Konservative Gegenrede zu Kurtagics Thesen

55pdf der Druckfassung aus Sezession 55 / August 2013

von Günter Scholdt

»Meine Vision der Zukunft ist so grimmig, daß es mir lächerlich vorkäme, mich über irgendwelche Schimpfnamen, die man mir geben mag, zu scheren. Der Preis für die temporäre Feigheit von heute ist der andauernde Horror von morgen.« (S. 6f)

Wer wie Alex Kur­ta­gic´ so in Debat­ten ein­steigt, ver­dient Auf­merk­sam­keit. Sie soll ihm im fol­gen­den zuteil wer­den, vor allem sei­ner neu­es­ten Schrift War­um Kon­ser­va­ti­ve immer ver­lie­ren. Dar­in hält er das »gegen­wär­ti­ge libe­ra­le, ega­li­tä­re, pro­gres­si­ve Estab­lish­ment« für besieg­bar. Denn es reprä­sen­tie­re kei­ne ein­heit­li­che Ord­nung, eher »eine Art Regen­bo­gen­ko­ali­ti­on aus wider­strei­ten­den und manch­mal wider­sprüch­li­chen Frak­tio­nen«, die sich »dege­ne­ra­tiv«, »des­in­te­grie­rend« und streß­för­dernd aus­wir­ken (S. 29). Spä­tes­tens mit dem Schwin­den des Wohl­stands wach­se das Bedürf­nis nach sinn­stif­ten­den Ord­nun­gen, die das Cha­os been­den (S. 30f).

Für den dann zu ent­schei­den­den Kampf müs­se aller­dings die Stra­te­gie stim­men, um erfolg­reich zu sein. Sie dür­fe sich näm­lich nicht vor­nehm­lich an Inhal­ten und ratio­na­ler Argu­men­ta­ti­on ori­en­tie­ren. Um die gro­ße emo­tio­na­le Kraft von Kol­lek­ti­ven frei­zu­set­zen, brau­che es Uto­pien, Irra­tio­na­les, Tag­träu­me von (künst­le­ri­schen) Außen­sei­tern und Avant­gar­dis­ten (S. 13ff). Auch der Main­stream, den man eben­so­we­nig scheu­en dür­fe wie Pop­kul­tur und Mar­ke­ting, sei beein­fluß­bar und der Träu­mer, in dem, was er bewegt, der eigent­li­che Prag­ma­ti­ker (S. 16ff).

Man­che mögen das bezwei­feln oder dabei schwe­re Ein­bu­ßen an Sub­stanz befürch­ten. Doch soll­te man vor einem end­gül­ti­gen Urteil ent­spre­chen­de Expe­ri­men­te ein­fach ein­mal lau­fen las­sen oder mehr noch: ermu­ti­gen. Denn selbst größ­te Skep­ti­ker und Ver­tre­ter der rei­nen Leh­re spü­ren doch schon jetzt Rekru­tie­rungs­de­fi­zi­te als unlieb­sa­me Fol­gen des Man­kos, daß vie­le in uns­ren Rei­hen ein gebro­che­nes Ver­hält­nis zu den Musen haben. Schrift­stel­ler, Künst­ler, Musi­ker oder Fil­mer sind es aber, die nun mal die Mythen und Model­le schaf­fen, nach denen zahl­rei­che Men­schen ver­lan­gen (S. 27; vgl. Scholdt: Sezes­si­on 39/2010).

Auch darf man nicht unter­schät­zen, in welch umfas­sen­der Wei­se sich unse­re vor­geb­li­che Infor­ma­ti­ons- mit ste­tig stei­gen­der Ten­denz zur Unter­hal­tungs­ge­sell­schaft wandelt(e), deren Teil­neh­mer in Sekun­den ent­schei­den, ob sie bestimm­te Nach­rich­ten über­haupt auf­zu­neh­men bereit sind. Für die Mehr­heit ver­nich­tet eine unat­trak­ti­ve oder auch nur kon­ven­tio­nel­le Prä­sen­ta­ti­on daher fast schon jeg­li­che Chan­ce, gera­de alter­na­ti­ve Bot­schaf­ten über­haupt ver­brei­ten zu kön­nen. Wenn sich gegen­wär­tig ver­ein­zelt tat­säch­lich ein­mal Unbot­mä­ßi­ges in den Main­stream-Medi­en fin­det und damit deren Schwei­ge­kar­tell durch­bricht, liegt dies meist an der spek­ta­ku­lä­ren Auf­ma­chung (ein Bei­spiel: der Tanz der Iden­ti­tä­ren), was Redak­tio­nen mit Ein­schalt­quo­ten und Geschäft asso­zi­ie­ren. In Sachen ori­gi­nel­ler Ver­an­schau­li­chung und Ori­en­tie­rung an Ele­men­tar­emp­fin­dun­gen haben wir also frag­los Nachholbedarf.

Als dia­gnos­ti­scher Voll­tref­fer erweist sich dar­über hin­aus Kurtagic´s erfah­rungs­ge­sät­tig­te Emp­feh­lung, lin­ken Sot­ti­sen nicht mehr unver­mischt argu­men­ta­tiv zu begeg­nen, son­dern mit­tels Komik als grau­sam-effek­tivs­te Form des ent­lar­ven­den Wider­spruchs. »Lacht sie aus!« rät er, nutzt »Sati­re, denn sobald die Men­schen begin­nen, über das Estab­lish­ment zu lachen, beginnt sei­ne Macht zu schwin­den. Seit Jahr­zehn­ten hat die Lin­ke von die­sen Waf­fen Gebrauch gemacht. Nun ist es an der Zeit, sie ihre eige­ne Medi­zin kos­ten zu las­sen.« (S. 63f)

Umso schmerz­li­cher regis­triert man bei uns deut­li­che Reser­ven gegen­über sol­chen Kampf­mit­teln. Dabei ist ihre Wirk­sam­keit inter­na­tio­nal längst erwie­sen. Ich nen­ne stell­ver­tre­tend den Clown Beppe Gril­lo für Ita­li­en oder den Komi­ker Harald Eia für Nor­we­gen, der dem staat­li­chen geför­der­ten Gen­der-Unsinn mit einem Schlag das Licht aus­blies. Lächer­lich­keit tötet oder zieht also zumin­dest dort. Aber auch in unse­rer bes­ten­falls Info­tain­ment-Polit­kul­tur bin ich mir sicher, daß etwa eine Harald-Schmidt-Par­tei auf Anhieb die Fünf-Pro­zent-Hür­de nähme.

Mit sol­chen und ande­ren Rat­schlä­gen stellt Kur­ta­gic´ die Ampel auf Gegen­an­griff und Sieg, aber die Kon­ser­va­ti­ven hat er für sei­ne Kam­pa­gne – und damit sind wir beim zwei­ten Teil sei­nes Bands – offen­bar abge­schrie­ben. Er sieht sie als struk­tu­rel­le Ver­lie­rer, von denen man sich schnells­tens distan­zie­ren möge (S. 46). Sie sei­en (teils alters­be­dingt) schwäch­lich, ver­gan­gen­heits­fi­xiert und ver­wech­sel­ten Tra­di­ti­on mit Kon­ser­va­ti­on als »Ver­mei­dungs­stra­te­gie risi­ko­scheu­er Indi­vi­du­en, die kei­ne Freu­de am krea­ti­ven Den­ken und an der Bewäl­ti­gung neu­er Situa­tio­nen haben.« (S. 37) Tra­di­ti­on bedeu­te aber Evo­lu­ti­on, nicht Sta­gna­ti­on oder musea­le Restau­ra­ti­on (S. 39, 45). Als Lan­ge­wei­ler ent­fach­ten sie wenig Begeis­te­rung (S. 40f). Wür­den sie ja auch »nur dann aktiv, wenn es gilt, dro­hen­de Stö­run­gen ihres beschau­li­chen Lebens aus­zu­schal­ten. Ansons­ten sind sie die Aller­letz­ten, die Initia­ti­ve zei­gen, denn Pio­nier­tum bedeu­tet Risi­ko, Streß und Unsi­cher­heit.« (S. 38)

Ihrem Ruf als Ver­sa­ger, Ver­lie­rer oder Kom­pro­miß­ler gemäß, schreibt Kur­ta­gic´, gelin­gen ihnen güns­tigs­ten­falls Teil­erfol­ge (S. 39). Ihre Fort­schritts­pho­bie drängt sie ins poli­ti­sche Abseits; »statt Macht aus­zu­üben und die Men­schen zu füh­ren, wer­den sie zu Muse­ums­füh­rern« (S. 42). Um zu über­le­ben, geben sie sich links und redu­zie­ren damit ihre gesell­schaft­li­che Funk­ti­on auf »die Orga­ni­sa­ti­on der Kapi­tu­la­ti­on und des Rück­zugs, die geord­ne­te Schlüs­sel­über­ga­be und das Auf­recht­erhal­ten von ver­geb­li­chen Restau­ra­ti­ons­wün­schen, damit das Risi­ko revo­lu­tio­nä­rer Erhe­bun­gen gemin­dert wird.« (S. 42) Und schlim­mer noch: »Nach einem Libe­ra­li­sie­rungs­schub dient der Kon­ser­va­ti­vis­mus dazu, den Bür­gern eine Ver­schnauf­pau­se zu gön­nen, damit sie sich in Ruhe auf die nächs­te Wel­le« gegen die ver­meint­lich Hals­star­ri­gen vor­be­rei­ten kön­nen (S. 43). Sei­ne Ver­tre­ter agier­ten also als »nütz­li­che Idio­ten« des Libe­ra­lis­mus, wor­aus folgt: »Wir soll­ten das Eti­kett des ›Kon­ser­va­ti­ven‹ ableh­nen« (S. 46).

Sol­len wir? Ich glau­be nicht. Kur­ta­gic´ zeich­net hier näm­lich ledig­lich eine Kari­ka­tur des Kon­ser­va­ti­ven. Genau­er: Er schil­dert den soge­nann­ten Kon­ser­va­ti­ven als (bloß ängst­li­chen wie ver­geb­li­chen) Besitz­stands­wah­rer, des­sen küm­mer­li­che Exis­tenz mich bereits 2011 zu Kri­tik ver­an­laß­te: »Denn ein Typ, der, per­sön­lich kon­se­quenz­los, aus­schließ­lich sei­nen Habi­tus pflegt, der nicht ein­mal zu kleins­ten mate­ri­el­len Opfern bereit, nur dif­fu­se Sym­pa­thien für die­je­ni­gen emp­fin­det, die als ver­spreng­te Out­casts ihren Kopf hin­hal­ten, und sein Tra­di­ti­ons­be­dürf­nis durch Maß­an­zü­ge in Glen­check­des­sins, vene­zia­ni­sche Faden­glä­ser oder Châ­teau Roth­schild aus­lebt, ähnelt einem aus­ge­bomb­ten Her­ren­haus, bei dem ledig­lich die Mar­mor­fas­sa­de ste­hen blieb.« (Das kon­ser­va­ti­ve Prin­zip, S. 74f)

Atta­cken gegen sol­che Kon­ser­va­ti­vis­mus-Mumi­en oder ‑Attrap­pen erfol­gen frag­los zurecht – und ich wer­de sie an ande­rer Stel­le noch ver­schär­fen –, weil die­ser Typus die Mise­re mit­ver­ur­sacht hat. Zudem besteht Ver­wechs­lungs­ge­fahr mit jenen wirk­lich Kon­ser­va­ti­ven, denen mei­ne Sym­pa­thie und an bes­se­ren Tagen mei­ne Hoff­nung gilt. Denn natür­lich darf mit sol­cher Bezeich­nung nicht der durch­schnitt­li­che, an gänz­lich sub­stanz­lo­ser Macht inter­es­sier­te CDU’ler gemeint sein oder gar man­cher Grü­ne, der neu­er­dings ja eben­falls (wie­der) »kon­ser­va­tiv« trägt. Viel­mehr geht es um ernst­haf­te, authen­ti­sche Ver­su­che, für etwas ein­zu­ste­hen, was um der Zukunft wil­len unbe­dingt bewah­rens­wert erscheint. Ohne­hin täte man auch bei ande­ren Initia­ti­ven, Insti­tu­tio­nen oder Bewe­gun­gen gut dar­an, das Wesen nicht mit den Dege­ne­ra­ti­ons­er­schei­nun­gen gleich­zu­set­zen, die immer dro­hen, zumal wenn eine Idee im Kol­lek­tiv endet.

Auch soll­ten wir allein des­halb schon am Begriff fest­hal­ten, weil es gera­de zu den kon­ser­va­ti­ven Tugen­den gehört, nicht stän­dig die Fas­sa­de neu zu strei­chen und aus aktu­el­ler Oppor­tu­ni­tät ver­ges­sen zu machen, wer wir eigent­lich sind. Schließ­lich beinhal­tet »kon­ser­va­tiv« kei­ne aus­tausch­ba­re pro­gram­ma­ti­sche Fest­le­gung des Tages, son­dern eine seit Jahr­hun­der­ten gül­ti­ge poli­ti­sche Hal­tung zur Welt, gekenn­zeich­net durch ein rea­lis­ti­sches Bild vom Men­schen, der nicht mit­tels wunsch­be­stimm­ter Idea­li­sie­run­gen kon­stru­iert, son­dern in sei­nem tat­säch­li­chen Wesen ernst­ge­nom­men wird. Dar­aus erwächst Skep­sis gegen­über moder­nis­ti­scher Wich­tig­tue­rei und Illu­si­ons­lo­sig­keit hin­sicht­lich der »gro­ßen Plä­ne«. Kon­ser­va­ti­ve akzep­tie­ren und leben Ver­ant­wor­tung in einer Soli­dar­ge­mein­schaft über die eige­ne Gene­ra­ti­on hin­aus. Sie ori­en­tie­ren ihr Han­deln nicht nur an gegen­wär­ti­gen Erfolgs­aus­sich­ten, son­dern an dem, was sie für rich­tig erkannt haben. Inso­fern scheu­en sie sich nicht, auch gegen ihre Zeit und deren soge­nann­ten Wahr­hei­ten bzw. Sire­nen­ru­fe zu optieren.

Wir erle­ben sie als bemer­kens­wer­te Aus­nah­men in allen Beru­fen und Ein­fluß­be­rei­chen, als Soli­tä­re unter den Rich­tern, die (von oben gerügt) den ideo­lo­gi­schen Ero­sio­nen des Rechts­staats wenigs­tens noch punk­tu­ell Ein­halt gebie­ten. Es gibt sie ver­ein­zelt unter den Ver­wal­tungs­be­am­ten, (Hochschul-)Lehrern, Kom­mu­nal­po­li­ti­kern, Poli­zis­ten, Ärz­ten, Kir­chen­ver­tre­tern oder wah­ren Unter­neh­mern und Mit­ar­bei­tern in allen Bran­chen. Sie bemü­hen sich nach Kräf­ten, dem trü­ge­ri­schen Zeit­geist zu wider­ste­hen, und tra­gen Kon­flik­te aus, wenn das Gemein­wohl par­tei- oder gesin­nungs­po­li­ti­schen Vor­ga­ben geop­fert wer­den soll. Sie reprä­sen­tie­ren weni­ger, als daß sie durch prak­ti­sches Bei­spiel wir­ken. Ohne sie wäre unser aller öffent­li­ches Leben frag­los ärmer, tris­ter und zwei­fel­los noch (poli­tisch) korrupter. 

Wenn Kur­ta­gic´ also dekre­tiert, »Wer den Libe­ra­lis­mus über­win­den will, muß auch den Kon­ser­va­ti­vis­mus über­win­den wol­len« (S. 46), sym­pa­thi­sie­re ich zwar mit sei­ner aus Ent­täu­schung gebo­re­nen Tem­pe­ra­ments­re­gung. Aber mir scheint sein Ver­bal­ra­di­ka­lis­mus nicht ziel­füh­rend, son­dern eher von poli­ti­scher Roman­tik dik­tiert. Bereits rein tak­tisch gedacht ist sol­che kämp­fe­ri­sche Abgren­zung ein wenig leicht­fer­tig. So vie­le (zumin­dest tem­po­rä­re) Bun­des­ge­nos­sen haben wir denn auch wie­der nicht, daß wir alles jen­seits der Avant­gar­de absto­ßen soll­ten. Sonst mag man in Kleinst­zir­keln die rei­ne Leh­re ver­kün­den oder mei­nen, daß eine Inter­net­dis­kus­si­on mit vie­len Blogs den Nabel der Welt birgt. Doch schon einen reprä­sen­ta­ti­ven Saal bekommt man dann viel sel­te­ner. Bünd­nis­se wie etwa das Ham­bur­ger »Wir wol­len ler­nen!« wer­den nicht gera­de erleich­tert. Und die Kara­wa­ne der wirk­li­chen Geg­ner zieht weiter. 

Aber viel grund­sätz­li­cher: War­um wol­len wir gleich gan­ze poli­ti­sche Bewe­gun­gen »über­win­den«? Sind das nicht Sze­na­ri­en vom Ende der Geschich­te? Ist nicht schon viel damit erreicht, durch ent­schlos­se­nen Wider­stand den Ein­fluß bestimm­ter Welt­an­schau­un­gen zurück­zu­drän­gen? Könn­ten sie nicht gar, wenn man sich dort auf den Kern besän­ne, in Tei­len Part­ner sein? Selbst Ideo­lo­gien, die uns heu­te extrem feind­lich gegen­über­ste­hen und die wir auf­grund ihrer Ent­ar­tung zu Recht bekämp­fen, haben oder hat­ten ihre his­to­ri­sche Berech­ti­gung. Nicht zuletzt der Libe­ra­lis­mus, der uns momen­tan vor allem sein häß­li­ches Gesicht zeigt als Prin­zip des iden­ti­täts­feind­li­chen any­thing-goes zum öko­no­mi­schen Nut­zen glo­ba­ler Olig­ar­chien, wäh­rend er sich zu Zei­ten des Frei­herrn vom Stein oder der Bur­schen­schaf­ten ver­dienst­voll um bür­ger­li­che Frei­hei­ten sorg­te. Wel­che sinn­vol­le Koali­ti­on böte sich an zur Wie­der­erobe­rung von Posi­tio­nen, die auch heu­te noch in Lie­dern anklin­gen wie »Die Gedan­ken sind frei«. 

Und der Sozia­lis­mus? Kön­nen wir in unse­rer Kri­tik an einem alles nivel­lie­ren­den und per­ver­tie­ren­den Gleich­heits­prin­zip ver­drän­gen, daß es spä­tes­tens mit der Indus­tria­li­sie­rung einer kämp­fe­ri­schen Soli­da­ri­tät mit den Arbei­tern bedurf­te, den Frau­en, der Drit­ten Welt und einem inter­na­tio­na­len Wunsch nach Frie­den? Das bleibt, auch wenn Mar­tin Licht­mesz zu Recht betont, daß gera­de lin­ke Poli­tik das Gegen­teil des Ver­spro­che­nen her­vor­bringt, »weil sie gewalt­sam die Natur des Men­schen aus­blen­det.« (S. 11) Beur­tei­len wir also auch den Kon­ser­va­ti­vis­mus nicht nur hin­sicht­lich sei­ner gegen­wär­ti­gen ärger­li­chen Schwund­stu­fe, so muß man vie­le von Kurtagic´s Vor­wür­fen zurück­wei­sen. Das geschieht nach­fol­gend unter Bezug auf sei­ne in acht Punk­ten skiz­zier­ten angeb­li­chen »Lang­zeit­mus­ter des kon­ser­va­ti­ven Ver­sa­gens« (S. 35):

1.

Angst: Kon­ser­va­ti­ve reagier­ten angst­voll auf Ver­än­de­run­gen. Mag sein. Aber ist die­se Hal­tung nicht zu einem Gut­teil auch berech­tig­te Sor­ge, Pro­dukt von Erfah­rung und Klug­heit? Die dra­ma­tisch unso­li­den öffent­li­chen Haus­hal­te, der lang­sa­me Ruin unse­res einst welt­bes­ten Bil­dungs­sys­tems, die zer­rüt­te­te Demo­gra­phie und Indo­lenz, mit denen man Immi­gra­ti­ons­fol­gen medi­al ver­leug­net, und vie­les mehr. Da kann oder muß es einem doch gera­de­zu Angst wer­den, im Bewußt­sein, daß spä­tes­tens unse­re Enkel all dies aus­ba­den wer­den! Aber es macht hof­fent­lich zugleich auch wütend und treibt zu Erkennt­nis und Auflehnung. 

2.

Kei­ne Ant­wor­ten: Kon­ser­va­ti­ve hät­ten kei­ne Ant­wor­ten auf den stän­di­gen Wan­del. Denn sie wür­den »von der Angst zuerst ange­trie­ben und dann von ihr gelähmt« (S. 38). Stimmt das? Eher nicht: Wer angst­be­setzt ist, lan­det heu­te gewiß im Main­stream, bei den Fut­ter­trö­gen. Ech­te Kon­ser­va­ti­ve hin­ge­gen ste­hen im Wind. Ich nen­ne stell­ver­tre­tend Karl­heinz Weiß­mann als einen der mutigs­ten »Antwort«geber, den ich ken­ne. Auch Die­ter Stein und vie­le sei­nes Umfelds, die publi­zis­tisch reagiert haben. Thors­ten Hinz, die­sen an tra­di­tio­nel­len Wer­ten ori­en­tier­ten, ana­ly­tisch abwä­gen­den und gleich­falls schärfs­tens zupa­cken­den Publi­zis­ten. Dane­ben Tau­sen­de im Land, die wenigs­tens hier und da durch ihre Stand­haf­tig­keit Schlim­me­res ver­hin­dern: frei­heits­be­wah­ren­de Wel­len­bre­cher im Mainstream. 

3.

In der Defen­si­ve befin­den sich Kon­ser­va­ti­ve durch den heu­ti­gen Zeit­geist in der Tat, aber gewiß nicht reak­ti­ons- und risi­ko­los. Inwie­fern sie untrag­ba­re Kom­pro­mis­se mit »ver­ant­wor­ten«, wird zur Sache des Cha­rak­ters, nicht zur Grund­ein­stel­lung. Nur darf man natür­lich Kon­ser­va­ti­ve nicht mit Par­tei­po­li­ti­kern gleich­set­zen, die sich mit die­sem Begriff ver­klei­det haben.

4.

Nekro­phi­lie: Natür­lich heißt Tra­di­ti­on nicht bloß Kon­ser­va­ti­on. Nie­mand von uns emp­fiehlt, noch Kutsch­pfer­de zu hal­ten oder sich ohne Nar­ko­se die Gal­le ope­rie­ren zu las­sen. Dafür bewahrt man Prin­zi­pi­en und Hal­tun­gen, auch wenn sie momen­tan rei­hen­wei­se über Bord gewor­fen wer­den. Für Preu­ßen etwa galt stets eine (wie ein­ge­schränkt und patri­ar­cha­lisch-repres­siv auch immer ver­wirk­lich­te) Grund­idee öffent­li­cher Für­sor­ge. Gegen­wär­tig erle­ben wir, wel­che Pro­ble­me dar­aus ent­stan­den, daß der Sozi­al­staat in Tei­len aus­geu­fert ist und eine quan­ti­ta­tiv inak­zep­ta­ble Schicht an Leis­tungs­emp­fän­gern hat ent­ste­hen las­sen, ein­schließ­lich einer üppig ins Kraut schie­ßen­den Sozi­al­in­dus­trie und Gesin­nungs­bü­ro­kra­tie. Wel­che Zukunfts­hy­po­thek hier ein­ge­tra­gen wur­de, ist jedem Ver­stän­di­gen ein­sich­tig. Kon­ser­va­ti­ve wer­den den­noch auch in schwie­ri­gen Zei­ten den Sozi­al­staat nicht infra­ge stel­len, aber ihn gera­de des­halb ver­schlan­ken, vor Über­for­de­rung und Schma­rot­zern schüt­zen und sei­ne Finan­zie­rung durch Vor­sor­ge recht­zei­tig sichern wol­len, unge­rührt von modisch-popu­lä­ren Vor­wür­fen »sozia­ler Kälte«. 

5.

Lan­ge­wei­le wird dabei nicht zu ver­mei­den sein, und ich weiß, dies ist ein struk­tu­rel­ler Nach­teil, wo Poli­tik vor­nehm­lich als Show­ge­schäft läuft. Den­noch wünsch­te ich mir einen Finanz­mi­nis­ter, des­sen »Ceter­um cen­seo« auf eine gera­de­zu ein­falls­lo­se ewi­ge Lita­nei hin­aus­läuft, das öffent­li­che Spar­schwein nicht gänz­lich zu zer­trüm­mern. Das Glei­che gilt für Grund­schul­lei­ter, die weni­ger durch bun­tes­te, medi­en­taug­li­che Kuschel­ak­ti­vi­tä­ten auf­fal­len als dadurch, daß die Kin­der fast durch­gän­gig noch lesen, schrei­ben und rech­nen kön­nen. Und ich wün­sche mir einen Poli­zei­prä­si­den­ten, der statt rabu­lis­ti­scher, poli­tisch erwünsch­ter Sta­tis­ti­ken durch Klar­text und Taten bril­liert. Wem die­ser all­täg­li­che Kon­ser­va­ti­vis­mus zu bie­der und unspek­ta­ku­lär erscheint, kommt sofort auf sei­ne Kos­ten, falls er der­glei­chen Ansich­ten gegen­über ande­ren Lob­by­is­ten öffent­lich sicht­bar ver­ficht. Bereits ein simp­ler Wider­spruch, eine kri­ti­sche Nach­fra­ge, wenn die lin­ke Gesin­nung mar­schiert, kann ech­te Aben­teu­er­ge­füh­le vermitteln.

6.

Alter: Daß Kon­ser­va­ti­ve häu­fig erst im gereif­ten Alter dazu wer­den, durch Rea­li­tä­ten »über­fal­len« und belehrt, dürf­te stim­men. Ob dies (in einer trotz aller aktu­el­len Demo­gra­phie stets jugend­lich defi­nier­ten Gesell­schaft) ein nicht zu kom­pen­sie­ren­der Makel ist, will ich wegen Befan­gen­heit nicht entscheiden.

7.

Bedeu­tungs­lo­sig­keit: Rich­tig ist, daß eine »Fort­schritts­ge­sell­schaft« Unan­ge­paß­te an den Rand drängt. Ganz bedeu­tungs­los und blo­ßer »Muse­ums­füh­rer« wird der Kon­ser­va­ti­ve damit jedoch noch nicht. Die über­schie­ßen­de Vehe­menz, mit der man die­se tat­säch­li­chen Quer­den­ker bekämpft, läßt auf eine weni­ger mar­gi­na­le Wir­kung schließen.

8.

Ver­lie­rer: Ja, Kon­ser­va­ti­ve haben sich (bis zum gro­ßen Krach) in der jüngs­ten Moder­ne auf Nie­der­la­gen ein­zu­stel­len. Ob das auf Dau­er so bleibt, wird man sehen. Aber mit der Mehr­heit zu tri­um­phie­ren, wäre gewiß kei­ne Alter­na­ti­ve, son­dern nur schänd­li­cher, gemäß Fried­rich Georg Jün­gers Abschieds­lied im Gedicht­band Der Tau­rus (1937):

»Ruhm nicht bringt es, eure Schlachten

Mit­zu­schla­gen.

Eure Sie­ge sind verächtlich

Wie die Niederlagen.« 

Fürch­ten müs­sen Kon­ser­va­ti­ve aller­dings die Zwick­müh­le, in die sie dadurch gera­ten, daß sie ein­fach nur nach bes­tem Wis­sen und Gewis­sen »ihr Ding« machen. Als vor­bild­li­che Pflicht­er­fül­ler tra­gen und sta­bi­li­sie­ren sie somit ein Staats­we­sen, das zum Groß­teil in die Hän­de von Dilet­tan­ten, Pro­fi­teu­ren und ideo­lo­gi­schen wie poli­ti­schen Hasar­deu­ren gefal­len sein dürf­te. Sie recht­fer­ti­gen ihre kon­struk­ti­ve Hal­tung durch den Hin­weis, daß sie zwar einen gewal­ti­gen poli­ti­schen Klad­de­ra­datsch erwar­ten oder nicht aus­schlie­ßen, aber ihn auch nicht aktiv beför­dern wol­len. Letz­te­res, weil sie ihren Nach­kom­men wenigs­tens noch intak­te Sozi­a­l­oa­sen hin­ter­las­sen wol­len. An ihnen soll es nicht gele­gen haben, wenn die befürch­te­te Kata­stro­phe eintritt.

Man­che hat der Blick auf die Geschich­te auch zu über­zeug­ten Evo­lu­tio­nis­ten wer­den las­sen, sehen sie dar­in doch allen spek­ta­ku­lä­ren Erfol­gen einer radi­ka­len Wen­de zum Trotz die schnells­te Art der Ver­än­de­rung. Die ihnen vor Augen ste­hen­den his­to­ri­schen Bei­spie­le zei­gen näm­lich bei abrupt-revo­lu­tio­nä­ren Umbrü­chen zugleich den kon­ter­re­vo­lu­tio­nä­ren Gegen­schlag, der sel­ten aus­bleibt und auf lan­ge Sicht die mit hohem Tem­po errun­ge­nen Erfol­ge wie­der ega­li­siert. Auf der ande­ren Sei­te haben sie (schmerz­lich) erfah­ren, wie etwa seit der Ade­nau­er-Zeit mit einer ste­ten Fol­ge klei­ner Geset­zes­schrit­te eine fast völ­lig neue Repu­blik erstand, in der sich Ein­hei­mi­sche und Erin­ne­rungs­fä­hi­ge zuwei­len recht fremd vorkommen.

Ande­re Kon­ser­va­ti­ve glau­ben, daß es weni­ger auf Sys­te­me ankommt als die jewei­li­gen Eli­ten und das von ihnen ver­mit­tel­te Ethos. Eini­ge aller­dings ver­pas­sen dabei den Moment zum Aus­stieg, wenn Not­hil­fe zur ver­ant­wor­tungs­lo­sen Kum­pa­nei wird und schon um der Selbst­ach­tung wil­len nur mehr die Sezes­si­on bleibt. Wie­der ande­re sind mit guten Grün­den noch nicht bereit, ein völ­lig zer­schos­se­nes Schlacht­feld zur sofor­ti­gen Neu­grup­pie­rung zu ver­las­sen, ber­gen sich in poli­ti­schen Fuchs­lö­chern und hof­fen, daß es nicht gänz­lich ver­lo­re­ne Pos­ten sind. Und völ­lig über­flüs­sig sind sie gewiß nicht, son­dern Mah­ner, Weg­wei­ser für Jun­ge, Alter­na­ti­ve zur Deka­denz, Ärger­nis­se ihrer Geg­ner, die sonst noch leich­ter zur umfas­sen­den Mei­nungs­schlacht anset­zen können. 

Dem­ge­gen­über erwar­ten weni­ger Duld­sa­me gar nichts mehr von die­sem Sys­tem und distan­zie­ren sich von Ret­tungs­ver­su­chen, weil es die Mise­re nur hin­aus­zö­ge­re. Sie ver­ach­ten jene Brem­ser, miß­bil­li­gen ihre täg­li­chen Kom­pro­mis­se, die ja zuge­ge­be­ner­ma­ßen all­zu häu­fig blo­ßer Macht­er­hal­tung die­nen. Sie tre­ten bewußt unter ande­ren Bezeich­nun­gen auf, nen­nen sich »Neue Rech­te«, »Iden­ti­tä­re«, »Avant­gar­dis­ten« oder »Tra­di­tio­na­lis­ten«, wobei mir hier­mit aller­dings begriff­lich nur der ech­te Kon­ser­va­ti­ve durch die Hin­ter­tür wie­der her­ein­ge­holt scheint (S. 34, 81). 

Wer hat recht? Der Streit ent­spannt sich, wenn wir die Ver­hält­nis­se weni­ger zen­tra­lis­tisch betrach­ten. Falls Kon­ser­va­ti­ve eben­so wie die stär­ker pro­fi­lier­ten neu­en Bewe­gun­gen das polit­me­dia­le Estab­lish­ment in sei­ner ver­ant­wor­tungs­lo­sen Zukunfts­ver­ges­sen­heit erkenn­bar her­aus­for­dern, klärt sich die Lage. Dann sorgt (bei aller gewiß sinn­vol­len und sub­jek­tiv berech­tig­ten Dif­fe­ren­zie­rung) schon der Feind durch sei­ne pau­scha­le Dif­fa­mie­rung dafür, daß eine Akti­ons- oder Wider­stands­ge­mein­schaft ver­nünf­ti­ger­wei­se gewahrt bleibt. Mar­schie­ren wir mei­net­we­gen getrennt, um ver­eint zu schla­gen. Zumin­dest Molt­ke war damit erfolgreich. 

 

Nichts schreibt sich
von allein!

Das Blog der Zeitschrift Sezession ist die wichtigste rechtsintellektuelle Stimme im Netz. Es lebt vom Fleiß, von der Lesewut und von der Sprachkraft seiner Autoren. Wenn Sie diesen Federn Zeit und Ruhe verschaffen möchten, können Sie das mit einem Betrag Ihrer Wahl tun.

Sezession
DE58 8005 3762 1894 1405 98
NOLADE21HAL

Kommentare (0)

Für diesen Beitrag ist die Diskussion geschlossen.