die ich nicht wieder zurückbekomme. Vielleicht würde es sich lohnen, darüber einen Film zu machen, wenn sich ein Rezensent mit entsprechendem Netzwerk findet, um ihm Bedeutung zu verleihen.

Hesperiolus

21. September 2014 13:37

"Die" Keller "des" Österreichertum? Für mich, zweifellos einem den komplexen Inszenierungsfinessen moderner Dokumentarkunst gegenüber ignoranten Naivling, ist das keine vertikale Zeitkritik, stellt sich das als die allfällig abgegriffene Volte der Linken dar, aus dem Abseitigen den Verdacht gegen bestimmte Lebenswelten des eigenen (?) Volkes hervorzuimaginieren. Von den schmalsten Rändern in die breiteste Mitte zu denunzieren. Jedoch, unsere Dekadenz ist (gerade!) nicht unterkellert, ist flach und dämonenlos, und sind diese erbarmungswürdigen Troglodyten keine beispielhaften Repräsentanten des auto-chtonischen, in Wahrheit aber gar nicht mehr chtonischen Volkes. Meinetwegen macht er seine Sache cineastisch gut, dieser Seidl, das entzieht sich meiner Beurteilung, hat Eisenstein wohl auch, aber die Zielrichtung dieser Machwerke ist doch immer eindeutig. Krank und entartet ist sie, diese Gesellschaft, aber sicher auf andere Weise als uns diese Filmemacher für symptomatisch vorführen wollen. Und warum denn immer Katholikinnen oder ÖVPler beim Seidl, warum zeigt er uns nicht die Abgründe der Rotarier und hereinmigrierten Eliten und Dönerbuden - weil es nur mit wohlfeil halbfreiwilligen Exhibitionisten, für nichts anderes als das debilen-exploitative Gespür des Machers repräsentativen Freaks geht. Es widert mich, an solchen Geisteszuständen filmisch zu schnuppern, eine vornehme Lebenshaltung sollte Dergleichen sich selbst überlassen oder, besser, in guter Pflege wissen. Keine vertikale Zeitkritik (die gibt's anderswo in "Höhlen und Schächten"), sondern Zurschaustellung bemitleidenswerter Zeitgenossen. Unserem Wesen fremd.

Waldgänger aus Schwaben

21. September 2014 15:52

Nachdem ich den Trailer nochmals angeschaut habe und auf mich wirken liess, denke ich, dass der Herr Seidl auch dadurch motiviert ist, sich im Kampf gegen Rechts einzureihen. Vielleicht locken diverse Fördertöpfe.

M.L.: Das wäre ein grobes Mißverständnis. Er hat sich zwar schon teilweise in dieser Richtung betätigt, 2002 in dem Omnibus-Film "Zur Lage" etwa. Aber generell gehört er nicht zu den Typen, die sich politisch einspannen lassen. Und es gibt in Österreich nicht einen "Kampf gegen Rechts", wie es ihn in Deutschland gibt.

Diese Assoziationskette soll und wird beim Betrachter entstehen:

Konservativ == Rechts == Spiesser == Nazi == Tierquäler == (verklemmter) Perverser.

Mir ginge es jedenfalls so, wäre ich nicht selbst stockkonservativ.

M.L.: Auf gar keinen Fall, so simpel sind die Filme nicht gestrickt.

1) ==
Gleichheitsoperator in höheren Programmiersprachen
= ist die Zuweisung

2) Tierquäler
Mir wurde beim einem Zoobesuch gesagt, dass Fütterung von lebenden Wirbeltieren verboten ist, und dass Schlangen, die nur lebende Beute fressen, Futtertiere bekommen, die zuvor mit einem für Schlangen unschädlichen Mittek betäubt wurden.

Langer

21. September 2014 16:31

Ulrich Seidl ist der deutsche - Entschuldigung! - oesterreichische Wes Anderson.

M.L.: Harmony Korine oder Todd Solondz passen besser als Vergleich, denke ich....

Er zeigt: Eine Kulturcollage. Oder: Verstuemmelte Kultur. Oder: Irgendwie Wahrheit.

Ich habe schon bei dem Trailer so gelacht, dass der fertige Film unbedingt noch mal Thema werden muss! :)

Langer

21. September 2014 16:39

Frau Kositza:

Die Leute wurden nicht hintergangen, sondern eher verfuehrt: "Das, was Sie da zeigen, wird verpoehnt sein - aber es ist die Wahrheit! :)"
Und da dachten die unbewussten Tiefen der Leute: "Was ist am Ende mehr wert?"

Die Nazis im Bunkerkeller: Eine subversive Aktion?

OJ

21. September 2014 18:58

"Diese Assoziationskette soll und wird beim Betrachter entstehen:

Konservativ == Rechts == Spiesser == Nazi == Tierquäler == (verklemmter) Perverser.

Mir ginge es jedenfalls so, wäre ich nicht selbst stockkonservativ.

M.L.: Auf gar keinen Fall, so simpel sind die Filme nicht gestrickt."

Mag sein, dass die Filme nicht so simpel gestrickt sind. Welche Assoziationen sie bei einem sehr wohl simpel Gestricktem hervorrufen, ist eine andere Frage. Da liegt der Waldgänger nicht so weit daneben, denke ich. Allerdings kann man das wiederum dem feinsinnigen Regisseur dann auch weniger zum Vorwurf machen.

Stil-Blüte

21. September 2014 20:51

Ißt man Verdorbenes, und sei es noch so kunstvoll angerichtet, warnen die Sensoren (Geschmacksnerven) eines gesunden Menschen vor einer Vergiftung, indem nach Übelkeit und Würgereiz Erbrechen einsetzt. Der Mensch spuckt sich die Seele aus dem Leib.

Haben wir bei verdorbener (verderblicher) geistiger Kost keine Antennen des Abscheus und des Ekels? Den Vorkostern des Trailers scheint Seidls Schwedentrunk so gut zu munden, daß sie ihn von einer Backe in die andere schieben und gut zerkauen. Muß man um der Wahrheit willen wirklich erbärmlichste Erniedrigungen schlucken? Mir ist der Appetit auf mehr schon beim ersten Brocken vergangen.

Unerträglich die Vorstellung, wie sich noch ganz junge lebenshungrige Menschen an diesem Trailer verschlucken.

M.L.: Die "verschlucken" sich heute an viel schlimmerem, leider...

Martin Lichtmesz

22. September 2014 00:22

Badeschluß, Dank an alle!

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