Unter den portraitierten Kellerasseln findet sich nämlich auch eine Runde fröhlicher Herren im Trachtenhemd, die sich in einem mit NS-Devotionalien vollgestopften Hobbyführerbunker mit Bier und Gesang vergnügt. Wie sich herausstellte, sind zwei davon ÖVP-Mitglieder und Gemeinderäte in einem burgenländischen Kaff – bis vor kurzem jedenfalls, denn sie scheinen inzwischen von ihren Posten zurückgetreten zu sein.
Es ehrt Ulrich Seidl, daß er sich zu der Causa deeskalierend geäußert hat und den Besitzer des Kellers zumindest vor dem Verdacht der “Wiederbetätigung” – immerhin eine Straftat – in Schutz nimmt:
„Die Gemeinderäte hätten wissen müssen was sie tun. Das sind ja erwachsene Menschen mit Verantwortung. Das andere was den Herrn Ochs (Besitzer des Kellers, Anm.) betrifft, gibt es immer verschiedene Seiten. Mir gefällt es überhaupt nicht, wenn er jetzt so dargestellt wird, als würde er Wiederbetätigung betreiben. Das tut er nicht. Er verharmlost die Vergangenheit. Das ist einer von vielen. Das wollte ich zeigen. Wenn ihm jetzt Schaden zugefügt wird, ist das nicht in meiner Absicht gelegen“, sagte Seidl gegenüber dem ORF Wien.
„Natürlich war ich auch erstaunt, so etwas sieht man ja nicht jeden Tag. Für mich war der Ansatz für den Film, ja das gibt es halt und man findet nichts dabei. Aber der Herr Ochs und seine Freunde sind nicht die einzigen in Österreich. Es entspricht schon etwas, was es in den Köpfen bei uns immer wieder gibt, auch wenn die anderen keinen Nazi-Keller haben.“
Man wundert sich dennoch, was sich diese Kamernossen dabei gedacht haben, als sie sich Seidl derart hemmungslos präsentiert haben. Daß ein solcher Auftritt zu erheblichem Ärger führen würde, hätten sie sich an den Fingern abzählen können. Überhaupt ist dies eines der großen Werkgeheimnisse des Regisseurs: kaum jemand vermag es, seine Protagonisten derart effektiv zur Selbstentblößung zu verführen wie er. Manchmal frage ich mich, ob er dabei eine Art von Hypnose benutzt. Jedenfalls bekommt er immer wieder Dinge zu sehen, die anderen verborgen bleiben.
Ich gehe einmal hin und lerne ihn kennen und im Laufe der Zeit wird ein bestimmtes Vertrauensverhältnis aufgebaut. Wenn er dann bereit ist, das herzuzeigen und auch bereit ist zu sprechen, dann werde ich das irgendwann einmal drehen. Aber es ist ja nichts mit versteckter Kamera gedreht. Es ist keine Überrumpelung.
In einem lesenswerten aktuellen Interview mit Vice macht Seidl deutlich, daß es ihm keinesfalls um Anklagen oder Zurschaustellungen geht:
Was sich für mich wie ein Motiv durch den Film gezogen hat, ist, dass die Motive der Menschen im Dunkeln bleiben.
Es wäre mir viel zu einfach, zu erklären, warum jemand ein bestimmtes Problem hat. Dieses Psychologisieren liegt mir überhaupt nicht. Menschen sind ja weitaus vielfältiger und ambivalenter. Und für den Zuschauer ist es auch befriedigender, wenn die Geschichten auf ihn selbst zutreffen. Das Spannende am Kino ist ja, wenn man darin seine eigenen Abgründe entdeckt. Keiner von uns ist sonderlich weit davon entfernt, auch mal rassistisch oder sexistisch zu sein—all das steckt in uns, wir alle führen auch unsere Doppelleben im Keller. Darum geht es mir. Es geht nicht darum, jemanden abzuurteilen. Ich will Menschen mit ihren Schwierigkeiten zeigen, mit ihren Sehnsüchten und ihrer Einsamkeit.
Genau dieser wertfreie Zugang wie gegenüber Herrn Ochs wird von manchen kritisch gesehen, wenn es ums Politische geht. Immerhin zeigen Sie hier einen alten Nazi als ambivalenten Menschen, nicht als Monster.
Das ist genau das Interessante daran. Ein Film ist ja nicht dazu da, Leute zu überführen oder sie abzuurteilen. Herr Ochs ist außerdem kein Neonazi, der begeht in dem Sinn keine Verbrechen. Was mich daran interessiert, ist die Normalität, mit der das alles passiert und in seinem Umfeld allgemein bekannt ist. Das finde ich viel diffiziler—und das ist genau das, was ich möchte. Auch das ist eine von vielen österreichischen Realitäten. Und es ist geradezu eine österreichische Qualität, dass alle im Ort davon wissen und die Musiker trotzdem einfach so zu ihm kommen und so weiter. Das alles sagt ja etwas über unsere Gesellschaft. Und noch was: Der Herr Ochs ist ein sehr sympathischer Mensch. Das ist eben so. Das macht es auch so schwierig—es ist ja viel einfacher, wenn man jemandem begegnet und sagt „Na, das ist doch ein fieses Schwein!“ Da kann man leicht mit dem Finger zeigen. Aber diese Normalität und Sympathie neben der ganzen Vergangenheitsverherrlichung das ist schon was anderes.
Ich habe Ulrich Seidl auf dieser Seite bereits ausgiebig zu würdigen versucht (Ellen Kositza ist weniger begeistert). Angesichts des Trailers zu seinem neuen Film gerate ich allerdings wieder ganz aus dem Häuschen, und ringe erneut nach Worten, um die zwiespältige Faszination von Seidls Werk zu beschreiben. Für mich ist er vor allem ein Chronist der Dekadenz, dessen Filme (“Sittengemälde” nannte er sie einmal) gnadenlos die morschen Stellen zeigen, an denen die österreichische Gesellschaft verfault.
Und das Problem scheint nicht nur an ein paar faulen Früchten und sumpfigen Randgebieten zu liegen, die mit dem Rest des nationalen Schrebergartens nichts zu tun haben – dann wäre es ja einfach, Seidls Filme als voyeuristische Freakshows und “Sozialpornos” beiseite zu schieben. Aber wenn ich sie sehe, scheint es mir immer, als ob mit dem Laden (oder vielleicht gar mit der Schöpfung selbst) etwa Fundamentales schiefgegangen sei, trotz aller gewiß selektiven Überspitztheit der Darstellung. Tatsächlich scheut Seidl nicht davor zurück, wie sein einstiger Mentor Werner Herzog, auch in seine – ohnehin spielfilmartig inszenierten – Dokumentarfilme fiktive Elemente einzuflechten.
In die austriakischen Keller zu steigen und sich dort umzusehen, war jedenfalls gewiß eine naheliegende Entscheidung für Seidl. Es gibt vielleicht soetwas wie eine spezifisch österreichische Form der Neurose, die sich in einer Art von inwendig wucherndem Barock äußert. Canettis “Die Blendung” oder die meisten von Thomas Bernhards Romanen handeln davon, und auch Seidl ist ihr seit nunmehr drei Jahrzehnten auf der Spur.
Auch Doppelleben haben den Ruf einer sehr österreichischen Spezialität, und zumeist sind sie mit dem Phänomen der “inwendigen Wucherung” eng verbunden. Der Fall Josef Fritzl fällt als besonders extremes Beispiel in diese Kategorie. Böse Menschen, die andere jahrelang einsperren, versklaven, mißhandeln und mißbrauchen, gibt es auf aller Welt. Allerdings ist mir kein Fall bekannt, in dem jemand mit einer solch bizarren Mischung aus Erfindungsreichtum, Beharrungsvermögen, Realitätsverleugnung und “gemütlicher” Spießbürgerlichkeit vorgegangen wäre wie Fritzl. Das Schicksal seiner in der Unterwelt des eigenen Hauses inzestuös gezeugten, siebenköpfigen “Familie” ist beinahe ein Grund, auf der Stelle Atheist zu werden.
Die dämonischen Seiten des Österreichertums, die ungekehrten Ecken, abgeschlossenen Zimmer und unteren Stockwerke, sind in der Literatur oft behandelt worden. Aber mir scheint, als ob Seidl sie in einem Stadium zeigt, wo sie sich dank Wohlstandsverfettung, Sozialdemokratisierung und allgemein akzeptierter moralischer Enthemmung zu einem besonders häßlichen Anblick verschärft haben.
Seidl wäre aber nicht Seidl, wenn all dies nicht auch eine Kehrseite hätte. In der Kinovorschau kann man eine Ansammlung zumeist eher erbärmlich bis skurril wirkender Gestalten sehen, von denen sich jeder einzelne im Keller eine Art Kultort für private Obsessionen geschaffen hat: die eingangs erwähnten Herren haben sich’s im bierseligen Nazimoder kuschelig gemacht, ein anderer nutzt seinen Keller offenbar als Schauplatz für sadomasochistische Erniedrigungen, und wieder andere haben sich mit einer absurd ausufernden Sammlung von Jagdtrophäen umzingelt. Man sieht einen Waffennarren, der virtuelle Schurken erschießt und einen schmalbrüstigen Gesellen in Unterhosen, dessen großer Stolz seine Fähigkeit ist, wie ein Elephant zu ejakulieren. Manche von ihnen wirken stumpf, dumm, kleinkariert und grob.
Seidl betont immer, daß er niemals wertet, was er zeigt. Ich als Zuschauer kann nicht anders, und verhehle nicht, daß seine Filme meine misanthropische Ader gehörig nähren. Zugleich rühren sie mich auf eine unnachahmliche und schwer zu erklärende Weise an.
Endgültig umgeblasen hat mich das Bild des Mannes am Ende des Trailers, der vor einem langgestreckten Terrarium sitzt, und beobachtet, wie seine hellgrüne Riesenschlange einen dicken weißen Hamster fixiert, den sie wohl bald verspeisen wird. Tableaus wie diese grenzen ans Surreale; vor allem aber stinken sie geradezu nach tiefer Verzweiflung und Traurigkeit. Manche dieser Menschen wirken wie tote Seelen, deren Identität nur mehr aus den Gegenständen und Fassaden besteht, die sie um sich errichtet haben.
Andere haben Gesichter, die verlorenen Schlachten ähneln: einen letzten Rest Selbstwertgefühl, einen letzten Rest von Privatheroismus haben sie sich noch bewahren können, irgendeine Restillusion der eigenen Besonderheit, so lächerlich und abstoßend sie auf andere auch wirken mag. Ich glaube nicht, daß Seidl diese Menschen verachtet (ein alter Disput zwischen seinen Gegnern und Befürwortern), sondern eher noch, daß er in ihnen etwas sieht, womit er sich selbst vielleicht stark identifiziert.
Im Interview mit Vice betont Seidl übrigens, daß es ihm keineswegs um ausschließlich österreichische Befindlichkeiten geht:
Es geht immer um etwas Zwischenmenschliches und Soziales und die Frage nach der Liebe und dem Tod. Existenzielle Fragen. In diese Richtung sind meine Filme ja auch nicht nur national zu verstehen—Sugarmamas wie in Paradies: Liebe gibt’s ja in der ganzen westlichen Welt, nicht nur in Österreich. Dasselbe gilt für Leute, die ein Doppelleben führen. Der Keller ist auch ein Symbol für ein Doppelleben, das es überall auf der Welt gibt. Wenn man Österreich weglässt, sieht man, dass es sich um allgemeine menschliche Befindlichkeiten handelt. Macht und Gewalt innerhalb von Beziehungen existieren überall und in allen Milieus.
Wie gesagt, gesehen habe ich den Film noch nicht – demnächst vielleicht mehr.
Nihil
Wunderbarer Artikel. Danke!
PS: Ich bin Seidl-"Befürworter" (besser: Fanatiker) und trotzdem der Auffassung, dass er die Menschen "verachtet". Obwohl "Verachtung" wohl der falsche Begriff ist. Die Zuneigung des Herren zum Sklaven - ist das Verachtung? ;-)