Es gibt ein Dutzend Menschen in meinem Bekanntenkreis, die für mich den Standardbürger an sich personifizieren. Das hat sich ohne speziellen Vorsatz so eingestellt: Meine leibhaftigen Nachbarn Frank und Nicole (alle natürlich anonymisiert) repräsentieren für mich den unterschichtigen Normalbürger, Onkel Rudolf und seine Frau den idealtypischen Kleinbürger, Jens und Mareike samt Anhang die urbane Familie und so weiter. Ich stelle mir gern konkret vor, wie, wann und inwiefern diese und jene Botschaft des Zeitgeists zu diesen Leuten vordringt.
Wie sie den jeweiligen Trend in ihr Weltbild und ihre „eigene Meinung“ implementieren. Höre ich beispielsweise von einem zuschauerträchtigen TV-Melodram, in dem die sogenannte Unterdrückung der Frau im ausgehenden 20. Jahrhundert bildmächtig thematisiert wird, muß ich unwillkürlich an die konkrete „Frau Müller“ denken, von der ich ahne, daß sie das anschaut, daß sie die flankierende Bildzeitungs-Notiz liest und von der ich weiß, wie sie diese Erkenntnisse („Frauen waren ja damals nur Abschaum!“) in ihr Weltwissen fügt.
Nicht jede Botschaft erreicht jeden. „Jens und Mareike“ werden das TV-Drama nicht schauen, dafür haben die zur Zeit alle pro-vegan-Argumente intus. Natürlich als selbstgebildete Welterkenntnis! Manche Botschaft (und nachherige „eigene Meinung“) jedoch ist all-age und schichtenübergreifend.
Zur Zeit ist es nach meinem Empfinden diese: „Ich weiß nicht, welches Problem die Leute [immer die anderen, also die ohne „eigene Meinung] mit den Asylanten haben. Ich mein: damals, nach 1945 kamen die Vertriebenen millionenfach zu uns. Und wir haben das hingekriegt. Da waren auch meine Eltern/Onkel/Nachbarn drunter. Klar muß das schwierig gewesen sein. Aber haben wir doch geschafft!“
Dieses wahrhaft tolle Argument wird derzeit auf allen Kanälen aus unterschiedlichen Mündern verbreitet. Rupert Neudeck, selbst aus seiner Geburtsstadt Danzig vertrieben, der in jener Gesprächsrunde gegen Björn Höckes (AfD) „Ängste“ vor Flüchtlingen argumentierte, war nicht der erste, der nach dem Motto beschwichtigte, „das“ hätten „wir“ doch schon mal hingekriegt: Leute aus der „Fremde“ zu integrieren.
Und der heutige Deutschlandfunk-Beitrag aus Barnstedt bei Lüneburg (der DLF berichtet häufiger aus diesem Musterdorf der Fernstenliebe) war nicht der letzte: Dort helfen Einheimische besonders liebevoll „ihren“ 18 Flüchtlingen. Letztere klagen zwar über mangelnde Shoppingmöglichkeiten und prekären Internetanschluß in dem kleinen Kaff, aber immerhin: Die guten Deutschen helfen, wo sie könne, bei Geburten, bei Krankheiten, Spracherwerb. Zitat: „Gerade die Älteren sind für ihre zupackenden Initiativen bekannt. Nach dem Krieg waren hier schon mal Flüchtlinge auf engstem Raum mit Kind und Kegel einquartiert.“
In der Münchener tz wirbt Großverleger Dirk Ippen mit ähnlichen Argumenten dafür, daß wir Flüchtlinge als „Chance“ ansehen: Sie seien ein „Segen“ für uns unser Land, und wir drögen Deutschen machten ein Problem draus! Ippen selbst habe 1944/45 erlebt, wie „ein Volk zusammenstehen kann in der Not. Schreckliches haben viele der Vertriebenen erlebt. Aber wo immer die Flüchtlinge ankamen, überall gab es Aufnahme in den Familien. Oft herzlich von Anfang an, meistens erzwungen durch Einquartierungen, bei denen harte Herzen sich erst einmal öffnen mußten für die Fremden. (…) Auch die heutigen Flüchtlinge könnten voll integriert ein kleines Wirtschaftswunder herbeiführen.“ Klar!
Nur Schlechtmenschen werden einen Unterschied zwischen Hans und Rosi aus Schlesien und der verschleierten Ibrahima und Gatte Bolmerg aus dem Sudan machen. Und es gibt eigentlich keinen Grund, warum meine deutschen Normalverbraucher Otto, Lieschen, Jens und Mareike das anders sehen könnten als ihre Vorbeter aus Funk & Fernsehen. Immerhin: Sie sehens dann als ihre ganz persönliche Meinung an!
4.11. 2014
Seit Jahren werden wir – als natürliche „Lernpartner“ unserer Kinder – mit Hausaufgaben konfrontiert, die lauten: „Was ist Deine Meinung zu Primzahlen? Magst Du Sie? Begründe!“ oder, exakt heute: „Schreibe Deine Lieblingswortgruppen (mindestens vier) aus dem Text heraus!“
Nicht jede Meinung ist stets genehm: Gerade brachte die Achtjährige eine Drei in Heimatkunde – korrekt: SaU: Sachunterricht – nach Hause. Eine solche Note (in der Grundschule!) müßte eigentlich ein mehrtägiges Handyverbot nach sich ziehen – allein, sie hat ja gar keins! Und zum Treppenfegen & Wäscheaufhängen war sie eh dran. Woran ist es gescheitert? An 0 von möglichen 5 Punkten für die Aufgabe: „Wenn der Bauer nicht fleißig wirtschaftet, müssen wir hungern. Stimmt das? Begründe Deine Meinung!“ Die Tochter hat geschrieben: „Nein, es stimt nicht, weil wir haben Ziegen und Hühner und Enten und auserdem sehr viele Kartoffeln und Gemüse und eine kleine Mühle für Brotbacken-Mehl was uns langt, und wenn es nicht langt, haben wir noch Geld um uns was zu kaufen.(…)“ Eine Meinung! Fortschrittlich und altmodisch zugleich. Aber die richtige Meinung wäre eine andere gewesen.
6.11. 2014
Hab ich nicht gewußt: München sperrt sich beharrlich gegen Stolpersteine! Fast 50.000 dieser erhabenen Messingsteine (zu je 120 Euro) hat Gunter Deming in Deutschland verlegt, nur eben in München nicht, zumal nicht auf öffentlichem Grund. In der ZEIT schreibt Jens Jessen, die ersten beiden Steine für das 1941 ermordete Ehepaar Jordan seien noch am Tag ihrer Zementierung auf Anweisung der Verwaltung wieder entfernt worden. Für den Sohn Peter Jordan sei das so gewesen, als wären an jenem Tag seine Eltern „ein zweites Mal deportiert worden“. Jessen schreibt – und ich finde die Wortwahl berückend, gerade weil er sich extrem bemüht, sich jeder Ironie zu enthalten -, daß in Müchen ein „starkes Stolpersteinbedürfnis“ herrsche. Nun sei es aber so, daß Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeine in München und Stolpersteinskeptikerin anführe, daß die Kultobjekte ja „leichtfertig oder bewußt mit Füßen getreten , mit Exkrementen von Hunden beschmutzt oder beschädigt“ werden könnten. Jessen selbst setzt noch eins drauf: Womöglich ginge es den Stolpersteinbedürftigen sogar um „selbstgerechte Rührung“ und um den Wunsch, sich als „guter schön geläuterter Deutscher zu fühlen.“ Jessen selbst muß freilich langsam aufpassen, daß er über seine Worte nicht stolpert.
7.11. 2014
Wieder mal eine tolle innerfeministische Debatte! In der aktuellen Emma hatten sie ein Pro & Contra zu der Frage, ob die „bekennenden Feministinnen“ „Beyonce“ und „Miley Cyrus“, zwei Popsternchen also, dieses Etikett wirklich verdienen. Beide Ladies treten bekanntlich hypersexualisiert auf, räkeln sich halbnackt an Stangen, wackeln mit dem Pöchen und vollführen tanzend einschlägige Beischlafbewegungen – unter der Flagge des F.-Modeworts. Zwei Emma-Redakteurinnen haben ihre gegensätzlichen Meinungen kundgegeben. Frau Louis, lesbisches Emma-Urgestein, fand: nein, so geht´s nicht, Frau Eul hingegen (optisch eine enkelmäßige Kopie Schwarzers), findet den pornoaffinen Swing hingegen ultrafeministisch & cool, Stichwort: weibliche Selbstermächtigung.
Als wäre diese Debatte nicht schon bizarr genug, setzt die taz noch eins obendrauf. Hier wettert man dagegen, daß „weiße Frauen women of color sagen, wie sie mit ihren Körpern umzugehen haben.“
Heißt, wenn ich mir das richtig übersetze: Beyonce als „woman of colour“ gehört in die Sparte der Intersektionalität, ist also hinsichtlich ihres Diskriminierungspotentials zweifach behindert, sprich doppelsakrosankt: als dunkelhäutiger Mensch und als Frau. Im Diskriminierungsbereich gibt es eine strikte Hierarchie. Das Merkmal Frau ist schützenswert. Kommt Dunkelhäutigkeit hinzu, ist das bereits eine Art Eintrittskarte für die „Rote Liste“, noch stärker tabu für jede Kritik wären behinderte schwarze Frauen, deren Status wiederum getoppt würde von behinderten schwarzen Lesbierinnen.
Konkret: ein Mann sollte sich grundsätzlich mit Kritik an Frauen zurückhalten, und eine katholische, nichtbehinderte Frau soll niemals eine Handlung einer schwarzen Jüdin kritisieren. Es wird vertrackt: Was, wenn, eine weiße, transsexuelle Rollstuhlfahrerin sich von einer schwarzen, in einer Zwangsehe befindlichen Muslima gemobbt fühlt? Darf sie aufschreien?
Nun ist es so, daß die Emma sich anscheinend eine Aktion der AfD-Jugend auf Facebook zum Vorbild genommen hat. Die Emmas hatten sich zuvor sehr geärgert über junge AfD-Frauen, die sich mit selbstgeschriebenen Schildern fotografieren ließen, auf denen stand: „Ich bin keine Feminstin weil…“ – mit unterschiedlichen nachfolgenden Begründungen.
Daraufhin haben die Emmas eine twitter- Aktion #Emmaistfuermich in die Welt gesetzt. Nun hagelt es unter diesem sogenannten hashtag Beschimpfungen: Emmaistfuermich… „reaktionär“, „rassistisch“, „prostituiertenfeindlich“, nach untern tretend“ usw.
Herrlich! I love it!
Carsten
"Fast 50.000 dieser erhabenen Messingsteine (zu je 120 Euro) hat Gunter Deming in Deutschland verlegt"
Jedesmal wenn ich so ein Ding sehe, ärgere ich mich darüber, daß mir diese dreist geniale Geschäftsidee nicht eingefallen ist!
kommentar kubitschek:
mit anderen worten: Sie hätten nichts dagegen gehabt, am schuldkult ordentlich mitzuverdienen ...