Menschenrechte und nationale Souveränität

55pdf der Druckfassung aus Sezession 55 / August 2013

von Thomas Bargatzky

Soile Lautsi konnte zufrieden sein. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte ihr am 3. November 2009 eine Entschädigung in Höhe von 5000 Euro zugesprochen.

Noch grö­ße­re Freu­de dürf­te sie über die Ent­schei­dung des Gerichts emp­fun­den haben, daß christ­li­che Kreu­ze in Klas­sen­zim­mern nicht mit der Euro­päi­schen Men­schen­rechts­kon­ven­ti­on ver­ein­bar sind, da sie den Eltern die Frei­heit näh­men, ihre Kin­der nach ihren Über­zeu­gun­gen zu erzie­hen. Jah­re­lang hat­te die aus Finn­land stam­men­de Mut­ter vor ita­lie­ni­schen Gerich­ten ver­geb­lich gegen das Kru­zi­fix in den Klas­sen­zim­mern ihrer bei­den Söh­ne geklagt.

Ita­li­en blieb sou­ve­rän. Die Regie­rung Ber­lus­co­ni bean­trag­te eine Über­prü­fung des Urteils. Schon im März 2011 wur­de es von der Gro­ßen Kam­mer des Gerichts mit einer Mehr­heit von 15 zu zwei Stim­men wie­der auf­ge­ho­ben. Ob die mas­si­ven Pro­tes­te, weit über Ita­li­en hin­aus, zu die­ser Revi­si­on führ­ten, sei dahin­ge­stellt. Tat­sa­che ist, daß in Ita­li­en auch die Lin­ke gegen die ers­te Straß­bur­ger Ent­schei­dung auf die Bar­ri­ka­den stieg, aber dort sind ja auch Athe­is­ten, Agnos­ti­ker und (Ex-)Kommunisten in der Lage, zwi­schen dem Kreuz als Glau­bens­be­kennt­nis und sei­nem Sym­bol­cha­rak­ter für die kul­tu­rel­le Tra­di­ti­on und Iden­ti­tät des Lan­des zu unter­schei­den. Man den­ke nur an den frü­he­ren Senats­prä­si­den­ten Mar­cel­lo Pera, der zusam­men mit Papst Bene­dikt XVI. ein Buch vor­leg­te, in dem er sich in bewe­gen­den Wor­ten für die Bewah­rung der im Chris­ten­tum wur­zeln­den kul­tu­rel­len Iden­ti­tät Euro­pas aus­spricht, oder an die Jour­na­lis­tin Oria­na Fall­a­ci, die sich in einem ihrer letz­ten Arti­kel, einem lite­ra­ri­schen Vul­kan­aus­bruch, mit Wor­ten der Ver­eh­rung, der Zunei­gung und der Ver­zweif­lung an Papst Bene­dikt XVI. wand­te, weil sie die kul­tu­rel­le Iden­ti­tät Ita­li­ens und sei­ne Huma­ni­tät durch isla­mis­ti­schen Radi­ka­lis­mus bedroht sah.

Viel­leicht hat die Angst vor einer Bla­ma­ge die Straß­bur­ger Rich­ter dazu bewo­gen, das Erst­ur­teil auf­zu­he­ben? Denn was wäre gesche­hen, hät­te sich Ita­li­en nicht dar­an gehal­ten? Wer hät­te dem Urteil Gel­tung ver­schaf­fen sol­len, gegen den Wil­len eines Vol­kes, das sich laut Umfra­gen mit einer Mehr­heit von 86 Pro­zent für das Kreuz ent­schied? Däm­mer­te es den Rich­tern, daß das gan­ze Pro­jekt eines abge­ho­be­nen Eli­te-Euro­pas zur Debat­te stand? Lie­ber das Erst­ur­teil kas­sie­ren, als Euro­pa dele­gi­ti­mie­ren, moch­ten sich die Rich­ter gedacht haben. Der Ver­such war erst ein­mal geschei­tert, das auf euro­päi­schem Boden ent­stan­de­ne Prin­zip der uni­ver­sel­len Men­schen­rech­te dazu zu ver­wen­den, jenes christ­li­che Erbe, in dem es zu einem Gut­teil wur­zelt, aus dem öffent­li­chen Raum zu drängen.

In der immer mehr um sich grei­fen­den Dis­kri­mi­nie­rung christ­li­cher Sym­bo­le im öffent­li­chen Raum im Namen der Men­schen­rech­te tritt eine tie­fer­ge­hen­de Kri­se des euro­päi­schen Selbst­ver­ständ­nis­ses zuta­ge. Im gegen­wär­ti­gen Kul­tur­kampf um die Aus­le­gung der Men­schen­rech­te wird näm­lich die­ses hohe ideel­le Gut der Neu­zeit miß­braucht, indem es auf eine Wei­se gegen die Grund­la­gen der moder­nen Gesell­schaft und die staat­li­che Sou­ve­rä­ni­tät in Stel­lung gebracht wird, die sei­nen ursprüng­li­chen Inten­tio­nen ent­ge­gen­steht. Die Span­nung zwi­schen dem Men­schen­recht auf Reli­gi­ons­frei­heit, wie es im Arti­kel 9 der Euro­päi­schen Men­schen­rechts­kon­ven­ti­on nie­der­ge­legt ist, und einer kul­tur­ver­ges­se­nen Rechts­aus­le­gung die­ses Men­schen­rechts ent­hüllt, auf welch brü­chi­gem Boden das Gebäu­de der Men­sch­rech­te errich­tet wurde.

Die Apo­rie zwi­schen indi­vi­du­el­len Nei­gun­gen und Ansprü­chen sowie den Inter­es­sen des moder­nen Gemein­we­sens hat Ernst-Wolf­gang Böcken­förde in sei­nem berühm­ten Satz auf den Punkt gebracht: »Der frei­heit­li­che, säku­la­ri­sier­te Staat lebt von Vor­aus­set­zun­gen, die er selbst nicht garan­tie­ren kann«. Die­se vor­po­li­ti­schen Vor­aus­set­zun­gen wie die »mora­li­sche Sub­stanz des ein­zel­nen« und die »Homo­ge­ni­tät der Gesell­schaft« wer­den mehr und mehr einem Ero­si­ons­pro­zeß im Namen der Men­schen­rech­te aus­ge­setzt. Ein Blick auf die Geschich­te der Ent­wick­lung der Men­schen­rechts­idee macht deut­lich, wel­che spe­zi­fi­sche Rol­le sie im Selbst­ver­ständ­nis moder­ner west­li­cher Gesell­schaf­ten spielt und war­um die gegen­wär­ti­ge Ten­denz, sie gegen ihre eige­nen Grund­la­gen in Stel­lung zu brin­gen, auf die Besei­ti­gung die­ser Gesell­schaf­ten und ihrer staa­li­chen Ordung zielt, auch wenn gewiß nicht jeder, der die Men­schen­rechts­idee auf die­se Wei­se miß­braucht, sich die­ser Fol­gen sei­nes Tuns bewußt ist. 

Die Vor­läu­fer der moder­nen Idee der Men­schen­rech­te sind die christ­li­che Leh­re von der Ein­zig­ar­tig­keit jedes Men­schen als Eben­bild Got­tes und das Men­schen­bild der Stoa. In den Rang einer poli­ti­schen Gestal­tungs­kraft gelang­te sie in Euro­pa und Ame­ri­ka jedoch erst in der Neu­zeit. Sie setzt die Exis­tenz von Bedin­gun­gen vor­aus, die sich in der beson­de­ren his­to­ri­schen Lage her­aus­ge­bil­det haben, als der Leit­ge­dan­ke der Volks­sou­ve­rä­ni­tät die alte Vor­stel­lung von der dynas­ti­schen Legi­ti­mie­rung des poli­ti­schen Gemein­we­sens durch den Fürs­ten als welt­li­chem Stell­ver­tre­ter Got­tes ablös­te. Die Loya­li­tät der durch die Nati­on geein­ten Bür­ger­schaft gegen­über ihrem Staat und die Für­sor­ge des Staa­tes gegen­über sei­nen ein­zel­nen Bür­gern wur­de durch den Kata­log der Men­schen- und Bür­ger­rech­te kodi­fi­ziert, der an die Stel­le des alten Sys­tems der kon­zen­tri­schen Ethik gegen­sei­ti­ger Rech­te und Pflich­ten von Fürst und Unter­tan trat. Die wich­tigs­ten Sta­di­en der Ent­wick­lung der moder­nen all­ge­mei­nen Men­schen­rech­te waren die Grund­rech­te­er­klä­rung von Vir­gi­nia (1776), die in den ers­ten zehn Zusatz­er­klä­run­gen (amend­ments) zur Ver­fas­sung der Ver­ei­nig­ten Staa­ten von Ame­ri­ka nie­der­ge­leg­te Bill of Rights (1789) sowie die Erklä­run­gen der Men­schen- und Bür­ger­rech­te im Rah­men der Fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on von 1789 und 1793. 

Die Men­schen- und Bür­ger­rech­te die­ser grund­le­gen­den ursprüng­li­chen Pro­kla­ma­tio­nen wie etwa die Gleich­heit vor dem Gesetz, das Recht auf Frei­heit, Eigen­tum, Sicher­heit, das Wider­stands­recht gegen Unter­drü­ckung sowie Mei­nungs­frei­heit, Pres­se­frei­heit und das Prin­zip der Volks­sou­ve­rä­ni­tät gehö­ren zusam­men. Sie sind Tei­le eines ideel­len Instru­men­ta­ri­ums, das der Legi­ti­mie­rung der neu­en Ord­nung der poli­ti­schen Nati­on die­nen soll­te. Men­schen­rech­te sind an Bür­ger­rech­te gekop­pelt, sie waren als poli­ti­sche Rech­te gedacht, die es den Bür­gern mög­lich machen soll­ten, an der Her­aus­bil­dung der volon­té géné­ra­le mit­zu­wir­ken. Pri­va­tes wird geschützt, es geht das Gemein­we­sen nichts an, vor­aus­ge­setzt, die Rech­te ande­rer Bür­ger wer­den nicht geschmä­lert. Das Grund­recht auf Mei­nungs- und Pres­se­frei­heit in der Ver­fas­sung der USA, wie es der Ers­te Ver­fas­sungs­zu­satz fest­legt, bedeu­tet bei­spiels­wei­se, daß die Regie­rung kein Recht hat, Kri­tik an ihrer Amts­füh­rung zu unterbinden. 

Die freie Dis­kus­si­on und die Bil­dung einer kri­ti­schen öffent­li­chen Mei­nung bezüg­lich öffent­li­cher Ange­le­gen­hei­ten und die Kri­tik an poli­ti­schen Maß­nah­men und öffent­li­chen Amts­trä­gern darf nicht durch den Kon­greß behin­dert wer­den. Die Idee der Men­schen- und Bür­ger­rech­te ist also im poli­ti­schen Sin­ne eman­zi­pa­to­risch. Freie Mei­nungs­äu­ße­rung und Pres­se­frei­heit sol­len sich jedoch im Rah­men eines als selbst­ver­ständ­lich vor­aus­ge­setz­ten ethi­schen Grund­ver­ständ­nis­ses ent­fal­ten, nicht Ethik und Anstand außer Kraft set­zen. Die Urhe­ber der gro­ßen Menschenrechte­proklamationen woll­ten kei­nen Frei­brief für die Ver­let­zung der öffent­li­chen Moral aus­stel­len, und auch kei­nen für die Ver­brei­tung von Por­no­gra­phie, die Got­tes­läs­te­rung, die Pro­pa­gie­rung von Ver­bre­chen und ähn­li­ches. Solch ein Frei­brief läßt sich auch nicht aus der »Uni­ver­sal Decla­ra­ti­on of Human Rights« von 1948 her­aus­le­sen. Sie legt bei­spiels­wei­se in Arti­kel 16.3 fest, daß die Fami­lie »die natür­li­che Grund­ein­heit der Gesell­schaft« sei und »Anspruch auf Schutz durch Gesell­schaft und Staat« habe. Es wird des wei­te­ren fest­ge­legt: »Jeder hat Pflich­ten gegen­über der Gemein­schaft, in der allein die freie und vol­le Ent­fal­tung sei­ner Per­sön­lich­keit mög­lich ist« (Arti­kel 29.1).

Die hedo­nis­tisch-liber­ti­nis­ti­schen Kräf­te der Gegen­wart in poli­ti­schen Par­tei­en, zivil­ge­sell­schaft­li­chen Inter­es­sen­grup­pen und dem ihnen ver­ban­del­ten »Qua­li­täts­jour­na­lis­mus« füh­ren jedoch einen neu­en Kul­tur­kampf gegen die bis­lang selbst­ver­ständ­li­chen gesell­schaft­li­chen Grund­la­gen. Mit dem Ver­weis auf die Men­schen­rech­te for­dern sie die welt­an­schau­li­che Neu­tra­li­tät des Staa­tes im Sin­ne einer zeit­geist­kon­for­men radi­kalindividualistischen und per­mis­si­ven Hal­tung. Der Publi­zist André F. Licht­schlag, Her­aus­ge­ber des liber­tä­ren Maga­zins eigen­tüm­lich frei, hat dies am Bei­spiel des Vor­schlags der Luther­städ­te deut­lich gemacht, eine mys­te­riö­se Grup­pe jun­ger rus­si­scher Pro­vo­ka­teu­rin­nen, die sich den Namen »Mösen­auf­ruhr« zuge­legt hat, mit einem Preis für Demo­kra­tie und Men­schen­rech­te auszuzeichnen.

Die Men­schen­wür­de wer­de heu­te, auch durch das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt, zuneh­mend im Sin­ne der per­mis­si­ven Grund­hal­tung des gegen­wär­ti­gen Zeit­geis­tes gedeu­tet, die für west­li­che Demo­kra­tien ins­ge­samt kenn­zeich­nend sei, meint der Phi­lo­soph Wer­ner Theo­bald. »Links­li­be­ra­le Wür­de­an­sprü­che« wie frei­heit­li­che »repres­si­ons­freie« Selbst­be­stim­mung, unge­stör­te Selbst­ent­fal­tung, Indi­vi­dua­li­tät, Auto­no­mie des Indi­vi­du­ums, Lega­li­sie­rung von Abtrei­bung und »sanf­ten« Dro­gen, gesetz­lich aner­kann­te gleich­ge­schlecht­li­che Part­ner­schaf­ten und der­glei­chen sind aller­dings kaum ver­all­ge­mei­ner­bar. Die Lega­li­sie­rung der Abtrei­bung, gleich­ge­schlecht­li­cher Part­ner­schaf­ten oder akti­ver Ster­be­hil­fe, die unter Hin­weis auf Men­schen­wür­de und Men­schen­rech­te durch­ge­setzt wird, ist für Mos­lems undenk­bar. Offen­bar ist es also gar nicht so ernst gemeint mit dem Bekennt­nis, daß der Islam zu Deutsch­land gehö­re. In den radi­kal­­in­di­vi­dua­lis­tisch-per­mis­si­ven »Wür­de­an­sprü­chen« kommt daher der ideo­lo­gi­sche Gehalt der Moder­ne zum Aus­druck, die sich auf die west­li­che Auf­klä­rung beruft, deren Ver­nunft­be­griff zu Unrecht abso­lut setzt und so »ihre eige­ne par­ti­ku­lä­re Gül­tig­keit ver­kennt«. Der Uni­ver­sa­li­täts­an­spruch die­ser »auf­ge­klär­ten Ver­nunft« ist jedoch sel­ber kul­tu­rell an die Situa­ti­on des Wes­tens von heu­te gebunden.

Die Hofie­rung des Islam in den glei­chen Krei­sen, die per­mis­si­ve Würde­ansprüche anmel­den und das Chris­ten­tum dis­kri­mi­nie­ren, ist ein Ablen­kungs­ma­nö­ver mit mul­ti­kul­tu­rel­ler Tün­che, denn zwi­schen den Über­zeu­gun­gen von Mos­lems und west­li­chen Kon­ser­va­ti­ven gibt es zahl­rei­che Über­ein­stim­mun­gen. Es geht auch nicht um »Rechts« gegen »Links«, denn ohne einen patrio­ti­schen Grund­kon­sens und einen fes­ten Bestand an bür­ger­li­chen Tugen­den kann man kei­nen Staat machen, auch kei­nen sozia­lis­ti­schen: »Vater­land oder Tod« war Fidel Cas­tros Schlacht­ruf; »Du sollst sau­ber und anstän­dig leben und Dei­ne Fami­lie ach­ten«, ver­kün­de­te Wal­ter Ulb­richt 1958 in »Zehn Gebo­te der sozia­lis­ti­schen Moral und Ethik« auf dem V. Par­tei­tag der SED. Dabei dach­te er gewiß nicht an die Homo-Ehe, die übri­gens gemäß einem Straß­bur­ger Urteil von 2010 kein Men­schen­recht ist – vorläufig.

In Wirk­lich­keit geht es bei alle­dem um Macht. Heu­te ste­hen sich die Kräf­te des Iden­ti­tä­ren und Loka­len einer­seits und die neu­en Eli­ten ande­rer­seits gegen­über, die wohl von der Abschaf­fung der Ehe, einem ein­zi­gen Geschlecht in einem Euro­pa ohne Gren­zen und Vater­län­der, regiert durch eine Ein­heits­par­tei und eine all­mäch­ti­ge Kom­mis­si­on träu­men. Neben der Schlei­fung der inne­ren bür­ger­li­chen Fun­da­men­te der Staa­ten steht die Abschaf­fung ihrer Sou­ve­rä­ni­tät auf der Tages­ord­nung. Der Kampf gegen die inne­re Ver­fas­sung von Staat und Gesell­schaft im Namen der Men­schen­rech­te fin­det sei­ne Ergän­zung im Men­schen­rech­t­eim­pe­ria­lis­mus der »ein­zi­gen ver­blie­be­nen Welt­macht«, des Nutz­nie­ßers der Schwä­chung ande­rer Län­der durch den neu­en Kulturkampf.

Nichts schreibt sich
von allein!

Das Blog der Zeitschrift Sezession ist die wichtigste rechtsintellektuelle Stimme im Netz. Es lebt vom Fleiß, von der Lesewut und von der Sprachkraft seiner Autoren. Wenn Sie diesen Federn Zeit und Ruhe verschaffen möchten, können Sie das mit einem Betrag Ihrer Wahl tun.

Sezession
DE58 8005 3762 1894 1405 98
NOLADE21HAL

Kommentare (0)

Für diesen Beitrag ist die Diskussion geschlossen.