Trotz der gegenwärtigen Unruhen in Hongkong und der in unregelmäßigen Abständen gebetsmühlenartig wiederholten Menschenrechtsvorbehalte gegenüber der Volksrepublik führt auf dem internationalen Parkett kein Weg mehr an China vorbei. Zumindest dann nicht, wenn tatsächliche Interessenpolitik betrieben wird; darüber mag man bei Spiegel und Konsorten aufheulen, wie man will.
Wie das ursprünglich zu neunzig Prozent agrarisch geprägte Riesenreich innerhalb von knappen vierzig Jahren nach dem Tod Maos diesen reellen “Großen Sprung nach vorn” vollzogen hat, die USA ökonomisch zu überholen und Deutschlands mittlerweile drittwichtigster Handelspartner zu werden, umreißt der Publizist und ehemalige außenpolitische Redakteur der Süddeutschen Zeitung Peter Kuntze im 42. Band der Reihe kaplaken: »Chinas konservative Revolution oder Die Neuordnung der Welt«.
Auf den Tod Maos am 9. September 1976 folgte die bange Frage nach dem weiteren Kurs der chinesischen KP. Ehe jedoch die radikalkommunistische “Viererbande” um die Witwe des verblichenen Großen Vorsitzenden nach der Macht greifen konnte, kehrte dessen ehemaliger Adlatus Deng Xiaoping aus der Verbannung zurück und übernahm die Führung der wirtschaftlich und politisch darniederliegenden Nation.
Die von Deng eingeleitete und in den folgenden 20 Jahren stetig vorangetriebene Reform- und Öffnungspolitik ermöglichte es Volk und Ökonomie, sich von der Leidenszeit unter dem stets zwischen Zwangsindustrialisierung nach sowjetischem Vorbild und Agrarkommunismus à la Pol Pot schwankenden Mao zu erholen, in der bis zu 72 Millionen Menschen umgekommen waren. Kuntze zeichnet die maßgeblichen politischen und sozialen Entwicklungslinien bis einschließlich 2014 bündig und anschaulich nach, sodaß bereits diese Überblicksdarstellung viel von der ignoranten bis herablassenden Behandlung des Themas China im medialen und wissenschaftlichen (zumindest jenseits der Sinologie) Diskurs wieder wettzumachen vermag.
Besonders verdienstvoll ist – neben allem zeithistorischen Detailwissen – die von Kuntze bereitgestellte, prägnante Einführung in die Bedeutung der konfuzianischen Lehre für die Ausprägung einer genuin chinesischen Staats- und Gesellschaftsphilosophie. Unter Berücksichtigung der nach dem Ende der Kulturrevolution und der Rückkehr zum überkommenen Fundament der uralten chinesischen Zivilisation vorgenommenen Anpassungen an die (Post)Moderne hilft dieser Exkurs nachzuvollziehen, wie sich aus der transzendenten und hierarchischen Lebensordnung ein neues Ethos entwickeln konnte, das besonders in seinen kulturellen Implikationen einen tatsächlichen “Dritten Weg” darzustellen vermag.
Gleichzeitig entwickelten sich für Deng Xiaoping und seine Nachfolger in Ämtern und Würden der KP schwere Gewissenskonflikte im Zusammenhang mit dem Einströmen nihilistischer “westlicher Werte” nach Zusammenbruch der Sowjetunion, denen gegenüber Chinas Führung einen nationalen Sonderweg beibehalten wollte – insbesondere die blutige Niederschlagung des Studentenprotests auf dem Tiananmen-Platz 1989 wird unter dieser Voraussetzung von einem ungewohnten Blickwinkel aus betrachtet. Dazu gehört auch das in westlichen Medien kaum wiedergegebene Detail, daß es neben anderen Faktoren auch die Errichtung eines an die Freiheitsstatue angelehnten Quasi-Götzenbilds einer “Göttin der Demokratie” durch die Demonstranten gewesen sei, das zur Eskalation der Lage geführt habe.
Gleichsam versteht es der Autor (wie so viele in gewendete Ex-Linke), anhand des chinesischen Beispiels präzise die Aporien des kommunistischen bzw. maoistischen Menschheitsexperiments offenzulegen und ebenso die zeitgeistigen Eliten besonders der politisch be-schreibenden Zunft bloßzustellen: Geistig noch immer in den altkommunistischen Kategorien ihrer Jugend- und Studentenzeit mit den Auseinandersetzungen zwischen “Fundis” und “Realos” gefangen, stelle das erfolgreich aufgestiegene Peking mit seinem pragmatischen “Sozialismus chinesischer Prägung” für sie den unerträglichen Triumph einer Art konterrevolutionärer Abweichung dar, weswegen die gelenkte Berichterstattung zuweilen geradezu rachsüchtige Züge annehme.
Angesichts der von Deng Xiaoping betriebenen Entkollektivierung der Landwirtschaft durch zügige Auflösung der Volkskommunen sowie der Rückkehr zum Privateigentum auch in der Industrie wandte sich der französische Philosoph Michel Foucault seinerzeit resignierend von China ab […]. Noch 1972 hatte Bruno Kreisky, österreichischer Bundeskanzler, SPÖ-Vorsitzender und Vize-Präsident der Sozialistischen Internationale, die Eigentumsverhältnisse in China und den damaligen Ostblock-Staaten als endgültig, weil im marxistischen Sinne fortschrittlich, bezeichnet […]. Diese antikapitalistische Fehleinschätzung gehörte zu den größten Irrtümern nicht nur Kreiskys, sondern der gesamten Linken – ebenso wie die von ihnen nicht für möglich gehaltene Wiedergeburt der Nationalstaaten […]. Jene schmerzliche Erfahrung dürfte einer der Gründe für die heute auf EU-Ebene von Linken und Linksliberalen so verbissen gegen die Mehrheit der Bürger verfochtene Übertragung möglichst vieler nationaler Kompetenzen nach Brüssel sein.
Wiewohl die in den letzten Jahren stetig zunehmenden Spannungen zwischen China und den Vereinigten Staaten sowie deren Verbündeten, insbesondere Japan, durchaus das Potential zum Umschlag in eine Art pazifischen Kalten Krieg haben, stellt sich abschließend doch die Frage nach der Berechtigung, mit Kuntze hierbei von einer “Neuauflage eines Weltbürgerkrieges” – der nach 1990 doch nicht verschwunden, sondern allenfalls sublimiert war – zu sprechen. Ob Toynbee mit seiner Prognose Recht behalten und das 21. Jahrhundert den Chinesen gehören wird, kann nur die Zeit zeigen.
Für ein eingehenderes Verständnis und eigene, weitere Lektüre zu dieser akuten Fragestellung bietet Kuntzes Buch einen idealen Ausgangspunkt. In jedem Fall jedoch wird die Volksrepublik ihren Platz im Mächtegefüge einer sich neu polarisierenden Welt einnehmen; es wird auch an Deutschland liegen, die Wahl zwischen einer nationalen Interessen folgenden, außenpolitischen Neupositionierung und dem fortgesetzten Vasallenstatus unter US-Kuratel zu treffen. Zumindest, wenn es sich dazu in der Lage sieht. Das allmählich auslaufende Jahr hat bereits mit der Entwicklung in der Ukraine gezeigt, wie hilflos die “alten” Eliten auf die Rückkehr der Geopolitik reagierten – zumal in einem pazifizierten Mitteleuropa, das sich anschickt, von der weltgeschichtlichen Bühne abzutreten.
Stil-Blüte
Ein sattelfester Ritt durch China, ohne auf dem Titel allzusehr herumzureiten, ohne Abschweifungen gewinnt man eine solide Übersicht und Aussicht. Lohnt sich!