nach Dresden fahren sollte und eben jetzt über die Stapel auf meines Schreibtisches schaue, weiß ich, daß die schöne, dunkle Zeit des langsam eingependelten Träumens morgen früh vorbei sein wird. Gestern Nacht aber begegnete ich Angela Merkel:
Es ging dabei gar nicht lustig zu. Ich saß mit vielen anderen Männern und Frauen in einer riesigen Kantine, nagte an einem Enten-Schlegel und trank dazu ein Bier, das nach Salz und Koriander schmeckte. Angela Merkel stand vorn am Ausgabetresen und hielt eine Ansprache.
Mir ist daraus ein einziges Wort in Erinnerung geblieben – die Zuhörer aßen auch alle weiter und führten Gespräche, und indem ich die Stimme hörte, diesen Merkel-Ton, der energisch zu hell klingt, war der Inhalt nicht mehr so wichtig: Dieser Tonart ist ein bestimmtes Stück zugeordnet, dachte ich, und nie wird sich daran etwas ändern.
Die Ansprache war jedenfalls irgendwann vorbei, und ein Mann erhob sich, applaudierend. Nachdem es wieder ruhig war, forderte er uns auf, Fragen an die Kanzlerin zu stellen. Ich blickte mich um, kein Arm hob sich, die meisten aßen schon wieder. Da zeigte ganz vorn eine junge Frau auf, erhob sich und sagte mit einer weichen, klaren Stimme ungefähr folgendes: Man habe nun eine gute Viertelstunde zugehört und dabei einer Zustandsbeschreibung unserer Gegenwart lauschen müssen, die von der Lebenswirklichkeit zumindest hier, in dieser Stadt, meilenweit entfernt sei. Sie könne in allen Punkten gerade das Gegenteil vom dem anführen, was Frau Merkel soeben geäußert habe.
Angela Merkel schwenkte unter ihrem lilafarbenen Blazer ihren linken Arm aus dem Ellenbogen heraus nach vorn und wieder zurück und sagte, daß es das gute Recht auch dieser jungen Frau sei, aus einer begrenzten Perspektive heraus zu ganz anderen Wahrnehmungen zu kommen als sie selbst, auch wenn die Schlüsse daraus ganz lächerlich seien. Leider habe sie neben all dem Unfug aber keine Frage vernommen.
Die junge Frau stand noch immer an ihrem Tisch, sie war feuerrot und senkte ihren Kopf. Dann sagte sie leise, aber doch so, daß ich jedes Wort verstand: “In welches Rattenloch wollen sich Leute wie Sie eigentlich verkriechen, wenn es soweit ist?” Sie sagte das mit großer Sicherheit und gefährlicher Offenheit, ja, es wirkte so, als wüßte sie, daß es bald soweit sei. Was “es”? Ich wollte die junge Frau danach fragen, aber dann wachte ich auf.
Was ist das? Der Wunsch nach einer Abrechnung? Die Verlängerung der “Lügenpresse”-Rufe in Dresden, mithin der Respektlosigkeit gegen verdorbene Institutionen, in eine Filmszene hinein (denn so kommt mir dieses Kantinen-Motiv vor)?
Jedenfalls ragen derlei Träume schon wieder in den politisch-metapolitischen Alltag hinein, den ich über die Weihnachtstage und den Jahreswechsel glücklich hinter mir lassen konnte. Die Verlagsarbeit endete mit der immer wieder um ganze Monate verschobenen Großaussendung des von Martin Lichtmesz nun endlich fertiggestellten Buches Kann nur ein Gott uns retten?. Dies war eine mehr als gezirkelte Brücke aus einem strukturell und thematisch aufreibenden Jahr hinüber in die Zwischenzeit, die sich vom Heiligen Abend bis Dreikönig ausdehnt.
Nicht nur ich habe das Zusammentreffen der Weihnachtstage mit dem Erscheinen der großen Arbeit von Martin Lichtmesz als glückliche Fügung empfunden: Es gibt bereits erste Leserbriefe, sie sind ausnahmslos in einem Ton der Hochachtung und der tiefen Befriedigung über die Lektüre dieses Buches gehalten. So schrieb mir ein Arzt, er habe in den Fragestellungen und Antworten der Schlußkapitel eine Quintessenz seines Nachdenkens über die eigene Religiosität und die unseres Kulturraumes gefunden. Und ein hoher Ordensgeistlicher berichtete von der gemeinsamen Lektüre des Buches hinter den Mauern seines Klosters.
Ich leite derlei Briefe stets brav an Martin weiter und kam dabei vorhin auf den Gedanken, wiederum die Leser dieses Netz-Tagebuchs zur Rezension des Buchs aufzufordern: Denn ich möchte die Frage nach dem Sitz des Glaubens im Leben unseres Volkes und Kulturkreises gründlicher als bisher erörtern. Die Notwendigkeit dazu ist nicht zuletzt in der Diskussion über den Begriff des “Abendlandes” und die Auseinandersetzung über das jüngst in der Sezession besprochenes Buch aus der Feder Peter Bickenbachs augenscheinlich geworden.
Also: Ich erbitte bis zum 20. Januar Besprechungen und Anmerkungen zum Buch Kann nur ein Gott uns retten?, das Martin Lichtmesz in zweijähriger Arbeit niedergeschrieben hat. Jedem Rezensenten, dessen Text ich in diesem Netz-Tagebuch veröffentlichen kann, wird ein Buchwunsch erfüllt. Einreichen bitte an redaktion(at)sezession.de.
Und jeder, der Lichtmesz bisher verpaßt hat, kann 412 gebundene Seiten zu einem Spottpreis von 22 € hier bestellen.
Ein gebürtiger Hesse
Da kann man nur hoffen, daß die junge Dame mit der weichen, klaren Stimme (die sich auch im Leisen hörbar deutlich hörbar macht - es gibt nichts besseres) erneut auftaucht. In der einen oder anderen Realität - eines Traumes, den einer träumt, oder der für uns alle wahr wird. Die Perspektive des "wenn es soweit ist" gibt die Richtung an. "Glauben, hoffen, standhalten" gilt auch hier. Und so Sie die Dame als erster wiedersehen, Herr Kubitschek, geben Sie ihr doch Martins Buch in die Hand. Auch sie sollte davon begeistert sein.