„In einer Zahnpastatube wurden die Negative aus dem Lager geschmuggelt und Mitgliedern des polnischen Widerstands in Krakau übergeben. Ein Brief begleitete die Bilder: ‚Wir senden Photos von Birkenau, die Gefangene auf dem Weg in die Gaskammer zeigen. Eine Photographie zeigt einen Scheiterhaufen im Freien, wo man die Leichen verbrennt.“
Frau Voss nähert sich den Kunstwerken in aller Demut & Ausführlichkeit und erkennt
„Schlieren, Krümel, Risse und Pocken, die Richter mit seiner Rakel-Technik produziert und die viele seiner Bilder zu Seherlebnissen macht. Dafür verwendet er einen großen Spachtel, mit dem die Frabe über die Leinwand gezogen wird. Die Schichten verbinden sie nie ganz, die pastöse Farbe reißt immer wieder auf.“
Der Maler habe zuerst die Auschwitz-Fotos abgemalt und sich dann entschieden, sie zu übermalen.
„Sehen kann man das nicht, man muß es glauben.“
Muß man. Glauben. Warum? Was sind das für Bilder? Frau Voss in gebotener, prägnanter Kürze: „Ein Mahnmal. Ein Denkmal ohne Auftrag. Sie sind Platzhalter für die Erinnerung, Zeichen, eine Angebot, eine Möglichkeit.“ Angebot, inwiefern eigentlich? Möglichkeit- wozu?
3.3. 2015
6:43 Uhr: Die zwölfjährige Tochter ist im Begriff, einen Stoffbeutel mit schwerem Inhalt zum Schulbus zu schleppen. „Was trägst du denn da mit?“ – „Bücher.“- „Was für Bücher denn?“ – „Für den Herrn Z. Haben wir doch jetzt als Vertretung in Geschichte.“ Die elterliche Zollkontrolle greift ein: Weißmann, Scheil, Clark, Jörg Friedrich stecken im Beutel. „Und was soll der Herr Z. jetzt damit?“ Sie seufzt: „Hab ich doch lang und breit erzählt! Wie der gesagt hat, daß Deutschland alleinverantwortlich für den Ersten Weltkrieg ist. Und wie ich dagegen gehalten hab. Und wie der mir nicht glauben wollte. Hier“, sie zieht einen unordentlichen Zettel hervor, „das sind so ein paar Stichpunkte, die ich mir aufgeschrieben hab. Aber ich muß es doch auch beweisen! Der sagt doch sonst: ach Kind, du kannst mir viel erzählen!“ – Wieviel Stunden Geschichte habt ihr heute?“ – „Eine.“ – „Na, dann laß das mal hier.“
4.3. 2015
Jene Tochter erlebt grad besonders viel. „Die Frau R. hat heute gesagt, das Menschen an Gott glauben, das gibt es heute gar nicht mehr. Heute weiß man, daß es reiner Aberglaube ist. Nur wenn irgendeiner sehr krank ist, fängt er vielleicht an zu beten. Das ist ungefähr so, wie wenn ich dreimal auf Holz klopf. Daß es Gott nicht gibt, sei längst erwiesen.“
Die Frau R. ist immerhin nicht für Religionsunterricht zuständig. „Was macht eigentlich der Reliunterricht?“ – „Ach, da haben wir grad heute so einen Film geguckt. Mit einem Schwarzen, der in die Bahn steigt, und…“ – „Moment mal, davon hast Du doch schon vor Monaten erzählt. Alle machen den fertig, und am Ende rettet der ein Kind, oder?“- „Nee, das war ein anderer Film. Hier steigt der Schwarze in die Bahn, und neben ihm hockt eine alte Frau, die unentwegt keift und brabbelt, rassistisches Zeug. Und der Schwarze ißt dabei etwas. Dann nimmt er, schwupp, der Alten den Fahrschein weg und schluckt ihn runter. Dann kommt der Schaffner. Der Schwarze zeigt sein Kärtchen vor, die Frau sagt: Meinen hat der Neger aufgegessen. Und der Schaffner sagt dann, so eine bescheuerte Ausrede habe er noch nie gehört.“ – „Ah. Und welches Thema habt ihr gerade?“ – „Zivilcourage.“ „Und was hätte der Film damit zu tun?“ „Naja, niemand ist gegen die Frau eingeschritten.“ – „Und, wie fanden die anderen den Film?“ –„Cool, wie sonst. Und ausgerechnet die Augustine [eine der Klassenbesten, E.K.] hat gesagt, die Deutschen sind halt ein besonders rassistisches Volk.“
Aristoteles
Man muss es glauben.