Die erst seit 2007 erscheinende „Zeitschrift für Ideengeschichte“ ist ein erlesenes und großzügig mit Mitteln ausgestattetes Periodikum, an dessen Erscheinen auf dem wissenschaftlichen Zeitschriftenmarkt seinerzeit nicht wenige Hoffnungen geknüpft waren. Bis auf den bayerischen Süden sind in der Herausgeberschaft alle wichtigen deutschen Geisteslandschaften vereint: das „Deutsche Literaturarchiv Marbach“ im Südwesten, die „Klassik Stiftung Weimar“ in Mitteldeutschland, die „Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel“ in Norddeutschland und das gewissermaßen preußische „Wissenschaftskolleg zu Berlin“. Wer aber so vielen hohen Instanzen und deren Interessen gehorchen muß, hat es schwer, rücksichtslos Wissenschaft betreiben zu dürfen.
Das aktuelle Heft (Winter 2014) ist dem ebenso wichtigen wie brisanten Linksideologen Georg Lukács gewidmet und erweist sich als Produkt des erbaulich-korrekten Zeitgeistes der Berliner Republik. Die Herausgeber legen dem Leser drei thematische Teilbereiche vor. Mit Agnes Heller, Fritz J. Raddatz und Iring Fetscher kommen prominente Zeitzeugen zu Wort, die Lukács noch persönlich kannten, mit ihm zusammenarbeiteten und sich ideologisch vorbehaltlos in den Dienst seines Werkes gestellt haben. Zwei akademisch gehaltene Aufsätze bilden den Kern des Heftes; all dies wird durch zahlreiche Dokumente und Funde aus dem Lukács-Archiv in Budapest umrahmt. Das Heft ist Iring Fetscher gewidmet, der im Juli dieses Jahres verstarb.
Um es gleich vorweg zu sagen, fest etablierte Irrtümer zu Lukács’ Denk- und Lebensweg werden zuverlässig bewahrt: Zum Beispiel die Mär, daß sein Übertritt zum Kommunismus auf Grund der russischen Oktoberrevolution ein Bekehrungserlebnis gewesen sei. In Wahrheit war seine Entscheidung für Sozialismus und Marxismus lange vor dem 1. Weltkrieg gefällt worden. Oder die Herausgeber beklagen, daß es keine ausführliche Biographie zu Lukács gebe, doch eine solche liegt längst vor (Arpad Kadarkay, Georg Lukács. Life, Thought, and Politics, Oxford 1991, 380 S.). Überhaupt fällt auf, daß die Autoren die reiche internationale Literatur zum Thema eher meiden. Und wenn offensichtlich schon vor Ort in Budapest recherchiert wurde, dann hätte man erwartet, daß auch neue ungarische Forschungen vorgestellt worden wären, zumal unbekannte Fakten am ehesten aus Ungarn zu erwarten sind. Dort wird beispielsweise schon längst diskutiert, daß Lukács als Politkommissar nicht nur Todesurteile fällte, sondern auch in persona am Roten Terror beteiligt war, indem er sich der Kollektivierung nach bolschewistischem Vorbild widersetzende Bauern ohne Prozeß eigenhändig durch Genickschuß hinrichtete.
Die Ausführungen der Zeitzeugen sind durch eine auffallende Gemeinsamkeit charakterisiert, in der sich etwas Allgemeines zeigt. Der eloquente Fritz J. Raddatz, der 1958 in der stalinistischen DDR verhaftet wurde, ging anschließend in den Westen, um umgehend Lukács’ Schriften und marxistische Literaturtheorien bei Rowohlt zu verlegen – gewissermaßen in Vorbereitung auf 1968. Als Lukács nach dem Ungarn-Aufstand 1956 interniert wurde, ermahnte er seine Schülerin Agnes Heller brieflich, Lenins Ethik nicht zu vernachlässigen, darüber zu schreiben. Heller wird sich später zwar nicht mit Lenins Ethik, aber mit der Ethik allgemein, d. h. für sie mit der Stellung der Ethik im Marxismus beschäftigen – eine „Ethik des Kommunismus“ indes blieb für sie noch bis in die 70er Jahre alternativlos, alles andere wäre „des Teufels – des Teufels des Kapitalismus, des Faschismus“.
Iring Fetscher seinerseits entdeckte als desillusionierter Wehrmachtsoffizier nach 1945 mit Hilfe von Lukács einen neuen Sinn in der Geschichte – die Ablehnung Stalins führte auch bei ihm zu einer intensivierten Zuwendung zum Marxismus. Man distanzierte sich vom Mißverständnis des Stalinismus, wobei die negativen politischen Erfahrungen von ihren geistigen Grundlagen stets entkoppelt wurden, um sich anschließend nur um so engagierter der marxistischen Theorie und Utopie zu verschreiben. In allen drei Fällen tat ein derartiger Widerspruch den akademischen Karrieren keinen Abbruch, ganz im Gegenteil. Man stelle sich diese „Logik“ etwa bei der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus vor. Lukács wird apostrophiert als „Adorno des Ostens“ (Raddatz), als „Pascal des Kommunismus“ (Fetscher) – kritisches Nachfragen der Herausgeber bei ihren Gesprächspartnern? Fehlanzeige, es geht um wohliges Erinnern.
Der Aufsatz von Matthias Bormuth stellt einige interessante Funde aus Karl Jaspers Nachlaß vor, aus denen hervorgeht, daß sich Lukács durch Jaspers psychiatrische Gefälligkeitsgutachten vor dem Fronteinsatz im 1. Weltkrieg drücken konnte. In der Natur derartiger Gutachten, was der Autor nicht reflektiert, liegt es, daß ihre Diagnosen einem außermedizinischen Zweck dienten und daher mit Vorsicht behandelt werden sollten. Ebensowenig läßt sich aus dem psychiatrischen Befund – daß Lukács von mütterlicher Seite stark belastet gewesen sei („zwei Brüder der Mutter“, wie es in Jaspers’ Attest hieß, „starben im Irrenhaus“) – der Bogen zur politischen Ideengeschichte schlagen. Des weiteren versucht Bormuth Lukács’ ideologisch-politische Entwicklung und Radikalisierung auch noch durch dessen Liebe zu seiner zweiten Ehefrau plausibel zu machen, womit zweifelsohne nur erneut eine ideengeschichtliche Sackgasse beschritten wird – die einschlägige, Lukács’ Liebesbeziehungen diesbezüglich systematisch auswertende Studie von Lee Congdon „The young Lukács“ (1983) sollte als Mahnung dienen, auf diesem fragwürdigen Weg zu wandeln.
Der Autor beschränkt sich also nur darauf, aus Jaspers Notizen zu Lukács’ „Geschichte und Klassenbewußtsein“ (1923) psychologische Urteile vorzutragen: die „rohe Geradlinigkeit und Simplizität“ der marxistischen Analyse sei die psycho-logische Folge von „Ressentiment, Selbsthaß, Wut, Lust an der Bewegung, am Selbstmord“ – woher diese individuellen Erscheinungen rühren, wie sie in Philosophie, Politik und Geschichte eindringen und wirkmächtig werden konnten, ist leider nicht mehr der Gegenstand des Aufsatzes. Daß Karl Jaspers allerdings durchaus über ein philosophisches und zugleich ideologiekritisches Verständnis des Marxismus verfügte, wissen wir u. a. aus seinem Briefwechsel mit Hannah Arendt – Bormuth kann derartige Einsichten jedoch nicht für seinen Gegenstand fruchtbar machen.
Der zweite Aufsatz des Heftes von Joachim Fischer vergleicht die alternativen Sozialphilosophien von Lukács und dessen liberalem Antipoden Helmuth Plessner unter dem Gesichtspunkt von Gemeinschaft versus Gesellschaft. Fischer macht darauf aufmerksam, daß Plessner zu Lukács’ folgenreicher Aufsatzsammlung „Geschichte und Klassenbewußtsein“ (1923) ein mit seinem Buch „Grenzen der Gemeinschaft“ (1924) explizites Gegenprogramm entworfen hat, welches erst nach 1945 auf Aufmerksamkeit rechnen konnte. Die Impulse dieser Konstellation wirken bis in die Gegenwart, vor allem durch die auf Lukács’ Entfremdungsdiagnose fußende „Frankfurter Schule“. Bei beiden Konzeptionen handelt es sich, darauf muß man aufmerksam machen, um soziologische Utopien, wie sie für die Moderne generell kennzeichnend sind.
Während Lukács’ radikalmarxistische Auffassung des Sozialen auf die Aufhebung von Entfremdung überhaupt zielte und sich faktisch zur Verwirklichung des konkreten Bürgerkrieges bediente, verblieb dem sensiblen Plessner stets nur das geschriebene Wort, um für seinen Entwurf zu werben. Plessners ideale Vorstellungen von Öffentlichkeit und Gesellschaft, die auf ein ziviles, Distanz schaffendes Miteinander abzielen, wirken bisweilen wie die Wiederbelebung des verspielten Rokoko (taktvolle soziale Distanz- und Rollenspiele unter Wahrheitsverzicht). Hinter diesem Entwurf steht zweifelsohne ein liberal halbierter Nietzsche. Derartig abstrakte soziologische Konzeptionen versteht man am besten im Kontrast zueinander, worin die Stärke des Aufsatzes von Fischer liegt.
„Einen Skandal um Lukács gibt es nicht“, dekretierte Joscha Schmierer vor fast fünfundzwanzig Jahren, als ein Heidegger-Lukács-Vergleich auf den ungarischen Philosophen einen eher milden Schatten zu werfen drohte (Kommune, Nr. 8, 1991) – in diese Zeit halbherziger Revisionsversuche geistesgeschichtlicher Fehlurteile fühlt sich der Leser der aktuellen Ausgabe der „Zeitschrift für Ideengeschichte“ zurückversetzt. Mit den gesetzten Akzenten könnte das privilegierte Periodikum zumindest mit diesem Heft ohne weiteres Anspruch auf den Titel „Zeitschrift für Kulturmarxismus“ erheben, nicht nur das ausgesparte Titelthema „Kommissar Lukács“, auch die anderen Themen gewidmeten Beiträge legen dies nahe.
Zeitschrift für Ideengeschichte
Kommissar Lukács
Heft VIII/4, Winter 2014
Herausgegeben von Ulrich von Bülow, Stephan Schlak
Verlag C. H. Beck, München, 126 Seiten, 12,90 Euro
Unke
Erinnert an Che Guevara. Auf so ein paar Genickschüsse mehr oder weniger kommt es bei "Revolutionswirren" nicht an, oder? Schließlich geht es ums Große Ganze! Da können auf Einzelschicksale keine Rücksichten genommen werden.
Interessant finde ich, dass in dieser Besprechung der Begriff "Frankfurter Schule" kein einziges Mal auftaucht. Denn das, was hochaktuell unter "Frühsexualisierung von Kindern" als (kulturmarxistische) "Querschnittsaufgabe" im staatlichen Erziehungswesen implementiert wird dürfte seinen direkten Vorläufer bei Lukács haben. Im Netz habe ich mal einen recht guten Artikel zu diesem Bolschewisten gelesen /demnach plädierte er für eine möglichst frühe Trennung von Kindern und ihren Eltern); finde den Link jedoch nicht mehr.