Wismar“ eine interessante Frage beantwortet: „Besitzt der gegenwärtige Konflikt mit Rußland eine kulturelle Dimension?“ lautet der Titel seines Aufsatzes. Ritz verweist zunächst auf die historische und geographische Nähe Rußlands zur Entwicklung des Westens bis ins 19. Jahrhundert und „die kulturelle Einheit des europäischen Kontinents, die Rußland mit einschloß“. Er markiert als Bruch das Jahr 1917 und entwickelt daraus die These, daß eine erneute Annäherung seit 1990 an der Unvereinbarkeit von Moderne (Rußland) und Postmoderne (Westen) scheitere.
Im Kern gehe es dabei um die Weigerung Rußlands, die in der Moderne „trotz der Freisetzung des Individuums“ dennoch bewahrten „Formen kollektiver Identität“ aufzugeben. Die Säkularisierung des Christentums habe – entgegen der landläufigen Meinung – die Religion seit 1789 nicht aufgelöst, sondern ihre zentralen Begriffe und Lehren transformiert: aus der Heilserwartung seien die politischen Utopien, aus dem Glaube an die Offenbarung jener an die ästhetische Erziehung des Menschengeschlechts abgeleitet worden: „Unter modernen Voraussetzungen ist die Gesellschaft deshalb noch nicht vollständig fragmentiert, sie besitzt noch einen Zusammenhalt.“
Dieser Zusammenhalt sei erst durch die postmoderne „Dekonstruktion“ verlorengegangen, die im Westen ab 1980 eingesetzt habe. Sie „sehe jede Form von kollektiver Identität als Ausdruck von Herrschaft, Hierarchie und Diskriminierung an“. Die Dekonstruktion umfasse neben dem Identitäts- auch den Wahrheitsbegriff und die Geschichtserzählung, mithin die Gültigkeit einer kollektiven Erinnerung. In das „Orientierungsvakuum“, das die Dekonstruktion hinterlasse, drängten nun „Lifestylekonzepte“ ebenso vor, wie der Anspruch einer umfassenden Konstruierbarkeit der Welt und des individuellen Lebensentwurfs – ablesbar daran, daß die „Befreiung“ (sexuell definierter) Minderheiten ebenso zu einem zentralen Anliegen der Politik würde wie die „Herrschaft des Profanen … in der Kirche selbst, möglichst sogar während des Gottesdienstes.“
Zweifellos verliefen die Auseinandersetzungen um den blasphemischen Auftritt der Punk-Band „Pussy Riot“ und um die Rechte von Homosexuellen im Vorfeld der Olympischen Spiele in Sotschi entlang der von Ritz skizzierten, kulturellen Bruchlinie. Interessant ist nun, daß Ritz seine These nach dieser Bestandsaufnahme noch ein entscheidendes Stück weiterverfolgt. Er spricht zum einen der Postmoderne jene universelle Durchschlagskraft ab, die den Konzepten der Moderne noch eignete; sie sei vielmehr „ein Ausdruck der westlichen Kultur“.
Der Erklärungsansatz dafür ist verblüffend: Die Postmoderne habe als Kind des Kalten Krieges den Geruch des Siegers mitgebracht und jede Revision dadurch ausgeschlossen, daß sie zugleich das „Ende der Geschichte“ verkündete. Vielleicht blickt auf dieses „Ende“, das in den Großstädten der westlichen Hemisphäre längst zu einem Morast geworden ist, die halbe Welt mit Grauen. Man muß nicht wiederholen, wie und wo die Feier der Beliebigkeit stets in Tribunalen gegen das Gültige mündet, die große Toleranz stets in intolerante Exzesse und die Wählbarkeit jedes Lebenswegs in den Zusammenbruch überforderter, orientierungsloser, alleingelassener Menschen. Es reicht ein einziger Blick in den Forderungskatalog der Gender-Studies, und schon weiß man, daß das postmoderne „anything goes“ die Natur des Menschen und sein Bedürfnis nach begreifbaren und unhintergehbaren Rahmenbedingungen verkennt und vergewaltigt.
Im Bezug auf diesen Sachverhalt argumentiert Ritz übrigens nicht klar genug: Natürlich hat auch die Moderne mit ihren säkularisierten Heilsplänen die Menschen verkannt und vergewaltigt. Der Wahn vom Neuen Menschen, der ab 1789 in wechselnder Gestalt und zunehmend als Flächenbrand wütete, war ebenfalls nichts anderes als die Verkennung der Vielgestaltigkeit und grundsätzlichen Unveränderbarkeit des Lebens. Das, was Ritz der Moderne zugute hält, ist ob dieser Bestandsaufnahme dennoch der Ansatz, etwas mit dem Kollektiv vorzuhaben, es zu formieren.
Armin Mohler hat dieser technokratischen Formierung der Gesellschaft in seiner Arnold-Gehlen-Phase zugestimmt. Indes: Dieser Vorgang entpuppte sich ab 1968 immer mehr als etwas Linkes, und in diesem Umstand ist ein Grund zu suchen für die nur schwer nachvollziehbare Hinwendung Mohlers zur Postmoderne. Er hat sie als die Dekonstruktion der Moderne begrüßt und – das muß ich nach der nochmaligen Lektüre seiner Aufsätze aus dieser Zeit sagen – eine Hoffnung in diese Auflösung der großen Konzepte gelegt, die rasch trog. Geblendet hat ihn dabei sicherlich sein Wunsch nach einem Ende der rechten Skepsis und der kulturpessimistischen Resignation angesichts der linken Übermacht. Und so sah Mohler in der Postmoderne etwas von dem aufgehen, was er 1978 als „Nominalistische Wende“ beschrieben hatte: das Relative jeder Wahrheit, die Hinwendung zum Konkreten (weg vom abstrakten Begriff) und die Faszination von der Konstruierbarkeit der Wirklichkeit aus jenen Versatzstücken, die in die Hand zu bekommen man in der Lage sei.
Daß die Postmoderne als dekonstruktives Konzept in sich die Zersetzung auch der letzten Bastion trüge, wollte oder konnte Mohler nicht sehen. Rußland – so scheint es – hat genau dafür einen Blick.
Arkanthus
Es ist aber auch denkbar, daß Rußland die Moderne selbst nur oberflächlich und porös aufgenommen hat.
Religion ist das prägendste geistige Element von Kulturen oder Zivilisationen, sie bestimmt unsere Weltanschauungen auch heute noch. Die Moderne ist der weltliche Wurmfortsatz des westlichen, insbesondere protestantischen Christentums (Preußen-Deutschland, GB, USA als protestantisch geprägte Mächte waren nicht zufällig die politisch, wirtschaftlich und kulturell tonangebenden Länder des 19. und 20. Jh.).
Das orthodoxe Rußland hatte eine nach Westen orientierte Elite, aber keine Basis, nie. Die wohl einzige Kultur, die die Moderne anscheinend voll aufesogen hat, ist die japanische. Und darüber kann man wohl auch streiten.