Scherbenlese

55pdf der Druckfassung aus Sezession 55 / August 2013

von Manfred Kleine-Hartlage

Es fällt schwer, sich im eigenen Land nicht fremd zu fühlen, und paradoxerweise fühlt man sich um so fremder, je mehr man sich mit diesem Land, seinem Volk, seiner Kultur und Geschichte identifiziert. Das Gefühl von Fremdheit hat zwar auch mit der massenhaften Anwesenheit von Fremden zu tun – vor allem aber damit, daß man an der Masse der Deutschen vorbeiredet, wenn man eine Position rechts von dieser Masse vertritt.

Unse­re Mit­bür­ger ver­ste­hen uns um so weni­ger, je gebil­de­ter sie sind. Dies ist frap­pie­rend, denn nor­ma­ler­wei­se beinhal­tet Bil­dung die Fähig­keit, auch sol­che Mei­nun­gen zu ver­ste­hen, die man selbst nicht teilt. Eine Ver­stän­di­gung zwi­schen einem Rech­ten und einem Lin­ken oder auch nur Libe­ra­len ist schwie­ri­ger zu erzie­len als zwi­schen einem Eski­mo und einem Busch­mann: Letz­te­re wis­sen wenigs­tens, daß sie unter­schied­li­che Spra­chen spre­chen. Deut­sche unter­schied­li­cher poli­ti­scher Rich­tun­gen benut­zen die­sel­ben Wör­ter, mei­nen aber jeweils etwas völ­lig ande­res damit. 

Rech­te ver­ste­hen Wor­te wie »Viel­falt« oder »demo­gra­phi­scher Wan­del« bes­ten­falls als Euphe­mis­men, schlimms­ten­falls als Dro­hun­gen. Umge­kehrt wir­ken die ihnen ent­spre­chen­den rech­ten Voka­beln, »Über­frem­dung« und »Volks­tod«, auf einen Libe­ra­len min­des­tens befremd­lich und ver­däch­tig. Die Rech­te kann sich nicht ver­ständ­lich machen, weil inner­halb der mei­nungs­bil­den­den Eli­ten west­li­cher Gesell­schaf­ten über poli­ti­sche und gesell­schaft­li­che Fra­gen prak­tisch nur noch in Begrif­fen gespro­chen wird, die aus libe­ra­ler und sozia­lis­ti­scher Tra­di­ti­on stam­men. Die Ver­drän­gung der Rech­ten aus die­sen Eli­ten voll­zog sich in einem jahr­zehn­te­lan­gen, schlei­chen­den Pro­zeß, bei dem geziel­te Per­so­nal­po­li­tik eine eben­so gro­ße Rol­le spiel­te wie die Tat­sa­che, daß der Sieg einer libe­ra­len und einer kom­mu­nis­ti­schen Macht im Zwei­ten Welt­krieg poli­ti­sche Fak­ten geschaf­fen hat­te, deren nor­ma­ti­ve Kraft tief in die Gesell­schaft hin­ein­reich­te, im Wes­ten übri­gens mehr als im Osten.

Durch den Weg­fall des kon­ser­va­ti­ven Gegen­ge­wichts zu libe­ra­ler und sozia­lis­ti­scher Ideo­lo­gie ver­dich­te­ten sich deren gemein­sa­me Grund­an­nah­men, das heißt das auf­klä­re­ri­sche Para­dig­ma, zu einer Metaideo­lo­gie, die bestimmt, was über­haupt als ideo­lo­gisch akzep­ta­bel gilt. Die Leit­ge­dan­ken die­ses Para­dig­mas sind zu Selbst­ver­ständ­lich­kei­ten gewor­den: Den meis­ten Men­schen, sogar sol­chen, die sich als »Kon­ser­va­ti­ve« ver­ste­hen, ist nicht bewußt, daß ihr poli­ti­sches Den­ken auf Prä­mis­sen basiert, die ideo­lo­gi­sche Kon­struk­te dar­stel­len und nicht nur hin­ter­frag­bar, son­dern auch buch­stäb­lich frag-wür­dig sind.

Zu die­sen unbe­wuß­ten Prä­mis­sen, ohne die die vor­herr­schen­den lin­ken und libe­ra­len Ideen in der Luft hän­gen wür­den, gehö­ren die mit­ein­an­der zusam­men­hän­gen­den Vorstellungen:

  • Gesell­schaft sei von Men­schen gemacht und daher will­kür­lich veränderbar,
  • vor­auf­klä­re­ri­sche Wert­ori­en­tie­run­gen sei­en gegen­über ratio­nal abge­lei­te­ten minderwertig,
  • dem­ge­mäß sei der gesun­de Men­schen­ver­stand, in dem sich die evo­lu­tio­när bewähr­ten Lösun­gen des grund­le­gen­den Bestands­pro­blems von Gesell­schaft ver­dich­ten, ideo­lo­gisch fun­dier­ten Gesell­schafts­kon­zep­tio­nen a prio­ri unter­le­gen, wes­we­gen er auch die Domä­ne des »Stamm­tischs« sei,
  • gesell­schaft­li­che Struk­tu­ren sei­en repres­siv und daher zu ver­wer­fen, sofern sie nicht ein Maxi­mum an indi­vi­du­el­lem und kol­lek­ti­vem Gestal­tungs­spiel­raum gewähr­ten (also prak­tisch immer, sofern es sich über­haupt um Struk­tu­ren handelt),
  • eine Natur des Men­schen, die der Ver­wirk­li­chung eman­zi­pa­to­ri­scher Idea­le ent­ge­gen­stün­de, exis­tie­re nicht,
  • Fort­schritt bestehe in der Befrei­ung von vor­ge­fun­de­nen Bindungen,
  • die Geschich­te ken­ne mit­hin ein Ziel, min­des­tens aber eine Rich­tung – womit durch die Hin­ter­tür eben doch wie­der eine »Natur« des Men­schen pos­tu­liert wird, näm­lich eine utopiekompatible –,
  • wer die­se Natur nicht habe und an tra­di­tio­nel­len Wert­ori­en­tie­run­gen fest­hal­te, sei daher pervers,
  • wer gegen den »Fort­schritt« sei, sei dies nicht aus Ein­sicht in bestimm­te objek­ti­ve Zusam­men­hän­ge, son­dern aus dem bösen Wil­len, den »Fort­schritt« zu behindern,
  • die Alter­na­ti­ve zum jewei­li­gen Stand der Zivi­li­sa­ti­on sei nicht der Rück­fall in die Bar­ba­rei, son­dern der Fort­schritt zum Paradies,
  • und unwahr sei nicht, was der empi­ri­schen Wirk­lich­keit, son­dern was die­sen Axio­men wider­spre­che, deren »Wahr­heit« sich durch die Ver­wirk­li­chung einer auf ihnen beru­hen­den Gesell­schaft erwei­sen werde.

Eine sol­che Ideo­lo­gie negiert von vorn­her­ein den Wert vor­ge­fun­de­ner, also nicht bewußt erfun­de­ner und ratio­nal kon­zi­pier­ter Ori­en­tie­run­gen, ins­be­son­de­re die Bin­dun­gen an Fami­lie, Volk, Tra­di­ti­on, Reli­gi­on und über­lie­fer­te Auto­ri­tät. Poli­ti­sches Den­ken auf sol­cher Grund­la­ge kann gar nicht anders, als ein Pro­gramm der Destruk­ti­on her­vor­zu­brin­gen, dem nach und nach die ele­men­ta­ren Grund­la­gen der Gesell­schaft zum Opfer fal­len. Zwar zitie­ren auch libe­ra­le Autoren bis­wei­len noch das Böcken­­för­de-Dik­tum, wonach der libe­ra­le Staat von Vor­aus­set­zun­gen lebe, die er selbst nicht garan­tie­ren kön­ne, aber sie durch­schau­en sei­ne Trag­wei­te nicht. Ins­be­son­de­re ist ihnen meist nicht klar, daß die Zer­stö­rung von Bin­dun­gen gleich­be­deu­tend ist mit der Zer­stö­rung der Vor­aus­set­zun­gen der Frei­heit, und daß die Zer­split­te­rung, die Ato­mi­sie­rung der Gesell­schaft Pro­ble­me erzeugt, die dann zuneh­mend nur mit repres­si­ven, am Ende tota­li­tä­ren, in jedem Fal­le aber illi­be­ra­len Mit­teln unter Kon­trol­le gehal­ten wer­den können.

Die auf­klä­re­ri­sche Idee, wonach die Geschich­te eine Rich­tung ken­ne, hat inso­fern und aus den­sel­ben Grün­den einen wah­ren Kern, als auch die phy­si­ka­li­sche Welt eine imma­nen­te Rich­tung kennt, näm­lich die Rich­tung zuneh­men­der Entro­pie, das heißt zuneh­men­der Struk­tur­lo­sig­keit. In dem­sel­ben Sin­ne, wie phy­si­ka­li­sche Sys­te­me auf die Dau­er nur durch Ener­gie­zu­fuhr von außen sta­bil gehal­ten wer­den kön­nen, for­dern die durch Auf­klä­rung in Gang gesetz­ten sozia­len Zer­set­zungs­pro­zes­se auto­ri­tä­re »Lösun­gen« her­aus, bei denen die schwin­den­de Eigen­sta­bi­li­tät des Sys­tems durch gewalt­sa­me Sta­bi­li­sie­rung von außen und oben ersetzt wird. Nicht die Frei­heit als sol­che, wohl aber eine aus ideo­lo­gi­schen Grün­den immer wei­ter getrie­be­ne Libe­ra­li­sie­rung ebnet den Weg zur Knechtschaft.

Die Kern­an­nah­men die­ser Metaideo­lo­gie wer­den kaum jemals als sol­che expli­zit pro­pa­giert. Die mei­nungs­bil­den­den Eli­ten streu­en sie ins Volk, indem sie bis weit in die Popu­lär­kul­tur hin­ein jede erdenk­li­che poli­ti­sche und gesell­schaft­li­che Fra­ge unter Gesichts­punk­ten behan­deln, die die Gül­tig­keit die­ser Annah­men impli­zit vor­aus­set­zen. Dadurch, daß sie nicht the­ma­ti­siert wer­den, son­dern als Vor­aus­set­zun­gen gel­ten, wer­den sie zu Selbst­ver­ständ­lich­kei­ten. Der herr­schen­de Dis­kurs ent­wi­ckelt aus die­sen fal­schen Prä­mis­sen ein immer eng­ma­schi­ge­res Netz von fal­schen, ein­an­der aber zir­ku­lär bestä­ti­gen­den Wirk­lich­keits­be­schrei­bun­gen, und die Gesell­schaft, die sich in die­sem Netz aus irrea­len Annah­men ver­fängt, ver­liert dadurch zuneh­mend ihre Fähig­keit, Pro­ble­me zu lösen.

Der poli­ti­schen Rech­ten, die einen Gegen­dis­kurs zu eta­blie­ren sucht, fehlt auf­grund ihrer sozia­len und poli­ti­schen Mar­gi­na­li­sie­rung der kul­tu­rel­le Reso­nanz­bo­den, der ihren The­men Plau­si­bi­li­tät und Respek­ta­bi­li­tät ver­lei­hen wür­de. Sie macht es sich aber auch selbst schwer, indem sie sich in tra­di­tio­nel­len, meist mehr oder weni­ger reli­gi­ös fun­dier­ten Begrif­fen arti­ku­liert, die sie selbst für unmit­tel­bar ein­leuch­tend und daher nicht wei­ter begrün­dungs­be­dürf­tig hält. Eine dar­auf auf­bau­en­de Argu­men­ta­ti­ons­stra­te­gie ver­fängt zwar dort, wo immer noch der gesun­de Men­schen­ver­stand herrscht, das heißt in den Tei­len der Gesell­schaft, in denen das gleich­sam instink­ti­ve Wis­sen um die Grund­la­gen der poli­ti­schen Ord­nung und der Gesell­schaft noch intakt ist. Dies sind aber gera­de nicht die Eliten.

Gegen­über die­sen Eli­ten, denen sol­che Begrif­fe eben nicht mehr ein­leuch­ten, ist die tra­di­tio­nel­le Spra­che der Rech­ten unan­ge­mes­sen. Die Kom­mu­ni­ka­ti­ons­stö­rung ist pro­gram­miert. Der eta­blier­te »Kon­ser­va­tis­mus«, nament­lich der Uni­ons­par­tei­en, sucht in die­ser Situa­ti­on sein Heil dar­in, einen Gegen­dis­kurs gar nicht mehr zu ver­su­chen und Kri­tik an lin­ker und libe­ra­ler Ideo­lo­gie über­haupt nicht mehr als grund­sätz­li­che, son­dern bloß noch als rela­ti­vie­ren­de Kri­tik zu üben, die dar­auf abzielt, das Zer­stö­rungs­werk der Lin­ken zwar zu brem­sen, aber nicht mehr zu verhindern.

Ande­re Tei­le des kon­ser­va­ti­ven bis rech­ten Spek­trums bevor­zu­gen den Rück­zug ins jus­te milieu der Recht­gläu­bi­gen und Gleich­ge­sinn­ten, in die Wagen­burg der gemein­sa­men Trotz­hal­tung, ins Kar­tell des gegen­sei­ti­gen Schul­ter­klop­fens, und erge­hen sich dort ent­we­der im Gejam­mer von Ver­lie­rern oder in illu­sio­nä­rem Autis­mus, bis die Zeit end­gül­tig über sie hinweggeht.

Wenn aber die Dia­gno­se rich­tig ist, daß unse­re Kom­mu­ni­ka­ti­ons­pro­ble­me vor allem dar­in ihre Ursa­che haben, daß wei­te Tei­le der Gesell­schaft eine fal­sche Ideo­lo­gie als Selbst­ver­ständ­lich­keit ver­in­ner­licht haben; wenn wir fer­ner beden­ken, daß der Gegen­satz zwi­schen die­ser Ideo­lo­gie und der Wirk­lich­keit für jeder­mann wahr­nehm­bar ist, daß die herr­schen­den Eli­ten des­we­gen immer mehr zur Repres­si­on grei­fen müs­sen, und daß sich dar­in ihre Achil­les­fer­se offen­bart – dann ist die Schluß­fol­ge­rung unab­weis­bar, daß ein rech­ter Gegen­dis­kurs pole­misch gegen die­se fal­sche Ideo­lo­gie, ihre Impli­ka­tio­nen und die sie ver­tre­ten­den poli­ti­schen Kräf­te geführt wer­den muß.

Es genügt nicht, auf den eige­nen ewi­gen Wahr­hei­ten zu behar­ren und der Gegen­sei­te die Unfair­neß ihrer Metho­den vor­zu­wer­fen. Es genügt auch nicht, ihre aus der Uto­pie abge­lei­te­ten Wahr­heits­an­sprü­che ein­fach (also letzt­lich durch Igno­rie­ren) zu negie­ren, man muß sie dia­lek­tisch negie­ren: Man muß die feind­li­che Ideo­lo­gie kom­pro­miß­los und bis in ihre Fun­da­men­te hin­ein kri­ti­sie­ren, indem man zeigt, daß und war­um die herr­schen­de Metaideo­lo­gie, sofern die Gesell­schaft sich von ihr lei­ten läßt, mit Not­wen­dig­keit nicht etwa eine bloß unvoll­kom­me­ne Ver­si­on der von ihr pos­tu­lier­ten Zie­le ver­wirk­licht, son­dern deren Gegen­teil. Erst auf der Basis die­ser not­wen­dig destruk­ti­ven Vor­ar­beit (bei der man aller­dings die sicht­ba­re Rea­li­tät zum Ver­bün­de­ten hat) kön­nen die eige­nen The­men und Begrif­fe wie­der Plau­si­bi­li­tät gewin­nen. Gera­de für den, der sich stra­te­gisch in der Defen­si­ve befin­det, gilt das Prin­zip, daß Angriff die bes­te Ver­tei­di­gung ist.

An die­ser Stel­le sei nicht unter­schla­gen, daß eine sol­che Stra­te­gie der Rech­ten in ein Dilem­ma führt: Die Bin­dung an Gott, das Volk, das Vater­land, über­haupt an tra­di­tio­nel­le Wer­te ver­liert an nor­ma­ti­ver Kraft in dem Maße, wie sie nicht als Selbst­ver­ständ­lich­keit, son­dern als Ergeb­nis der Kri­tik an einem Gegen­ent­wurf, als Kri­tik der Kri­tik, als Auf­klä­rung über die Fol­gen der Auf­klä­rung bejaht wird. Was auf­grund eines Argu­ments bejaht wird, kann poten­ti­ell immer auch ver­neint wer­den, wäh­rend das Selbst­ver­ständ­li­che gar nicht erst bejaht wer­den muß. Kri­tik ist dia­lek­ti­sche Nega­ti­on, das heißt, sie ent­hält in sich auch das Negierte. 

Die »Wagen­burg-Kon­ser­va­ti­ven« haben inso­fern instink­tiv einen wich­ti­gen Gesichts­punkt erfaßt: Eine Gesell­schaft, die auf der Basis rech­ter Kri­tik an auf­klä­re­ri­scher Ideo­lo­gie rekon­sti­tu­iert wird, gleicht einem aus Scher­ben wie­der zusam­men­ge­kleb­ten Ton­ge­fäß, das natur­ge­mäß nicht die­sel­be Sta­bi­li­tät wie das unver­sehr­te Ori­gi­nal haben kann. Daß man eine zer­bro­che­ne Gesell­schaft genau­so­we­nig in den Zustand der Unver­sehrt­heit zurück­ver­set­zen kann wie eine zer­bro­che­ne Vase, ist frei­lich kein Argu­ment, sie nicht wenigs­tens wie­der zusammenzukleben.

Nichts schreibt sich
von allein!

Das Blog der Zeitschrift Sezession ist die wichtigste rechtsintellektuelle Stimme im Netz. Es lebt vom Fleiß, von der Lesewut und von der Sprachkraft seiner Autoren. Wenn Sie diesen Federn Zeit und Ruhe verschaffen möchten, können Sie das mit einem Betrag Ihrer Wahl tun.

Sezession
DE58 8005 3762 1894 1405 98
NOLADE21HAL

Kommentare (0)

Für diesen Beitrag ist die Diskussion geschlossen.