Erstens, die Älteste mit ihrer Frage, wie man denn heute Ordensmensch wird, mit welcher Motivation? Natürlich kam die Frage deshalb auf, weil sich die Klöster hier mit ihren Konsumgütern präsentierten, und weil die „Botschaft“ dahinter mundgerecht verpackt war. Das wirkt für den ernsthaft interessierten Jugendlichen natürlich profan. Ob es das Ziel eines (heute) so dermaßen radikalen Lebenswegs sei, für den Weltfrieden, für faire Lebensmittel aus der Dritten Welt, für ein einiges Europa und für dürftige Grußbotschaften einzustehen? Die Tochter hat ein paar Gespräche geführt, die sie sehr unbefriedigend („hohl“) fand. (Ich hab ihr natürlich gesagt: Das hier ist ein Markt und ein kein Exerzitienseminar. Aber ich verstand ein wenig, was sie meinte.)
Zweitens, am Stand des Frauenklosters XY, mitgehört, Christengespräch: „Haben Sie denn auch Kärtchen oder Bilder vom Hl. Josef?“ – „Wie bitte? Josef? Schauen Sie mal. Wir widmen uns der heiligen XY. Was soll dann die Frage nach dem Hl. Josef?“ – „Also-! So was! Bei Ihnen kauf ich gar nichts!“
Drittens, eine mittlere Tochter, unsere schöne Exaltierte. Ich finde sie in häßlicher Haltung vor. Alle Bänke im Schatten sind dicht besetzt, sie hingegen hockt allein auf einer Sonnenbank im Zentrum. Ziemlich breitbeinig, ziemlich lümmelig, sie nagt an einer frisch erworbenen Dauerwurst. Auf kritische Nachfrage bescheidet sie, sie unternehme gerade einen Menschenversuch. (Diese Tochter, muß man wissen, hat eine opulente selbstgeschossene Photosammlung von Leuten, die gerade Sehenswürdigkeiten / Sonnenuntergänge / Blumenwiesen photographieren – sie interessiert sich auf jugendliche Art für Menschenblicke.) „Ich beobachte, wie die Leute gucken. Alle gucken. Und sie gucken deutlich anders, wenn ich so dasitze oder so oder so.“ Jetzt schlägt sie die Beine übereinander und zwirbelt verlegen lächelnd an ihrem geflochtenen Zopf. „Guck, jetzt gucken sie schon anders. Oder besser: andere Leute gucken jetzt.“
Und weiter: „Außerdem versuche ich mir gerade im Detail auszumalen, wie ich als Oma aussehe. Ich mein, es muß eine Art Automatismus geben, daß man sich mit spätestens 50 die Haare kurz schneidet, beige Hosen und Gesundheitsschuhe mit Belüftungslöchern trägt. Und ich denk mir, deren Omas wiederum hatten eher weder beige Hosen noch Kurzhaarfrisuren und so weiter. Vielleicht ist ja ganz automatisch alles anders, wenn ich mal Oma bin. Wenn nicht: bei mir selbst jedenfalls.“ Sie habe eine ziemlich genaue Vorstellung – von sich selbst als Großmutter. Sie ist dreizehn.
Viertens, Bericht des Sohnes. Ich muß zuvor erklärend ausholen: Wer ein paar Kinder hat, weiß, wie der Aufbruch zu einem Ausflug aussieht. Man sitzt im Auto und stellt fest: Das eine Kind hat noch Marmelade an den Backen, das andere hat sich nicht gekämmt, das nächste hat keine Jacke dabei. Diesmal hat die Kleinste Gummistiefel zu ihrem hübschen langen Leinenkleidchen an. Gefütterte! Bei 25 Grad im Schatten! Die Stiefel wurden im Auto gelassen.
Der Sohn erzählt: „Ich gehe so mit der E. an der Hand entlang, da hör ich hinter mir ein älteres Ehepaar: ‚Guck mal, das da, das müssen richtig arme Kinder sein. Mein Gott, die Kleine geht ja barfuß!!! Und der Junge! In Lederhosen! Meine Güte, mir wird ganz anders. Das es heute so was noch gibt, richtige Armut…!’ Da hab ich mich umgedreht und wollte die beruhigen. Ich hab gesagt, die E. hatte aus Versehen Gummistiefel angezogen, und die haben wir ihr ausgezogen, weil es ja so heiß ist. Die Frau dann so: ‚Ach je! Sie hat also gar keine richtigen Schühchen! Nein!’ Dann hat sie gefragt, ob wir Hunger hätten. Wir haben beide Ja gesagt, weil es auch wirklich stimmte. Dann wurden wir zu Waffeln eingeladen, und ich hab noch fünfzig Cent bekommen.“
Sag noch einer was gegen Gutmenschen!
29.9. 2014
Was haben die Protofeministin Betty Friedan, der Beruf der Grundschullehrerin und Ursula von der Leyen miteinander gemeinsam? Eigentlich nur meine eigene gedankliche Assoziationskette nach dem Besuch des x‑ten Elternabends dieses Jahr. Was ich aus Friedans streitbarem Buch Der Weiblichkeitswahn (1966) mitgenommen habe, war die Erkenntnis/Mahnung, das sich „Hausarbeit wie Gummi dehnen“ lasse. Wer außer Hausarbeit keine anderen Probleme hat, der wienert unter Umständen zweimal täglich das Waschbecken und bügelt selbst Unterhosen. Nun, es sind schlimmere Neurosen vorstellbar (gerade 50 Jahre später), aber das Problem der Übertreibung des eigenen Wirtschaftens im kleinen Bereich ist hier gültig beschrieben, finde ich.
Ich glaube, es verhält sich ähnlich, wenn eine Grundschullehrerin 14 Ordner (? hab nicht genau mitgezählt, weil ich gedanklich das gute alte Deutschheft betrauerte) anlegen läßt, je mit speziellen Heftungsrichtlinien, darunter allein drei für den Deutschunterricht (Lesen, Schreiben, Üben) und für jedes Kinkerlitzchen ausgetüftelte Systeme entwirft. Hier die rote, dort die grüne, da die blaue Markierung, bitte beachten, daß diese Anweisung nur im Hausaufgabenheft steht, jene hingegen sowohl im Wochenplan und im HA-Heft, diese spezielle aber ausschließlich auf kopierten Blättern; und gut wäre es, wenn regelmäßige Unterschriften hier, hier und hier das Mitverfolgen durch die Eltern nachvollziehbar machen. Ein Staatsakt! Ein quasiphilosophisches System!
Bei den neuen Notenregeln mußte die engagierte Lehrerin selbst stutzen: eine Eins, so sage das Ministerium, solle es nur bei Arbeiten geben, die in „besonderem Maße“ die Aufgabenstellung erfüllten. Dasselbe Ministerium hat nun aber neu mit Datum vom 21. 7. 2014 beschlossen, daß die Eins auch bei „93% der zu erreichenden Leistung“ erteilt wird. Außerdem werden ab sofort alle erteilten Noten gleichwertig gerechnet. Heißt: Die Eins (oder Vier) bei der einzigen Klassenarbeit zählt genausoviel wie die Eins (oder Vier) für eine Gedichtstrophe oder eine Hausaufgabe.
Die Lehrerin zuckt die Schultern: „Naja. Sagen wir so: Es kommt ihren Kindern zugute.“
Etwas belämmert fahre ich zurück. Im Autoradio MDR info. Ein Kommentator rügt die Mißstände bei der Bundeswehr. Von der Leyen habe die Vorwürfe zurückgewiesen und die Schuld in vergangenen Fehlern gesucht. Der Kommentator: „Man muß festhalten, daß sie die vierte Verteidigungsministerin unter Merkel ist!“ Sicher wollte er – ministerIn sagen.
Kann man sagen, man fühlt sich überfraut?
30.9. 2014
Beim elektronischen Blättern seh ich grad: Es gibt die ZDF-Tagesschau auch in einer 100-Sekunden-Version. Und ich vernehme: Am Wochenende gibt es in Berlin Richard Wagners „gesamten Ring“ in 100 Minuten auf der Bühne. Quantitativ ähneln sich die Kürzungen. Die echte Tagesschau hat 15 Minuten, der originale „Ring“ grob geschätzt 15 Stunden. Meine Frage wäre: „Lebst du noch, oder hakst du schon ab?“
Herrje, bin ich langsam! Ich überschlage mal anhand eines kultur- und nachrichtenfernen Beispiels: In den vergangenen sechs Wochen habe ich mit Hilfe von (teils) zwangsrekrutierten Kindern etwa 600 kg Äpfel (eigene und herrenlose) gesammelt. Danach teils entkernt, teils geschält, teils gekocht, teils püriert, teils gepreßt. Alles – bis auf‘s Saften – nicht grad als Hauptprogramm, mehr so nebenher. Im Keller stehen nun 200 Apfelsaftflaschen, auf dem Dachboden hängen auf Paketschnur hunderte Apfelringe in spe, in den Mägen landeten bereits ungezählte Töpfe voller Apfelmus. Man hätte das alles weitaus schneller haben können, mit zusätzlicher Freizeit für Informationsbeschaffung und Kulturteilhabe. Apfelringe, ‑mus, ‑saft kann man ja kaufen. Alles hat seinen Preis. Jede Kürzung, jeder Snack. Man muß das abwägen.
Ein Fremder aus Elea
Nicht schlecht, 600 kg. Wir haben bisher um die 40 Liter. Vielleicht kommt aber noch was. Hat zwei Tage gedauert: Sammeln, waschen, häckseln und pressen, jeweils um die vier Stunden. Hab auch ein paar Vogelbeeren zugegeben. Der Geschmack der unterschiedlichen Apfelsorten variiert freilich sehr. Fraglich, ob aus den kleinen grünen selbst bei üppiger Zuckerzugabe ordentlicher Cider wird. Auch hat das letztes Mal mit der Flaschengärung nicht funktioniert. Die morschen roten mit den Vogelbeeren blubbern hingegen schon ordentlich in ihrem Kanister vor sich hin. (Gehen Sie in eine Apotheke und holen sich da einen Gummischlauch zum Einführen in den Magen und eine Birnenspritze zum Auswaschen des... nun ja... und sagen Sie einfach nicht, wozu Sie das brauchen, also Boden der Birnenspritze kanisteröffnungsgerecht ausschneiden und den Gummischlauch auf das spitze Ende aufsetzen und das andere Ende in ein Glas mit Wasser eintauchen. Knete zur zusätzlichen Versiegelung. Es gibt natürlich auch noch 1000 andere Möglichkeiten. Besonders lustig: Gummihandschuh wie beim Geschirrspülen auf Kanisteröffnung aufblasen lassen.)
Zur Armut, die kann auch Neid auslösen. Ich hab's im Unterhemd auf Seite 1 der größten estnischen Zeitung geschafft, und da kamen dann fiese Kommentare, warum Obdachlosen diese Ehre zuteil wurde. Das war übrigens in einer dieser typischen Situationen, in welcher Leute von woandersher, in diesem Falle aus Louisiana, USA, auf estnische Besonderheiten aufmerksam werden, also da konkret auf den Namen der zweitgrößten estnischen Biermarke: A. LeCoq. Ich kuckte also gerade in Richtung sich aufdrängende Witze reißendem Ausländer, als mich eine Russin in professioneller Absicht photographierte. Nicht gerade der jugendfreieste Blick. Aber was kann man dagegen machen.
Und wo wir gerade dabei sind, ich glaube, alle 13 jährigen Mädchen kucken, wie die Leute kucken. Und manchmal leider auch noch ältere.
...wo ich so darüber nachdenke: "Was kuckst du?" ist eigentlich ziemlich... weiblich. Ein Mann akzeptiert die Blicke so, wie sie sind.
Und was das mit dem Orden angeht... man findet sich halt wieder oder nicht. Es gibt ja viele Orden. Vielleicht zur grundsätzlichen Entscheidung, da schrieb ich gerade heut':
Die Sauna
Wo rußgeschwärzte Steine glühend warten,
bedenk was bleibt,
schöpf reines Wasser,
zu fühln im nächsten Atem.