Wie etwa Achim von Arnims Die Kronenwächter (1817), ein vergessenes Geflecht biblischer und mittelalterlicher Motive, das so »nur in Deutschland möglich« und für Nichtdeutsche »vollkommen unbegreiflich« gewesen sei, wie Georg Herwegh anmerkte. Dabei besitzt der Hintergrund des Romans nichts Kryptisches: 1806 markierte das Ende des tausendjährigen Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, und als kurz darauf Napoleon niedergekämpft war, blieb die deutsche Nation zersplittert zurück, auf der Suche nach ihrer politischen Form. In diesem Zusammenhang erinnert Achim von Arnim an »große Hoffnungen aus früheren Tagen«, an das »heilige Geschlecht« der Hohenstaufen. Zwischen 1475 und 1519, als »das Himmlische … noch nicht so weit der Erde entrückt« war, läßt Arnim mit der Figur des Berthold einen Nachfahren der Staufer auftreten. Doch deren Herrschaft endete schon 1254 – seither sitzen andere auf dem Kaiserthron, wie der Habsburger Maximilian I.
Der fühlt seine Macht aber von dunklen Mächten bedroht: Denn der skrupellose, vor Mord nicht zurückschreckende Geheimbund der Kronenwächter, »zwölf alte, starke, geharnischte Männer«, will die Staufer zurück auf den Thron heben, sie allein seien als legitime Nachfahren zur Herrschaft übers Reich berufen. »Es gehe schon lange die Sage von Sprößlingen der Hohenstaufen, die in einem unzugänglichen Schlosse der Zeit warteten, den Kaiserthron zu erstreiten.« Dort blinke »in einer kristallenen, matt geschliffenen Schale« die Krone, »ein schlechter goldner Reifen über einen eisernen Ring geschmiedet«, Symbol der alten Einheit des Reiches, die auch eine von Glauben und Macht war. Und so läßt sich Berthold, dessen Herkunft bis zu Karl dem Großen zurückreicht, mit den wahrlich schrägen Kronenwächtern ein.
Malt Arnim eine Utopie mittelalterlicher Restauration? Der Roman sträubt sich, voller ironischer Brüche, gegen jede eindeutige Interpretation. Daß Berthold auf die ausgebrannten »Überbleibsel« von Barbarossas Palast stößt, deutet zwar Nachfolge an; daß er darauf aber eine Tuchfabrik errichtet, weist ihn als Krämerseele aus. Politisch ist mit Berthold so wenig los wie mit dem Kaiser selbst, den verbohrten Kronenwächtern und den anderen edlen Nachfahren, die in verfallenden Burgen hausen. Vom Blitz getroffen, stirbt Berthold in der Staufergruft des Klosters Lorch, wo in Marmor gehauen steht: »Daß ein Geschlecht vergehe und das andre komme, und die Erde indessen unbeweglich bleibe und ein jegliches Ding seine Zeit und alles unter dem Himmel seine Stunde habe, dessen gedenket man nicht«.
Die alte Zeit ist längst dahin, alle sind abgefallen vom Glauben an die alten Werte vom Reich; das Vergangene zurückzuzwingen, wie die Kronenwächter es erträumen, muß als Farce enden. Das Ideal der Krone aber, ewig gültiges Muster wahrer Ritterlichkeit und Goldener Zeit, geht nicht verloren, nur weil die Menschen ungläubig oder schuldig geworden sind oder unfähig, ihre eigenen Schätze als solche zu erkennen. Mögen die Heiligen der Erde »entzogen« sein und die Engel sich »verstecken«, den »heiligen Dichtungen« gleich ist es die Aufgabe der Literatur, das Erbe fortzuschreiben.
Für Emanuel Geibel war Arnim somit selbst »der treue Kronenwächter / Altdeutscher Gottesfurcht und edler Sitte«. Für den Kronenwächter des 20. Jahrhunderts, Reinhold Schneider, verfehlten Arnims Charaktere »die Vereinigung des Alten mit dem Neuen, die Bewahrung, Wiedergewinnung des Erbes durch dessen rechte Wandlung«, da ihnen der eigentliche, der innere Adel abhanden gekommen sei. Weder im fortschrittlichen Fabrikbau noch im okkulten, eisernen Beharren lebe das kostbare Erbe weiter, sondern allein in Arnims aktueller Ahnung, »daß die Krone Deutschlands nur durch geistige Bildung erst wieder errungen werde.«
Als Adalbert Stifter die Bunten Steine (1853) veröffentlichte, waren seine liberalen Illusionen von 1848 dahin. Ihn interessierten immer weniger die Kräfte, »die nach dem Bestehen des Einzelnen zielen«, als jene, »die nach dem Bestehen der gesamten Menschheit hinwirken, die durch die Einzelkräfte nicht beschränkt werden dürfen, ja im Gegenteile beschränkend auf sie selber einwirken«. Stifters Absage an Individualismus und »Selbstsucht« führte ihn zur Erkenntnis vom »sanften Gesetz …, wodurch das menschliche Geschlecht geleitet wird«.
In den alltäglichsten Momenten und zwischenmenschlichen Beziehungen hat Stifter dieses Gesetz ebenso gefunden wie »in der Ordnung und Gestalt, womit ganze Gesellschaften und Staaten ihr Dasein umgeben«. Überall wirkt es, verborgen, still, sanft. Wie die Naturgesetze die Welt erhalten, so erhält das sanfte Gesetz die Menschen: »Es ist das Gesetz dieser Kräfte das Gesetz der Gerechtigkeit, das Gesetz der Sitte, das Gesetz, das will, daß jeder geachtet geehrt ungefährdet neben dem andern bestehe, daß er seine höhere menschliche Laufbahn gehen könne, sich Liebe und Bewunderung seiner Mitmenschen erwerbe, daß er als Kleinod gehütet werde, wie jeder Mensch ein Kleinod für alle andern Menschen ist. Dieses Gesetz liegt überall, wo Menschen neben Menschen wohnen, und es zeigt sich, wenn Menschen gegen Menschen wirken.«
Was Stifter hier formuliert, ist das Bild eines ewigen Gefüges und Maßes: Nur in ihm ist das »Recht des Ganzen vereint mit dem des Teiles«. Und so sieht Stifter auch sehr genau voraus, was zu erwarten ist, sollte dieses Gesetz vernachlässigt werden: »Der einzelne verachtet das Ganze, und geht seiner Lust und seinem Verderben nach, und so wird das Volk eine Beute seiner inneren Zerwirrung oder die eines äußeren wilderen aber kräftigeren Feindes«. Quod erat demonstrandum. Daß Stifter so akribisch Bäume, Sträucher und Waldwege beschreibt, dieses ganz neue, ganz alte Sehen, verweist auf die unendlich verzweigte, überindividuelle Ordnung – mit Granit, Turmalin, Bergkristall wollte Stifter »ein Körnlein Gutes zum Bau des Ewigen« beitragen. Sein legitimer Erbe, Peter Handke, verortete Stifters Werk zu Recht in der Tradition der Georgica des Vergil. So weit reicht diese Wahrnehmung der Welt zurück, und nichts könnte weniger modisch, weniger beliebig sein als Stifters Texte, denn »die Langsamkeit der stillen und sanften Prozession seiner Dinge, Landschaften, Helden«, so Handke, sei eine Literatur des »Rechenschaftgebens«.
Noch vor den großen Theoriewerken wie Othmar Spanns Der wahre Staat (1921) oder Moeller van den Brucks Das dritte Reich (1923) war es ein literarischer Text, welcher der Konservativen Revolution eine spezifische Kontur verleihen sollte: Ernst Jüngers In Stahlgewittern (1920). Schon der Titel deutet den Krieg als Naturgewalt: Der Autor setzte sich den Elementen aus. Der Ästhet an der Front. Krieg wurde hier als übermächtige Wucht erfahren, nicht geprägt von persönlicher Feindschaft, sondern »sportsmännischer Achtung«, nicht moralisch verworfen, sondern unsentimental und in aller Klarheit beschrieben. Alle Aspekte dieser Haltung mußten den Bürger damals wie heute befremden, das Archaische, das Heroische, Todesmut und Todesnähe. »Unvergeßlich sind solche Augenblicke auf nächtlicher Schleiche. Auge und Ohr sind bis zum äußersten gespannt … Der Atem geht stoßweise; man muß sich zwingen, sein keuchendes Wehen zu dämpfen. Mit kleinem, metallischem Knacks springt die Sicherung der Pistole zurück; ein Ton, der wie ein Messer durch die Nerven geht. Die Zähne knirschen auf der Zündschnur der Handgranate. Der Zusammenprall wird kurz und mörderisch sein. Man zittert unter zwei gewaltigen Gefühlen: der gesteigerten Aufregung des Jägers und der Angst des Wildes. Man ist eine Welt für sich, vollgesogen von der dunklen, entsetzlichen Stimmung, die über dem wüsten Gelände lastet.«
Adrenalinschub und Grenzerfahrung führten Jünger weit hinaus in die Verwüstung, in die unbeherrschbare Materialschlacht, ins apokalyptische Szenario eines »ungeheuren Getötes«: »Mit tränenden Augen stolperte ich zum Vaux-Wald zurück, indem ich, durch die beschlagenen Fenster der Gasmaske geblendet, aus einem Trichter in den anderen stürzte. Diese Nacht war, mit der Weite und Unwirtlichkeit ihrer Räume, von gespenstischer Einsamkeit. Wenn ich in dieser Finsternis auf Posten oder umherirrende Versprengte stieß, hatte ich das eisige Gefühl, daß ich mich nicht mehr mit Menschen, sondern mit Dämonen unterhielt. Man schweifte wie auf einem riesigen Schuttplatz jenseits der Ränder der bekannten Welt.«
In Regniéville wurde Jünger mit einer »gewaltsamen Aufklärung« beauftragt: Eindringen in feindliche Gräben, Gefangene nehmen. Am 23. September 1917 zieht Jünger mit vierzehn Mann los, das Unternehmen beginnt mit einem Handgranatenkampf, es geht kreuz und quer durch Laufgräben, vor Jüngers Augen verschwinden »schattenhafte Gestalten« – wie sie auch Odysseus und Äneas bei ihrem Gang in die Unterwelt begegnen. Eine Granate geht hoch, Jünger wird leicht verwundet, immer tiefer geht es »in die öden, pulverdampfverhangenen Gräben hinein«, die Soldaten verlaufen sich und tauchen plötzlich nicht mehr auf, niemand weiß mehr, wo er eigentlich ist, unter weiteren Angriffen aus dem Dunkel verstricken sich die Reste von Jüngers Trupp »immer tiefer in das Grabengewirr«, bis das Scheitern des Einsatzes nur noch den Rückzug erlaubt, unter Gewehrsalven geht die Flucht übers Niemandsland zurück, zehn Mann sind verschwunden, gefallen, wurden gefangengenommen, mit nur vier Mann kehrt Jünger zurück. »Ich habe im Krieg manches Abenteuer bestanden, doch keins war unheimlicher. Noch immer gerate ich in eine beklommene Stimmung, wenn ich an unseren Irrweg durch die unbekannten, vom kalten Frühlicht erhellten Gräben zurückdenke. Es war wie in einem labyrinthischen Traum.«
Manchmal stößt man auf einen Text, dessen starker Reiz in einer merkwürdigen Ferne, ja Fremdartigkeit liegt. So ging es mir vor 20 Jahren mit der Silberdistelklause (1947) von Friedrich Georg Jünger. Goethisch-anachronistisch war hier ein eigener, schlichter Ton angeschlagen, skeptisch, sperrig, heiter, heil: »Was denn hilfts dem steten Frager, / Daß er einen Baum entrindet, / Wenn er hinter jeder Frage / Eine neue Frage findet. // Gib es auf, den Grund des Grundes / Mit der Nadel zu ergründen. / Glaubst du hinter jeder Türe / Eine neue Tür zu finden?«
Solch unmoderne Abgeklärtheit kommt nicht von ungefähr, sie hat ihre Vorgeschichte. Mit dem älteren Bruder Ernst war auch Friedrich Georg Jünger aus den Stahlgewittern von 1914/18 hervorgegangen, schwer verwundet; als konservativ-revolutionärer Publizist übertrumpfte er Ernst bisweilen in verbalem Radikalismus: »Wäre es nicht ein furchtbarer Gedanke, die Demokraten mit Knüppeln totschlagen zu müssen? Wohin sollten so fruchtlose Anstrengungen führen. Die wachsende Oekonomie des modernen Lebens verlangt Präzisionsinstrumente der Vernichtung.« Als dann die präzise Vernichtungsmaschinerie des Nationalsozialismus ihre Arbeit tat, hatten die Brüder schon den Rückzug angetreten, ihren Weg vom polemischen Aktionismus zur Kontemplation, der sich bei Friedrich Georg als bis zur weltanschaulichen Identifikation gehende Aneignung der griechischen Mythologie darstellte.
Bei Besuchen in einem abgelegenen Vorarlberger Bauernhaus entstanden filigrane Dialoge mit der Natur, geschrieben, während alles drum herum kaputtging, wie auch nach dem Zweiten Weltkrieg. So hat diese vita contemplativa die Erfahrung, die historischen Extreme ausgelotet zu haben, als Voraussetzung. Entsprechend geht es wiederum um einen gereiften, aber nicht weniger radikalen Gegenstandpunkt, um eine Antithese der zeitlosen Ruhe »in einer ruhelosen Zeit«. Weil die Gegenwart von bürokratischem Zwang beherrscht ist und der einzelne mit der Masse verschwimmt, sich alles dem »Zweck« und einem verabsolutierten Verstand zu fügen hat, der schon oft genug »in Gräben« gelandet ist, bleibt dem »geistigen Menschen«, selbst wenn »›der Wind die Hütte biegt‹«, nur noch der Rückzug ins »Versteck«, um zu »entweichen«, sich jenen Köpfen zu entziehen, »welche diese Welt vernutzen«. Hier klingt auch Jüngers schon vor Ausbruch des Weltkriegs entwickelte Technikkritik an: »Wollt ihr aber statt der Flüsse / Durch das Land Kanäle treiben, / So gelüstets mich nicht länger, / Hier in diesem Land zu bleiben.«
Die Absage an eine nur noch »vernutzte«, verwaltete Welt gleicht der Übersiedlung ins Land der Dichter, wo man nicht »mit Scharfsinn ausbeutet«, sondern »in Bildern deutet«. Konkreter Rückzugsraum ist die Vorarlberger Abgeschiedenheit, wo auf den Wiesen rund ums Haus Silberdisteln wachsen, die zur symbolischen Ausdeutung einladen: Die mönchische »Klause« steht fernab vom Treiben, ganz wie die widerspenstig-widerständige Distel sich unantastbar von der Außenwelt abkapselt. Konsequent erhebt Jünger sie zum Wappenzeichen eines »freien Bettlerordens«, auf die historischen Vorbilder anspielend, die in ihrer Kargheit, Weltabgewandtheit, Naturnähe, in der Meditation auch Vorbild für die Dichter sind – die gleichfalls einen verstreuten, schlechtbezahlten, »freien Bettlerorden« bilden, wie auch die Vögel, die hier und da herumfliegend, Nahrung suchend ihre Lieder singen. So werden Religion, Natur und Literatur verknüpft; was die Ratio auseinanderreißt, wird von Jünger poetisch zusammengeführt, »mit dem Mut des Liebenden«. Damit erweist sich Jüngers Gegenbild zum Mittun im korrupten Weltgeschiebe als dichterische Sezession: »Damals fand ich als ein Zeichen, / Dass der Dichter anders lebe.«
»Anders«: Einem Mönch, einem indischen Asketen verwandt, strebt Jünger »eine andere Elementarität« an, wie es zeitgleich in einem Brief heißt. Außerhalb von Organisationen und Zwängen stehend, werden ganz andere Energien spürbar, eben jene der Natur, des Mythos, der Tradition, der Ewigkeit. Auf sie vertrauend, bleibt eine »freie Bewegung« möglich. Diese zu gewinnen ist gleichermaßen Zivilisationskritik und Selbstverteidigung, denn »der Mensch ist nicht so abhängig von den mechanischen und historischen Bedingungen, daß er ihnen im Gang der Ameise zu folgen hätte«.
Über Novalis wäre noch zu sprechen, über Ricarda Huch, über Wilhelm Schäfer, auch über … – doch der kurze Blick auf die Kronenwächter und Krieger, Gesetzgeber und Dichtermönche macht schon deutlich, daß konservative Literatur nur dort entsteht, wo man sich dem Unverbindlichen entzieht. Sie verbindet uns mit den Bildern der Vergangenheit, mit der Natur und mit dem, was hinter der Natur liegt. Es ist eine Literatur des Primären.