Noch größere Freude dürfte sie über die Entscheidung des Gerichts empfunden haben, daß christliche Kreuze in Klassenzimmern nicht mit der Europäischen Menschenrechtskonvention vereinbar sind, da sie den Eltern die Freiheit nähmen, ihre Kinder nach ihren Überzeugungen zu erziehen. Jahrelang hatte die aus Finnland stammende Mutter vor italienischen Gerichten vergeblich gegen das Kruzifix in den Klassenzimmern ihrer beiden Söhne geklagt.
Italien blieb souverän. Die Regierung Berlusconi beantragte eine Überprüfung des Urteils. Schon im März 2011 wurde es von der Großen Kammer des Gerichts mit einer Mehrheit von 15 zu zwei Stimmen wieder aufgehoben. Ob die massiven Proteste, weit über Italien hinaus, zu dieser Revision führten, sei dahingestellt. Tatsache ist, daß in Italien auch die Linke gegen die erste Straßburger Entscheidung auf die Barrikaden stieg, aber dort sind ja auch Atheisten, Agnostiker und (Ex-)Kommunisten in der Lage, zwischen dem Kreuz als Glaubensbekenntnis und seinem Symbolcharakter für die kulturelle Tradition und Identität des Landes zu unterscheiden. Man denke nur an den früheren Senatspräsidenten Marcello Pera, der zusammen mit Papst Benedikt XVI. ein Buch vorlegte, in dem er sich in bewegenden Worten für die Bewahrung der im Christentum wurzelnden kulturellen Identität Europas ausspricht, oder an die Journalistin Oriana Fallaci, die sich in einem ihrer letzten Artikel, einem literarischen Vulkanausbruch, mit Worten der Verehrung, der Zuneigung und der Verzweiflung an Papst Benedikt XVI. wandte, weil sie die kulturelle Identität Italiens und seine Humanität durch islamistischen Radikalismus bedroht sah.
Vielleicht hat die Angst vor einer Blamage die Straßburger Richter dazu bewogen, das Ersturteil aufzuheben? Denn was wäre geschehen, hätte sich Italien nicht daran gehalten? Wer hätte dem Urteil Geltung verschaffen sollen, gegen den Willen eines Volkes, das sich laut Umfragen mit einer Mehrheit von 86 Prozent für das Kreuz entschied? Dämmerte es den Richtern, daß das ganze Projekt eines abgehobenen Elite-Europas zur Debatte stand? Lieber das Ersturteil kassieren, als Europa delegitimieren, mochten sich die Richter gedacht haben. Der Versuch war erst einmal gescheitert, das auf europäischem Boden entstandene Prinzip der universellen Menschenrechte dazu zu verwenden, jenes christliche Erbe, in dem es zu einem Gutteil wurzelt, aus dem öffentlichen Raum zu drängen.
In der immer mehr um sich greifenden Diskriminierung christlicher Symbole im öffentlichen Raum im Namen der Menschenrechte tritt eine tiefergehende Krise des europäischen Selbstverständnisses zutage. Im gegenwärtigen Kulturkampf um die Auslegung der Menschenrechte wird nämlich dieses hohe ideelle Gut der Neuzeit mißbraucht, indem es auf eine Weise gegen die Grundlagen der modernen Gesellschaft und die staatliche Souveränität in Stellung gebracht wird, die seinen ursprünglichen Intentionen entgegensteht. Die Spannung zwischen dem Menschenrecht auf Religionsfreiheit, wie es im Artikel 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention niedergelegt ist, und einer kulturvergessenen Rechtsauslegung dieses Menschenrechts enthüllt, auf welch brüchigem Boden das Gebäude der Menschrechte errichtet wurde.
Die Aporie zwischen individuellen Neigungen und Ansprüchen sowie den Interessen des modernen Gemeinwesens hat Ernst-Wolfgang Böckenförde in seinem berühmten Satz auf den Punkt gebracht: »Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann«. Diese vorpolitischen Voraussetzungen wie die »moralische Substanz des einzelnen« und die »Homogenität der Gesellschaft« werden mehr und mehr einem Erosionsprozeß im Namen der Menschenrechte ausgesetzt. Ein Blick auf die Geschichte der Entwicklung der Menschenrechtsidee macht deutlich, welche spezifische Rolle sie im Selbstverständnis moderner westlicher Gesellschaften spielt und warum die gegenwärtige Tendenz, sie gegen ihre eigenen Grundlagen in Stellung zu bringen, auf die Beseitigung dieser Gesellschaften und ihrer staalichen Ordung zielt, auch wenn gewiß nicht jeder, der die Menschenrechtsidee auf diese Weise mißbraucht, sich dieser Folgen seines Tuns bewußt ist.
Die Vorläufer der modernen Idee der Menschenrechte sind die christliche Lehre von der Einzigartigkeit jedes Menschen als Ebenbild Gottes und das Menschenbild der Stoa. In den Rang einer politischen Gestaltungskraft gelangte sie in Europa und Amerika jedoch erst in der Neuzeit. Sie setzt die Existenz von Bedingungen voraus, die sich in der besonderen historischen Lage herausgebildet haben, als der Leitgedanke der Volkssouveränität die alte Vorstellung von der dynastischen Legitimierung des politischen Gemeinwesens durch den Fürsten als weltlichem Stellvertreter Gottes ablöste. Die Loyalität der durch die Nation geeinten Bürgerschaft gegenüber ihrem Staat und die Fürsorge des Staates gegenüber seinen einzelnen Bürgern wurde durch den Katalog der Menschen- und Bürgerrechte kodifiziert, der an die Stelle des alten Systems der konzentrischen Ethik gegenseitiger Rechte und Pflichten von Fürst und Untertan trat. Die wichtigsten Stadien der Entwicklung der modernen allgemeinen Menschenrechte waren die Grundrechteerklärung von Virginia (1776), die in den ersten zehn Zusatzerklärungen (amendments) zur Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika niedergelegte Bill of Rights (1789) sowie die Erklärungen der Menschen- und Bürgerrechte im Rahmen der Französischen Revolution von 1789 und 1793.
Die Menschen- und Bürgerrechte dieser grundlegenden ursprünglichen Proklamationen wie etwa die Gleichheit vor dem Gesetz, das Recht auf Freiheit, Eigentum, Sicherheit, das Widerstandsrecht gegen Unterdrückung sowie Meinungsfreiheit, Pressefreiheit und das Prinzip der Volkssouveränität gehören zusammen. Sie sind Teile eines ideellen Instrumentariums, das der Legitimierung der neuen Ordnung der politischen Nation dienen sollte. Menschenrechte sind an Bürgerrechte gekoppelt, sie waren als politische Rechte gedacht, die es den Bürgern möglich machen sollten, an der Herausbildung der volonté générale mitzuwirken. Privates wird geschützt, es geht das Gemeinwesen nichts an, vorausgesetzt, die Rechte anderer Bürger werden nicht geschmälert. Das Grundrecht auf Meinungs- und Pressefreiheit in der Verfassung der USA, wie es der Erste Verfassungszusatz festlegt, bedeutet beispielsweise, daß die Regierung kein Recht hat, Kritik an ihrer Amtsführung zu unterbinden.
Die freie Diskussion und die Bildung einer kritischen öffentlichen Meinung bezüglich öffentlicher Angelegenheiten und die Kritik an politischen Maßnahmen und öffentlichen Amtsträgern darf nicht durch den Kongreß behindert werden. Die Idee der Menschen- und Bürgerrechte ist also im politischen Sinne emanzipatorisch. Freie Meinungsäußerung und Pressefreiheit sollen sich jedoch im Rahmen eines als selbstverständlich vorausgesetzten ethischen Grundverständnisses entfalten, nicht Ethik und Anstand außer Kraft setzen. Die Urheber der großen Menschenrechteproklamationen wollten keinen Freibrief für die Verletzung der öffentlichen Moral ausstellen, und auch keinen für die Verbreitung von Pornographie, die Gotteslästerung, die Propagierung von Verbrechen und ähnliches. Solch ein Freibrief läßt sich auch nicht aus der »Universal Declaration of Human Rights« von 1948 herauslesen. Sie legt beispielsweise in Artikel 16.3 fest, daß die Familie »die natürliche Grundeinheit der Gesellschaft« sei und »Anspruch auf Schutz durch Gesellschaft und Staat« habe. Es wird des weiteren festgelegt: »Jeder hat Pflichten gegenüber der Gemeinschaft, in der allein die freie und volle Entfaltung seiner Persönlichkeit möglich ist« (Artikel 29.1).
Die hedonistisch-libertinistischen Kräfte der Gegenwart in politischen Parteien, zivilgesellschaftlichen Interessengruppen und dem ihnen verbandelten »Qualitätsjournalismus« führen jedoch einen neuen Kulturkampf gegen die bislang selbstverständlichen gesellschaftlichen Grundlagen. Mit dem Verweis auf die Menschenrechte fordern sie die weltanschauliche Neutralität des Staates im Sinne einer zeitgeistkonformen radikalindividualistischen und permissiven Haltung. Der Publizist André F. Lichtschlag, Herausgeber des libertären Magazins eigentümlich frei, hat dies am Beispiel des Vorschlags der Lutherstädte deutlich gemacht, eine mysteriöse Gruppe junger russischer Provokateurinnen, die sich den Namen »Mösenaufruhr« zugelegt hat, mit einem Preis für Demokratie und Menschenrechte auszuzeichnen.
Die Menschenwürde werde heute, auch durch das Bundesverfassungsgericht, zunehmend im Sinne der permissiven Grundhaltung des gegenwärtigen Zeitgeistes gedeutet, die für westliche Demokratien insgesamt kennzeichnend sei, meint der Philosoph Werner Theobald. »Linksliberale Würdeansprüche« wie freiheitliche »repressionsfreie« Selbstbestimmung, ungestörte Selbstentfaltung, Individualität, Autonomie des Individuums, Legalisierung von Abtreibung und »sanften« Drogen, gesetzlich anerkannte gleichgeschlechtliche Partnerschaften und dergleichen sind allerdings kaum verallgemeinerbar. Die Legalisierung der Abtreibung, gleichgeschlechtlicher Partnerschaften oder aktiver Sterbehilfe, die unter Hinweis auf Menschenwürde und Menschenrechte durchgesetzt wird, ist für Moslems undenkbar. Offenbar ist es also gar nicht so ernst gemeint mit dem Bekenntnis, daß der Islam zu Deutschland gehöre. In den radikalindividualistisch-permissiven »Würdeansprüchen« kommt daher der ideologische Gehalt der Moderne zum Ausdruck, die sich auf die westliche Aufklärung beruft, deren Vernunftbegriff zu Unrecht absolut setzt und so »ihre eigene partikuläre Gültigkeit verkennt«. Der Universalitätsanspruch dieser »aufgeklärten Vernunft« ist jedoch selber kulturell an die Situation des Westens von heute gebunden.
Die Hofierung des Islam in den gleichen Kreisen, die permissive Würdeansprüche anmelden und das Christentum diskriminieren, ist ein Ablenkungsmanöver mit multikultureller Tünche, denn zwischen den Überzeugungen von Moslems und westlichen Konservativen gibt es zahlreiche Übereinstimmungen. Es geht auch nicht um »Rechts« gegen »Links«, denn ohne einen patriotischen Grundkonsens und einen festen Bestand an bürgerlichen Tugenden kann man keinen Staat machen, auch keinen sozialistischen: »Vaterland oder Tod« war Fidel Castros Schlachtruf; »Du sollst sauber und anständig leben und Deine Familie achten«, verkündete Walter Ulbricht 1958 in »Zehn Gebote der sozialistischen Moral und Ethik« auf dem V. Parteitag der SED. Dabei dachte er gewiß nicht an die Homo-Ehe, die übrigens gemäß einem Straßburger Urteil von 2010 kein Menschenrecht ist – vorläufig.
In Wirklichkeit geht es bei alledem um Macht. Heute stehen sich die Kräfte des Identitären und Lokalen einerseits und die neuen Eliten andererseits gegenüber, die wohl von der Abschaffung der Ehe, einem einzigen Geschlecht in einem Europa ohne Grenzen und Vaterländer, regiert durch eine Einheitspartei und eine allmächtige Kommission träumen. Neben der Schleifung der inneren bürgerlichen Fundamente der Staaten steht die Abschaffung ihrer Souveränität auf der Tagesordnung. Der Kampf gegen die innere Verfassung von Staat und Gesellschaft im Namen der Menschenrechte findet seine Ergänzung im Menschenrechteimperialismus der »einzigen verbliebenen Weltmacht«, des Nutznießers der Schwächung anderer Länder durch den neuen Kulturkampf.