Nach den raschen und sehr holzschnittartigen Reaktionen auf das Erscheinen von Michel Houellebecqs “Unterwerfung” war ich mir nicht sicher, ob ich den Roman lesen sollte. Würde er sprachlichen Gewinn und neue Erkenntnis über das vom Autor Bekannte hinaus bieten? Die Lektüre hat sich in jedem Falle gelohnt. Houellebecq als genauen Beobachter und Visionär jenseits des europäischen Einheitsdenkens zu erleben, schärft die eigene Kritikfähigkeit an bestehenden Verhältnissen, auch wenn der Autor sprachlich eindringlichere Werke vorweisen kann.
Houellebecq zeigt in “Unterwerfung” den Literaturwissenschaftler François als typischen Repräsentanten des bildungsbürgerlichen universitären Elfenbeinturms. François hat sich den französischen Romancier und Dekadenzschriftsteller Joris-Karl Huysmans als “alter ego” erkoren. Er begegnet Politik und Gesellschaft mit eben der Mischung aus Indifferenz und Zynismus, wie sie dem post-modernen Europa eigen ist. Nicht einmal, als er auf seiner Fahrt aufs Land offensichtlich Mordopfer des “stillen” und von den Medien verschwiegenen Bürgerkriegs auffindet, kann ihn dies aus seiner lethargischen Dekadenz aufrütteln.
Wirklich persönlich nahe rücken ihm die Veränderungen, die sich im Frankreich des Romans vollziehen, nur, als ihn seine jüdische Geliebte Myriam verlässt und aus Furcht vor einer islamischen Machtübernahme nach Israel auswandert. Natürlich hält eine aufgeklärte Gesellschaft aber selbst für dieses Verlassen-Werden über Pornographie und den Besuch exotischer Prostituierter Ersatzbefriedigungen bereit – die Welt und damit auch der Sex als Facette derselben hat sich in ein einziges großes Kaufhaus verwandelt, in dem François letztlich uninteressiert zwischen den Angeboten wählt.
Als Figuren, die den politischen Spannungsbogen des Romans beschreiben, treten auf: ein junger Professor als Kopf der “Identitären Bewegung”; ein Geheimdienstmitarbeiter, der in den Ruhestand versetzt wird, weil er die Wahrheit über den Hintergrund des im Buch geschilderten Wahlurnendiebstahls nicht für sich behalten will; der unter der islamischen Regierung neu ernannte Rektor der Sorbonne, der sich schon vor der Machtübernahme der Bruderschaft früh genug mit pro-palästinensischen Artikeln positioniert hatte, um bei den künftigen Machthabern auf Wohlwollen zu stoßen. In Houellebecqs Szenario scheinen die Identitären bis zum Jahre 2020 zwar durchaus zu erstarken und gesellschaftliche Relevanz zu gewinnen, bleiben aber letztlich doch seltsam wirkungs- und konzeptlos. Als Leser vermutet man, dass ihnen die Entschlossenheit auch deshalb fehlt, weil sie den Islam in gewisser Weise als folgerichtige Herausforderung des Niedergangs des Westens empfinden und sich daher auch ideologische Berührungspunkte finden. Biografisch zeigt dies etwa der Sorbonne-Rektor Rediger, der vor seiner Konversion zum Islam auch Angehöriger der Identitären war und als intellektuell schillernde Persönlichkeit geschildert wird. Dieses durchaus ambivalente Verhältnis zum Islam kennzeichnet in der Tat viele Debatten unter europäischen “Konservativen” (denen der ursprünglichen Weißmannschen Konzeption, nicht denjenigen, die Identität den vermeintlichen Zwängen des Weltmarkts unterordnen).
Unverständlich bleibt nach der Lektüre, wie Houellebecq unmittelbar nach den “Charlie Hebdo”-Morden eine “islamophobe” (das neue Lieblingswort im Wörterbuch der Medien) Motivation unterstellt werden konnte. Das Leben im gemäßigt islamischen Frankreich wird, zumindest für die Männer, als ausgesprochen angenehm dargestellt. Mit Gehaltserhöhung, organisierter Polygamie auch für erotisch unattraktive Universitätsprofessoren, Rückzug der Frauen aus dem Berufsleben und damit einhergehender Vollbeschäftigung erwirbt sich der fiktive Präsident Ben Abbes die Zustimmung des männlichen französischen Bürgertums. Weniger der Islam ist also Zielpunkt der beißenden Houellebecq-Kritik. Sein “J’accuse!” gilt vielmehr der um ihre Identität gebrachten, “ent-kernten” und letztlich wehrlosen westlichen Gesellschaft, die im selbstreferentiellen Toleranzdiskurs der Eliten untergeht, den ein wacher Geist täglich beobachten kann. Dieses Abendland muss durch den Islam nicht mehr unterworfen werden, es unterwirft sich aktiv selbst, weil es nicht mehr weiß, was zu verteidigen wäre. Was dieses denn ist, dieses “Sein” der westlichen Kultur, klingt an manchen Stellen des Romans nochmals an, etwa in der eindringlichen Beschreibung einer Charles-Peguy-Rezitation in Rocamadour (der zu entdeckende Autor Peguy war auch bereits Thema auf Sezession) oder dem Klosteraufenthalt von François in Ligugé. Bezeichnenderweise scheint François für diese verbliebenen Traditionsbestände aber tieferes Empfinden zu fehlen. Er bleibt unberührt. Religiöse Ansprechbarkeit ist im “Anything goes-Europa” dahin, das Christentum zieht sich in den hortus conclusus der Wenigen zurück – was für die ursprüngliche Kraft der christlichen Botschaft vielleicht nicht von Nachteil sein müsste.
Houellebecq zeigt auf nahezu dokumentarische Art und Weise, dass sich die politischen Bewegungen auf der Linken und in der Mitte nicht mehr durch eigene Werte und Ziele definieren, sondern lediglich noch durch das Errichten einer “Barriere nach rechts”, die Ausgrenzung des durch Marine Le Pen repräsentierten Front National. Lieber werden Frauen entrechtet, das republikanische Schulsystem geschleift und außenpolitische Bündnisse mit islamischen Staaten geschlossen, als die Legitimationsformel “Gegen Rechts” in Frage zu stellen.
Letztlich präsentiert Houellebecq in seinem Roman “Unterwerfung” eine Männerphantasie im Stile seiner früheren Romane “Ausweitung der Kampfzone” und “Elementarteilchen” – diesmal im Kleid einer politischen Dystopie. Mohammed Ben Abbes mag Fiktion bleiben. Das mentale Zurückweichen Europas und das große Schweigen über unseren Identitätsverlust sind Realität.
Michel Houellebecq: Unterwerfung, aus dem Französischen von Norma Cassau u. Bernd Wilczek, Köln: DuMont 2015. 280 S., 22.99 €, hier bestellen.
Waldgänger
Ausgezeichnete und wirklich lohnende Rezension.
Danke!